Lateinamerika:Die Ära der südamerikanischen Revolutionäre ist vorbei

Lateinamerika: Ein Graffito mit Hugo Chavez und Fidel Castro in Venezuelas Hauptstadt Caracas.

Ein Graffito mit Hugo Chavez und Fidel Castro in Venezuelas Hauptstadt Caracas.

(Foto: AFP)
  • Mit den Wahlniederlagen der Chavisten in Venezuela und der Linksperonisten in Argentinien geht in Lateinamerika die Ära der dominanten Linken zu Ende.
  • Die Abhängigkeit vom Öl, das früher einmal Wirtschaftsmotor für den ganzen Teilkontinent war, lähmt heute das Wachstum.

Von Sebastian Schoepp

Fidel Castro hatte den Riecher. 1994 empfing der Comandante in Havanna einen jungen Venezolaner, der gerade aus der Haft entlassen worden war. Zwei Jahre war der Fallschirmjäger Hugo Chávez nach einem gescheiterten Putschversuch in seiner Heimat im Gefängnis gesessen, dann wurde er begnadigt. Das besondere an dem Putschisten: Anders als die meisten Militärs in Lateinamerika war er nicht rechts, sondern links orientiert. Diesen Mann wollte Castro sehen.

Die Begegnung hatte schicksalhafte Folgen für Lateinamerika. Sie war der Beginn einer Entwicklung, die nach der Jahrtausendwende in einen Linksruck mündete, der den Halbkontinent und seine Wirtschaft mehr als eine Dekade prägen sollte - und die nun mit den Wahlniederlagen der Chavisten in Venezuela und der Linksperonisten in Argentinien zu Ende geht. Beide Länder waren die Eckpfeiler der Linksbewegung, die versuchte, dem marktliberalen Welttrend ein System entgegenzusetzen, das auf Umverteilung, Autarkie und Abkehr vom Weltfinanzsystem fußte.

Für die frustrierte europäische Linke wurde Lateinamerika dadurch zum Hoffnungspol, zur "Achse des Guten", wie es der britische Linksintellektuelle Tariq Ali nannte - und zur Inspiration südeuropäischer Bewegungen wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien und die Coligação Democrática Unitária in Portugal.

Chávez, der Azubi im Revolutionshandwerk

Kubas Staatschef hatte sich Chávez sozusagen als Auszubildenden im Revolutionshandwerk ausgesucht, weil er selbst Anfang der 1990er Jahre in einer Klemme steckte. Durch das Ende der Sowjetunion litt die kommunistisch regierte Insel unter einer Versorgungskrise, Castro wusste, dass das ölreiche Venezuela sein Ausweg sein konnte - sofern dort ein ihm genehmer Staatschef regierte. Einen Tipp gab Castro dem Heißsporn Chávez mit auf den Heimweg: die Zeit der Putsche sei vorbei, auch eine linke Revolution müsse auf demokratischem Wege stattfinden.

Chávez lauschte aufmerksam. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", den er sich zusammenbastelte, suchte erstens den Erfolg über die Wahlurne und sah zweitens keine totale Abkehr von der Marktwirtschaft vor, sondern einen staatlich kontrollierten Kapitalismus. Als Symbolfigur wählte Chávez die einzige historische Konsenspersönlichkeit, die es in Lateinamerika gibt, Simon Bolívar, den Befreier von der Kolonialherrschaft. Chávez gewann mit dieser Formel von 1998 bis zu seinem Tod 2013 alle Wahlen - vor allem, weil er den Massen in den barrios, den ärmeren Viertel von Caracas und anderswo, das Gefühl gab, ernst genommen zu werden.

Dieses Versprechen verfing nach den 1990er Jahren, die in ganz Lateinamerika als "verlorene Dekade" gelten. Marktliberale Reformen hatten zwar für Wachstum gesorgt, das jedoch bei vielen Menschen nicht ankam. Es wuchsen Wirtschaft und Armut gleichzeitig, das alte Junktim, dass Wachstum Jobs schafft, galt nicht mehr. Hunderttausende suchten das Heil in der Auswanderung. In Argentinien kam es durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik sogar zum Staatsbankrott. Dies führte 2003 zur Wahl des Linksperonisten Néstor Kirchners, der dem Internationalen Währungsfonds die Tür wies und den Schuldendienst teilweise einstellte.

