Süddeutsche Zeitung

Nostalgie:Schön war die Zeit

Margit und Martin Schwed aus Niederösterreich leben wie in den Zwanzigerjahren. In ihrem originalgetreuen Haus gibt es keinen Fernseher, dafür Grammofone und erstaunlich zeitgemäße Ideen zur Nachhaltigkeit.

Von Peter Münch

Draußen färbt die Winterkälte alle Bäume weiß. Drinnen haben Margit und Martin Schwed den Kachelofen angeheizt. Eine "Schartner Bombe" steht auf dem Tisch, die gute alte Limonade in der bauchigen Flasche. Im Hintergrund läuft Swingmusik, gepflegt blasen die Schweds den Rauch in die Luft. Er zündet immer zwei Zigaretten zugleich an, eine davon reicht er seiner Frau, alte Schule. Draußen ist es 2020, drinnen schreiben wir das Jahr 1927, so ungefähr.

Ein Besuch bei den Schweds in Kritzendorf, Niederösterreich, nahe Wien, ist eine Reise rückwärts in der Zeit. Man landet in einer Epoche, in der vieles plötzlich in neuer, wenngleich kurzer Blüte stand: die Musik, die Mode, das Leben insgesamt.

Dieser Zeit, den legendären Zwanzigerjahren, haben Margit Schwed, geboren 1966, und ihr Gatte Martin, Jahrgang 1965, ihr Leben gewidmet, und besonders angetan hat es ihnen das Jahr 1927. "Da haben meine Großeltern geheiratet", sagt er. "Meine auch", sagt sie.

Um 1927 war es auch, als die Tänzerin Josephine Baker in Wien auftrat, Triumphe feierte und Skandale auslöste. Baujahr 1927 ist überdies der Chevrolet Capitol, der in der Garage steht. Und so weiter.

Wer hundert Jahre später in den alten Zwanzigern leben will, aus Überzeugung und von Kopf bis Fuß, der braucht vieles: Fantasie zum Beispiel, Findigkeit und zunächst einmal einen guten Friseur. "Da habe ich viele verbraucht, bis ich die richtige gefunden habe", sagt Margit Schwed, die in ihrem eigentlichen Leben, also dem in der alten Zeit, lieber Louise genannt werden will. Louise wie Louise Brooks.

Die war ein Filmstar in Amerika und später in Berlin, bekannt unter anderem für ihren Bubikopf. Genau diesen Schnitt trägt auch Margit Schwed, und besonders schwierig war es, das hinten hinzukriegen. Denn auf dem Foto, das sie den Friseuren zeigte, sieht man Brooks nur von vorn.

Einfacher war das dann bei ihrem Mann Martin, denn von Clark Gable gibt es Bilder von allen Seiten. Passend zu Schnurrbart und Scheitel trägt er Knickerbocker und karierte Kniestrümpfe, Hemd, Krawatte und Pullunder. Sie hat sich für ein blaues Seidenkleid mit weißen Punkten und Volants entschieden. "Mich wird man nie in einer Jeans sehen", sagt sie, "ich gehe nie anders als so auf die Straße."

In Kritzendorf ist das nicht ganz so gewöhnlich, und vielleicht haben sich die Schweds zur steten Selbstvergewisserung darum ein Motto in Großbuchstaben in die Wohnstube gehängt: "NORMAL IST GEFÄHRLICH".

Sie berichtet von einem Nachbarn, der staunend bei ihnen im Haus stand und meinte: "Ich habe euch immer schon für verrückt gehalten, aber ihr seid so konsequent."

Er erinnert sich an einen Ausflug nach Berlin, wo ihnen Skinheads, die wohl was durcheinanderbrachten, "Heil Hitler" hinterherriefen. Und in Prag war es, wo eine ganze Touristengruppe bei ihrem Anblick die Fotoapparate zückte. "Die Leute schauen schon", sagt Margit Schwed, "aber meistens lächeln sie."

Keine Rede von den "Goldenen Zwanzigern"

In den sachlichen Neunzigerjahren haben Margit und Martin Schwed sich kennengelernt. "Damals waren wir in den Sechzigern", sagt er und zeigt ein Foto: VW-Bulli, lange Haare. Die Musik kam von den Stones und Canned Heat.

Margit Schwed arbeitete als EDV-Fachfrau im österreichischen Innenministerium, er ist Tischler. Gemeinsam entdeckten sie die Liebe zu Stummfilmen und die Leidenschaft für die beschwingten Zwanziger.

Die "Roaring Twenties" faszinieren sie, aber sie sprechen nie von den "Goldenen Zwanzigern". Denn letztlich waren die Jahre nur eine Atempause zwischen zwei Weltkriegen. "Golden waren die Jahre nur für ein paar Reiche, für Kriegsgewinnler, die mit Schwarzhandel viel Geld gemacht haben", sagt sie. "Der Rest der Leute war arm, die haben gefroren, weil sie kein Heizmaterial kaufen konnten."

Gefeiert wurde trotzdem. "Wenn es irgendwo eine Gelegenheit gab, Spaß zu haben, dann hat man die auch genutzt", sagt Margit Schwed.

Diese Intensität ist es, von der die Schweds sich angezogen fühlen, und dazu noch von ein paar andern Dingen, die heute wieder wichtig werden. Nachhaltigkeit zum Beispiel. Konkret bedeutet das für die Schweds, Plastikverpackungen zu vermeiden, denn so etwas gab es früher nicht.

