Aufsichtsräte:Deutschlands Netz der Macht

'Mainhattan' leuchtet

Frankfurter Sykline: Eine ausgewählte Zahl von Managern sitzt gleich in mehreren Aufsichtsräten deutscher Konzerne.

(Foto: dpa)

Jeder Konzernchef wird von einem Aufsichtsrat überwacht. Nun mischt sich eine neue Generation der Kontrolleure immer stärker ein. Aber das ist nicht automatisch ein Fortschritt.

Von Caspar Busse und Thomas Fromm

Natürlich kann man die Frage stellen, warum der - sagen wir - hochdotierte Chef eines großen Autoherstellers in seiner Freizeit auch noch Aufsichtsrat eines Reisekonzerns werden muss. Daimler-Chef Dieter Zetsche, 65, jedenfalls dürfte in Stuttgart genug zu tun haben in diesen Zeiten, und auch sein Daimler-Gehalt von 8,6 Millionen Euro im vergangenen Jahr dürfte auskömmlich sein. Trotzdem hat Zetsche sich im Februar in den Aufsichtsrat von Tui wählen lassen. Am liebsten wäre ihm gleich der Chefposten im Kontrollgremium gewesen. Da Aktionärsberater aber fanden, dass er mit dem Chefjob bei den Autos schon genug zu tun hat, wird er nun wohl bis 2019 warten, um an die Spitze des Tui-Aufsichtsrats zu wechseln. Dass er irgendwann auch den Vorsitz im Daimler-Aufsichtsrat übernimmt, gilt als ziemlich sicher.

Vom Vorstandsvorsitzenden zum Aufsichtsrat zum Aufsichtsratschef - und das immer wieder mit Macht und Geld ausgestattet. So zieht die Karawane weiter, seit Jahren schon. Kaum einer hatte das Spiel mit den Aufsichtsratsposten so perfektioniert wie Gerhard Cromme, 75: Aufsichtsratsvorsitz bei Thyssenkrupp, Siemens, Kontrollposten bei Axel Springer, bei Lufthansa, Hochtief, Eon. In der Ära der Deutschland AG mit den vielen Überkreuzbeteiligungen war Cromme so etwas wie der große Zampano - der Prototyp des Multi-Aufsichtsrats.

"Fällt Ihnen ein Aufsichtsrat ein, der große Verfehlungen aufgedeckt hat?"

Doch die Spielregeln ändern sich im Zeitalter von Digitalisierung und Industrie 4.0, wenn auch langsam. Norbert Reithofer, 61, langjähriger BMW-Chef, sagt: "Das Amt des Aufsichtsratsvorsitzenden ist komplexer und aufwendiger geworden". Reithofer ist heute Aufsichtsratsvorsitzender bei BMW und Aufsichtsrat bei Siemens, er sitzt auch im Gesellschafterausschuss von Henkel. "Man bekommt weitaus mehr Vorlagen auf den Tisch als früher", sagt er.

Immer mehr, immer schneller, immer längere Gespräche mit immer mehr Juristen: Der Job des Kontrolleurs verändert sich, und damit auch die Menschen, die in diese Gremien ziehen. "Früher wurden die Aufsichtsräte vor allem mit Vorständen anderer großer deutscher Unternehmen besetzt", sagt Christoph Kaserer, Betriebswirtschaftsprofessor an der TU München. In den vergangenen Jahren habe sich nun allmählich eine Szene von Berufsaufsichträten herausgebildet. "Da hat sich ein neues Netzwerk entwickelt", so Kaserer.

So würden neben den Arbeitnehmervertretern immer öfter Frauen und Männer in den Aufsichtsräten sitzen, die zwar Entscheidungen treffen, aber nicht direkt davon betroffen sind. Kaserer sieht das durchaus mit Skepsis: "Alles steht unter dem Motto: Kapitalvertreter ohne Kapital." Das aber sei keine funktionierende Aufsicht, seiner Meinung nach müssten auch große Investoren verstärkt in die Aufsichtsräte. "Fällt Ihnen ein Aufsichtsrat ein, der große Verfehlungen aufgedeckt oder beseitigt hat?", fragt Kaserer.