In fast ganz Lateinamerika gab es linksorientierte Präsidenten

Argentinien wurde zum Rebellen der Finanzmärkte, ideologisch unterfüttert vom kapitalismuskritischen Wirtschaftstheoretiker Ernesto Laclau, der auch die modernen Stars der europäischen Linken wie Yanis Varoufakis oder den Spanier Juan Carlos Monedero beeinflusste. In der Folge kamen in fast ganz Lateinamerika linksorientierte Präsidenten an die Macht, in Bolivien Evo Morales, in Ecuador Rafael Correa, in Brasilien Lula da Silva, in Nicaragua Daniel Ortega, in Chile Michelle Bachelet, in Uruguay José Mujica, in El Salvador Mauricio Funes; in Argentinien beerbte Cristina Fernández de Kirchner ihren Mann Néstor an der Staatsspitze. Er verstarb 2010.

Jede Regierung besaß ihre eigene Note, es liefen keineswegs alle Chávez nach, der gemeinsame Nenner blieb aber, Staatseinnahmen in Sozialprogramme zu investieren, um die Armen am Ressourcenboom teilhaben zu lassen. Steigende Rohstoffpreise halfen dabei. Das garantierte Wahlsiege, denn die Armen sind in Lateinamerika grundsätzlich in der Mehrheit. Weiteres Ergebnis war, dass eine Mehrheit der Länder 2005 in Buenos Aires dem Freihandelsabkommen Alca eine Absage erteilte, mit dem George W. Bush den Einfluss der US-Wirtschaft im geografischen "Hinterhof" ausweiten wollte.

Der Wirtschaftsmotor Öl stottert schon lange

Chávez schuf als Alternative seine Wirtschaftszone Alba, die sogar mit einer eigenen Buchwährung Sucre experimentierte, der aber Länder wie Brasilien und Argentinien fernblieben. Motor Albas blieben die Öleinnahmen Venezuelas, mit denen Chávez Regierungen etwa in Nicaragua oder Kuba unterstützte - die Abhängigkeit vom Rohstoff bildete aber die Achillesferse der "bolivarischen Revolution". Chávez und Kollegen versäumten es, Alternativen zum Extraktivismus zu entwickeln, also die Abhängigkeit vom Rohstoffverkauf zu mindern. Mit fallenden Preisen begann die Popularität der Regierungen zu verfallen. In Venezuela galoppiert dem Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro die Inflation davon, außer Öl produziert das Land praktisch nichts, hat aber riesige Ausgaben. Die Quittung kam mit dem Sieg der Opposition bei der Parlamentswahl Anfang Dezember.

In Argentinien versuchte Cristina Kirchner immerhin, sich durch Abschottung und Zölle von der Rohstoffabhängigkeit zu lösen und eigene Wertschöpfungsketten zu etablieren, etwa im Agrarsektor. Dadurch geriet sie aber in Gegensatz zu den Sojabaronen, die gerne nur Rohmaterial verkaufen würden, weil das schnelles Geld garantiert. In Brasilien hat sich bei der lange machtlosen Opposition solcher Frust angestaut, dass sie nun versucht, die im Popularitätstief steckende Präsidentin Dilma Rousseff mit Hilfe eines Amtsenthebungsverfahrens von der Macht zu entfernen.

Nach 200 Jahren ist die Unabhängigkeit vom Öl ein schwieriger Prozess

Bleiben als Bollwerke der Linken Bolivien und Ecuador, die in der Tat das höchste Wachstum aufzuweisen haben, gut fünf Prozent gegenüber kaum mehr als einem Prozent in ganz Lateinamerika. Ecuadors Präsident Correa arbeitet sogar daran, eine Wissensgesellschaft aufzubauen. In Bolivien versucht sich Evo Morales an einer zaghaften Diversifizierung der Wirtschaft. Aber der Weg ist nach 200 Jahren Rohstoffabhängigkeit weit.

Bislang haben allerdings auch die Rechten wenig Vorschläge aufgeboten, wie Lateinamerika vom Extraktivismus wegkommen könnte, im Gegenteil: in Argentinien will der neue Präsident Mauricio Macri der Agrarlobby das Leben erleichtern. Viel Zeit werden sie nicht haben angesichts ungeduldiger Bevölkerungen. Die neuen Kräfte sollten die Lehren der 1990er Jahre beachten und die soziale Komponente nicht vernachlässigen, empfiehlt die spanische Zeitung El Mundo. In Chile etwa war die konservative Restauration nach dem Wahlsieg Sebastian Piñeras 2010 nach einer Legislaturperiode schon wieder beendet.

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