Alles wird repariert, wenig weggeworfen. Gekocht wird nach alten Rezepten, etwa aus einem "Kriegskochbuch" von 1917. "Es geht darum, aus wenig viel zu machen", sagt er. "Wir müssen auch froh sein, dass wir immer etwas zu essen haben."

Neben Swing und Jazz und Charleston gehört für die Schweds auch diese Selbstbeschränkung zum Erbe aus den Zwanzigern. Es reicht ihnen nicht, die alten Zeiten zu lieben und zu verklären. Sie wollen sie leben. Und für sie ist es nicht nur ein Lebensgefühl, sondern ein Lebenskonzept.

Geheiratet haben sie zur Jahrtausendwende, und als Erstes ein passendes Zuhause geschaffen. Das Vorbild: alte amerikanische Holzhäuser. Fast komplett haben sie ihr Haus selbst gebaut, und sie haben es sich gemütlich gemacht in ihrer Zeitkapsel. Das meiste ist alt, so wie die Schränke oder die Türen, die Martin Schwed aus Abbruchhäusern gerettet hat. Alles andere ist nachgebaut, vom Toilettenthron aus Mahagoni bis zum Kachelofen, der das Haus beheizt und auf dem gekocht wird. In den Art-deco-Lampen leuchten Glühbirnen. "Bevor das Verbot gekommen ist, haben wir sämtliche Baumärkte ausgeräumt", sagt Martin Schwed. "Wir haben ein Lager von sicher tausend Glühbirnen, eher mehr." Es gibt in der Küche keine Spülmaschine, keine Mikrowelle, keinen elektrischen Mixer, im Wohnzimmer keinen Fernseher.

Ein paar Zugeständnisse an die modernen Zeiten gibt es aber doch: den Kühlschrank, Baujahr 1991, die Waschmaschine von 1976 und einen ähnlich alten Staubsauger. Zudem Laptop, Handy und Wlan. "Ohne geht es heute nicht mehr", erklärt Margit Schwed. Die Musik kommt, auch wenn es knistert, aus dem Internetradio. Radio Dismuke heißt der Sender. "Der sitzt irgendwo in Texas und spielt ausschließlich Zwanziger- und Dreißigerjahre-Musik", sagt sie. Ein Grammofon gibt es allerdings auch, dazu noch mehr als 800 Schellackplatten. "Aber das ist nichts für die Alltagsberieselung", sagt er, "das muss man alle drei Minuten rumdrehen, das ist nur was für abends."

Sogar ein Koffergrammofon besitzen sie, das bei den Ausfahrten im Chevy oder einem der sieben anderen Oldtimer zum Einsatz kommt. Meist kauft Martin Schwed sie schrottreif und restauriert sie selbst. "Diese Autos gibt es heute wie Sand am Meer", erklärt er. "Die will gar keiner mehr, die Jungen wollen Gas geben."

Fürs Einkommen ist die gemeinsame Firma Retro-Spektiv zuständig. Das meiste Geld verdienen sie mit EDV-Beratung und Büroorganisation. Doch daneben hat sich aus der Leidenschaft für die alte Zeit ein neues Geschäft entwickelt. Die Oldtimer kann man samt Martin Schwed als Chauffeur für Hochzeiten oder dergleichen mieten. "Meistens mieten mich die Leute gleich mit", sagt sie und zeigt ein Foto mit Brautpaar und ihren Zeitzeugen aus den Zwanzigern. Filmfirmen leihen sich bei ihnen Requisiten aus. Auch wer seinen Fünfzigsten in den Zwanzigern feiern will, kann sich zur Partyplanung an sie wenden.

"Reich wird man damit nicht", sagt Martin Schwed, und das mag auch daran liegen, dass die beiden im eigenen wie im Geschäftsleben möglichst viel Wert aufs Authentische legen. "Große-Gatsby-Partys" mit Elektroswing oder Techno-Einlagen sind ihnen eher ein Graus. Lieber laden sie zu sich nach Hause ein, zum "Salon Louise" in Kritzendorf. Befreundete Musiker spielen dann auf oder es gibt Lesungen aus Romanen, die in den Zwanzigerjahren spielen. Für die Künstlergage geht ein Hut rum, der Besucherkreis ist klein, und in der Einladung heißt es: "Die Gastgeber ersuchen das Publikum um den Abend würdigende Bekleidung (wir ersuchen, von Jeans, T-Shirt und Turnschuhen Abstand zu nehmen)." Zur Belohnung wird Absinth gereicht, nirgends gilt ein Rauchverbot.

Sie restaurieren ein altes Wirtshaus aus den Zwanzigern

Viel Herzblut stecken Margit und Martin Schwed in ein weiteres Projekt: Ein altes Wirtshaus aus den Zwanzigern wollen sie "zeitgetreu revitalisieren". Für 15 000 Euro haben sie es in Marbach an der Donau gekauft, weit genug weg von Wien, um erschwinglich zu sein. Eine Kegelbahn gibt es und Fremdenzimmer, aber keine Zentralheizung, kein ständiges warmes Wasser. Seit zehn Jahren restaurieren sie das "Gasthaus zur Hinterbrühl". Wenn alles fertig ist, soll es auch hier Veranstaltungen geben zum Eintauchen in die Vergangenheit.

Rückzugsorte in einer anderen Zeitzone sind das. "Wenn ich nach Wien reinfahre, betrete ich eine andere Welt", sagt Margit Schwed. Meist kann sie es kaum erwarten, wieder nach Kritzendorf zu kommen, heim in die Zwanziger. Draußen färbt die Winterkälte alle Bäume weiß. Drinnen ist der Kachelofen angeheizt.

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Quelle:
SZ vom 01.02.2020/mkoh
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