Einer dieser neuen Berufsaufsichtsräte ist Werner Brandt. Der 64-jährige ehemalige Finanzvorstand von SAP, der nun als Berater in Frankfurt arbeitet, saß schon in den Aufsichtsräten von Innogy, Lufthansa, Qiagen, Heidelberger Druckmaschinen oder Osram. Heute ist er Vorsitzender des Gremiums bei dem Energieunternehmen RWE und bei Pro Sieben Sat 1, bei Siemens führt er den Prüfungsausschuss. "Die Aufsichtsratsarbeit hat sich drastisch geändert, die Arbeitsbelastung ist deutlich größer geworden", sagt auch Brandt.

Und damit auch die öffentliche Aufmerksamkeit für Aufsichtsräte. Brandt etwa wurde hart für sein angeblich wenig durchsetzungsstarkes Krisenmanagement bei Pro Sieben Sat 1 kritisiert. Auch seine zeitweilige Doppelrolle als Oberaufseher bei RWE und der Tochterfirma Innogy stieß wegen möglicher Interessenskonflikte nicht auf Wohlgefallen. Er gab den Innogy-Posten Ende 2017 dann auf.

"Können Sie bitte mal bei mir vorbeikommen und mir diese Geschichte hier erklären?"

Früher waren es die Aufsichtsratschefs, die andere ins Feuer stellten. Heute landen sie manchmal selbst dort. Das könnte daran liegen, dass die Aufsichtsratschefs von heute aktiver sind als früher. Sie sprechen selbst mit Investoren, mischen sich auch schon mal in das operative Geschäft ein. Ein Chef-Kontrolleur, der anonym bleiben will, berichtet von seiner täglichen Presse-Lektüre. Nicht selten würde er Text-Passagen ankreuzen, markieren und an die zuständigen Vorstände weiterleiten. Durchaus auch schon mal mit einer klaren Ansage: "Können Sie bitte mal bei mir vorbeikommen und mir diese Geschichte hier erklären?" Blöd nur, wenn man das dann nicht erklären kann.

408 000 Euro

war 2017 das durchschnittliche Gehalt des Aufsichtsratsvorsitzenden in einem der 30 deutschen Dax-Unternehmen. Nach einer Auswertung der Beratungsfirma HKP stieg die Entlohnung zuletzt stärker als die der Vorstandschefs, allerdings gibt es große Unterschiede. Spitzenverdiener ist Deutsche-Bank-Chefaufseher Paul Achleitner mit 800 000 Euro, gefolgt von seinem BMW-Kollegen Norbert Reithofer (640 000 Euro). Bei Infineon und Thyssenkrupp bekommen die Chefaufseher dagegen lediglich etwas mehr als 200 000 Euro. Nur ein Dax-Aufsichtsrat wird von einer Frau geführt, der von Henkel, dort amtiert seit 2009 Simone Bagel-Trah.

Immer öfter gehen Investoren gar nicht erst zum Vorstand, sondern gleich zum Aufsichtsrat. In der angelsächsischen Welt heißt der Aufsichtsratschef nicht nur "Chairman", er hat auch mehr Macht als hierzulande. "Schon heute fragen Investoren an, um strategische Themen auch mit mir zu besprechen", sagt BMW-Oberkontrolleur Reithofer. Das könnte daran liegen, dass er vor seiner Zeit im BMW-Aufsichtsrat Vorstandschef in München war und dann ohne die vom Corporate Governance Kodex empfohlene Abkühlzeit von zwei Jahren ins Kontrollgremium wechselte. Es kann aber auch bedeuten, dass sich die Macht in den Konzernen langsam verschiebt. "Manchmal hat man den Eindruck, das Unternehmen wird nicht vom Vorstandsvorsitzenden, sondern vom Aufsichtsratchef geführt", sagt Wirtschaftsprofessor Kaserer. Als Beispiel nennt er Linde oder die Deutsche Bank. Manchmal wüssten Investoren gar nicht, ob sie sich an den Konzernchef oder an dessen Aufseher wenden sollen. Kaserer würde deshalb das angelsächsische Modell eines gemeinsamen Verwaltungsrats, eines Boards, bevorzugen. "Das Modell ist insgesamt besser geeignet, den Interessenskonflikt zwischen Management und Eigentümer zu lösen."

Jim Hagemann Snabe hat, bevor er als Nachfolger von Gerhard Cromme als neuer Chefaufseher von Siemens antrat, eine Tour durch den Weltkonzern gemacht und sich alle Geschäftsbereiche angesehen. Er will künftig durchaus mitreden.

