Adidas:Verschwitzte Schätze

Im nicht öffentlichen Archiv lagern Schuhe, Trikots und Hosen, in denen Athleten Preise gewannen. Ein Besuch im Reliquienschrein des Weltsports.

Von Uwe Ritzer

Bei Angelique Kerber kamen sie zu spät. Gleich nach ihrem Sieg bei den Australian Open Ende Januar fragten die Leute von Adidas bei ihr an, ob sie nicht das türkisfarbene Tank-Top, den knallroten Rock und die weißen Schuhe haben könnten, in denen Kerber das Finale gegen Favoritin Serena Williams sensationell gewonnen hatte. Und zwar möglichst im verschwitzten Originalzustand. Kerber lehnte ab. Die Klamotten seien schon in der Wäsche und außerdem wolle sie sie selbst behalten, als Erinnerung an ihren bislang größten Triumph: den ersten Grand-Slam-Sieg einer deutschen Tennisspielerin seit 17 Jahren.

Andernfalls wären Tank-Top und Rock sicher hier gelandet, in elektronisch besonders gesicherten Räumen im Untergeschoss des größten Gebäudes der Adidas-Zentrale in Herzogenaurach. Martin Gebhardt oder einer seiner Kolleginnen und Kollegen hätten eigens weiße Handschuhe angezogen, Angelique Kerbers im Idealfall verschwitztes Sieger-Dress abfotografiert, registriert, akkurat auf einen Bügel gehängt und zum Schutz eine weiße Husse darübergezogen. Dann hätten sie die Textilien in einen fensterlosen Raum mit schwarzen Wänden gebracht. Wie alle anderen Schätze der Sportgeschichte, die der hinter Nike zweitgrößte Sportartikelhersteller der Welt hier lagert. Bei permanent 18 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von exakt 55 Prozent.

Für die Öffentlichkeit ist das Firmenarchiv von Adidas nicht zugänglich. Es erfüllt gleich mehrere Zwecke. Es ist das Gedächtnis und die mentale Ladestation des Unternehmens, wenn es um die eigene Marke, deren Design und Image geht. Und es ist eine spektakuläre Reliquiensammlung des Weltsports. Adidas war jahrzehntelang der größte Sportausrüster der Welt. Entsprechend wurden unzählige Athleten aus vielen Ländern in Trikots, Hosen, Wettkampfanzügen und Schuhen mit den drei Streifen Weltmeister oder Olympiasieger, holten Meisterschaften und wichtige Pokale. Zigtausende dieser Teile lagern in diesem vollklimatisierten Depot.

Martin Gebhardt führt in einen mit raumhohen grauen Archivschränken, abgedeckten Kleiderständern und zahllosen Kartons gefüllten Raum. "Schon Adi Dassler hat von Sportlern Produkte nach Wettkämpfen zurückgefordert, um daran zu lernen und zu sehen, was man besser machen kann", sagt Gebhardt. Jahrzehntelang kümmerte sich ein anderer Adidas-Enthusiast quasi nebenbei um die historischen Bestände des Unternehmens.

Karl-Heinz Lang, mittlerweile pensioniert, hatte als junger Mann Firmengründer Adi Dassler zugearbeitet. Und stets fleißig gesammelt, was zum Grundstock des Archivs wurde. Die Spikes, in denen US-Weitspringer Bob Beamon 1968 in Mexiko zu seinem legendären Weltrekord flog. Die Riesenschlappen einer russischen Basketball-Olympiasiegerin oder die Schläppchen, in denen die rumänische Turnlegende Nadia Comăneci 1976 Gold gewann. Die Siegertrikots von Steffi Graf. Fußballschuhe aus großen Spielen von Fritz Walter, Franz Beckenbauer oder Uwe Seeler, von David Beckham oder Zinedine Zidane.

Im Adidas-Werk in Scheinfeld füllte Lang damit Regalmeter um Regalmeter. "Das ist unsere Bibliothek", erklärte er Besuchern. Auch Puma, die andere große Sportartikelmarke aus Herzogenaurach, hat ihren Karl-Heinz Lang. Nur heißt er dort Helmut Fischer. Auch er arbeitete noch mit dem Firmengründer zusammen, Adis Bruder Rudolf. Bekanntlich starteten beide Dassler-Brüder ihre Sportschuhfabrik gemeinsam, ehe sie sich 1948 trennten, fortan spinnefeind waren und leidenschaftlich bekämpften. Fischer kennt die Geschichte von Puma wie kein Zweiter.

Auch er sammelt bis heute, was Sportgrößen in Puma-Hemden und -Schuhen ihm überlassen. Athleten wie Lothar Matthäus, Boris Becker, Diego Maradona, Usain Bolt. Bei Adidas entschloss man sich 2009 dazu, die Sammlerei zu systematisieren und zu professionalisieren. So kam es zum Archiv, in das Martin Gebhardt erst vor wenigen Tagen einen Tennisschläger mit Holzrahmen und gerissenen Saiten hereinbekommen hat. Angeblich hat Ivan Lendl mit ihm gespielt.