Pikant an dieser Konstellation: Der 52-jährige Däne ist acht Jahre jünger als Vorstandschef Joe Kaeser. Snabe, ehemaliger SAP-Boss, ist auch noch Aufsichtsratsmitglied bei der Allianz und Verwaltungsratschef der Reederei Maersk - auch er ist also eine Art Berufsaufseher. Wie auch der Österreicher Paul Achleitner: Er ist seit 2012 Chefaufseher bei der Deutschen Bank, außerdem Aufsichtsrat bei Bayer und Daimler. Auch er interpretiert seine Rolle offensiv, mischt sich ein und zieht gern die Fäden im Hintergrund. Achleitner versteht sich als Coach seiner Vorstände, als eine Art Sparringspartner. Aber die Krise des größten deutschen Geldinstituts bekommt er trotzdem nicht in den Griff. Vielleicht hat er doch noch zu viele Rollen zu spielen?

Nach den Regelungen des deutschen Corporate Governance Kodex soll niemand mehr als fünf Aufsichtsratsmandate haben, wobei die Position des Vorsitzes doppelt zählt. "Ich bin Aufsichtsratsvorsitzender bei BMW, Aufsichtsrat bei Siemens und ich sitze im Gesellschafterausschuss bei Henkel. Mehr Mandate kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen", sagt Reithofer. Andere sehen das kritischer: Eine Begrenzung der Zahl von Aufsichtsratsmandaten sei grundsätzlich richtig, meint etwa Werner Brandt, aber: "Problematisch sehe ich die starre Ausrichtung an einer bestimmten Anzahl von Mandaten. Hier sollte die individuelle Situation eines Einzelnen berücksichtigt werden." Manche, die mehr leisten können, dürften das auch, so lautet wohl die Schlussfolgerung. Aber wer will schon bewerten, was im Einzelfall geht und was nicht? Das Problem ist: Je mehr Berufsaufsichtsräte in immer mehr Gremien sitzen, desto größer das Risiko, am Ende wieder zurückzukehren zur alten Deutschland AG, in der alle mit allen vernetzt waren. Ob man diesen alten Wanderzirkus der Macht wirklich noch einmal haben will, ist eine andere Frage.

Wer sie beobachtet, hat den Eindruck, sich alle sehr gut kennen

Einer, der sich wenig vorschreiben lassen will, ist Wolfgang Reitzle, 69. Neulich, kurz vor Beginn des Aktionärstreffens bei Linde, stöhnte er in kleiner Runde über die immer neuen Forderungen nach einer Begrenzung: "So schnell können Sie die Mandate gar nicht neu sortieren." Hintergrund: Manche Investoren beziehen nun auch die Mandate bei nicht-börsennotierten Firmen mit ein. So ist Reitzle inzwischen Chefaufseher bei Willy Bogner und bei der Klinikfirma Medical Park, außerdem bei den Dax-Unternehmen Linde und Continental sowie Aufsichtsrat bei Axel Springer. Also hoffnungslos "überboarded", wie man heute sagt.

"Herr Reitzle, Sie sollten die Zahl Ihrer Mandate reduzieren, denn Ämterhäufung trifft auch auf Sie zu", mahnte deshalb Ingo Speich von der Fondsgesellschaft Union. Und: "Wie viele Ämter wollen die denn noch anhäufen", fragte Daniela Bergdolt von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). An Reitzle prallen solche Fragen ab wie Dartpfeile an einer Betonwand. Nach der geplanten Multimilliarden-Fusion von Linde mit dem US-Konkurrenten Praxair will er im dortigen Verwaltungsrat den Vorsitz übernehmen und noch mächtiger werden. Ämterhäufung? Vielleicht ein langweiliges Thema für einen viel beschäftigten Manager.

Und so ziehen die Aufsichtsräte der Republik weiter. In diesen Wochen kann man sie bei den Hauptversammlungen ihrer Unternehmen bei der Arbeit beobachten: Sie oben auf der Bühne, die Aktionäre unten im Saal. Man hat oft den Eindruck, dass sich hier alle sehr gut kennen.

Korrektur: In einer früheren Fassung des Textes wurden die Unternehmen RWE und Innogy verwechselt.

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