Am braunen Ledergriff des Rackets steht mit schwarzem Filzstift sein Autogramm geschrieben, daneben French Open und die Jahreszahl 1984. In jenem Jahr gewann der tschechisch-amerikanische Star das Turnier. Unter anderem mit diesem Schläger? Sind dessen Saiten womöglich erst im Finale gerissen? "Wir müssen erst recherchieren, ob die Angaben stimmen", sagt Gebhardt vorsichtig.

Der 38-Jährige spielte früher in der Bayernliga Basketball, und eigentlich wollte er Lehrer werden. Dann promovierte er über ein museumshistorisches Thema und landete 2012 bei Adidas. Dort ist Gebhardt Teil eines sechsköpfigen Teams, das 40 000 Produkte und insgesamt doppelt so viele Objekte für die Nachwelt sichert. Dazu gehören nicht nur die Schuhe, Trikots und andere Wettkampfklamotten prominenter Sportler. Sondern auch Kataloge, Filme, Bilder und wichtige Produkte aus Adidas-Kollektionen.

Wie jene etwa tausend Bälle, viele davon aus großen Endspielen, die nun immer wieder aufgepumpt werden müssen. Mehr denn je werden ebenso Unterlagen gesammelt. Briefe, Verträge, Designerentwürfe oder andere Dokumente. "Wir wollen nicht nur jedes wichtige Produkt sichern, sondern auch jede wichtige Entscheidung in der Unternehmensgeschichte dokumentieren", sagt Gebhardt.

Vor allem für die Leute im eigenen Haus. Designer, Produktmanager, Marketing- und PR-Leute holen sich Inspirationen im Firmenarchiv. Lassen sich von Schuhen oder Textilien inspirieren, die in ihrer Zeit besonders populär waren. Vergleichen alte Entwürfe mit ihren neuen, informieren sich über Materialien, Konstruktion und Formen. Manchmal werden Einzelstücke bei Public-Relations-Aktionen präsentiert. "Es geht sehr oft um Authentizität und Identität", sagt Gebhardt. "Neben Innovation und dem Blick in die Zukunft ist das ein Urmarkenthema."

1948: Der Bruch

In der Waschküche ihrer Mutter in Herzogenaurach bei Nürnberg begannen die Brüder Adolf und Rudolf Dassler in den 1920erJahren damit, Sportschuhe zu schustern. Sie gründeten eine Firma, verkrachten sich und gingen von 1948 an getrennte Wege. Adi gründete Adidas, Rudolf Puma. Uwe Ritzer

Im benachbarten Gebäude gibt es einen verschlossenen Raum. Man öffne ihn nur zu besonderen Anlässen, behaupten sie bei Adidas. Ein bisschen Personenkult soll schließlich sein. Denn wer den Raum betritt, steht vor der mit perfektem Licht in Szene gesetzten, abgenutzten Werkbank, an der einst Adi Dassler getüftelt hat. Es böte sich an, dieses und andere Exponate aus der Adidas-Geschichte in einem Museum auch öffentlich zu zeigen. Ein Konzept dafür gibt es dem Vernehmen nach seit Jahren; eine Umsetzung ist aber nicht in Sicht. Nur online ist ein Einblick in die Bestände möglich (www.adidas-archive.org).

Im Depot zieht Martin Gebhardt einen der vielen weißen Schuhkartons hervor. Außen steht "F-173 a/b". Innen liegen Fußballschuhe von Max Morlock, dem Nürnberger WM-Torschützen von 1954. Abgetretene Kickstiefel aus schwarzem Leder aus dem Jahr 1957; zwischen den Stollen haften noch Dreck und Grasreste. Oder Karton "F-1420 a/b". Er enthält die Schuhe, in denen Mesut Özil die komplette WM 2014 durchgespielt hat. Die Dreckspuren vom Endspiel im Maracanã-Stadion von Rio haften noch daran, ebenso der Name von Özils Ex-Freundin Grace, den er auf die Schuhferse hatte drucken lassen. Die leichten Kunststoffschuhe sind Hightechprodukte im Vergleich zu Morlocks schweren Lederschuhen.

Auch in den Spikes, mit denen der farbige US-Sprinter Jesse Owens 1936 zum Ärger der NS-Machthaber zum Superstar der Olympischen Spiele in Berlin sprintete, würde heute niemand mehr einen Wettkampf gewinnen. Diese Schuhe sind sogar älter als Adidas. Sie stammen aus der Zeit, in der Adolf und Rudolf Dassler gemeinsam eine Sportschuhfabrik betrieben.

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