Wohnen:Plätzchen

Sicher, abwaschbar, bequem: Welche Entwicklung der Kinderstuhl über die Jahrhunderte erlebt hat, wird in einer Ausstellung in München sichtbar.

Von Julia Rothhaas

Die Knie in den Achselhöhlen, der Rücken gekrümmt, die Schultern an den Ohren: Wenn sich Menschen in dieser Position wiederfinden, machen sie vermutlich gerade Yoga. Oder sie erleben einen der wenigen Momente in ihrem Erwachsenenleben, in denen der Stuhl partout nicht zur Körpergröße passt: Sie sitzen im Kindergarten beim Elternabend. Als wäre die Veranstaltung nicht schon Qual genug, müssen sie sich auf winzige Stühlchen quetschen und an das Märchen vom Goldlöckchen bei den drei Bären denken, dem der kleinste Stuhl unterm Hintern zusammenkracht.

Vielleicht ist dieses mühsame Sitzen eine Art Strafe für Eltern. Kinder wissen schließlich genau, wie es sich anfühlt, auf ungünstigen Möbeln zu sitzen. Ist beim Verwandtenbesuch oder im Restaurant kein Hochstuhl zur Stelle, müssen sie auf aufgetürmten Kissen Platz nehmen, die ihnen ständig unterm Po wegrutschen. Ihre Beine hängen in der Luft, und die Arme greifen ins Leere, weil sie nichts auf dem Tisch zu fassen bekommen. Zu allem Überfluss heißt es dann: "Zappel nicht so rum!" Große Menschen haben schnell vergessen, wie lästig Sitzen für kleine Menschen sein kann.

Gisela Neuwald weiß noch genau, wie nervig sie als Kind die vielen Kissen auf dem Stuhl fand. Als die heute 78-Jährige klein war, standen Hochstühle wie der Klassiker "Tripp Trapp" noch nicht an jedem Esstisch. Die Münchnerin besorgte also diese Sitzmöbel, als sie selbst Mutter wurde, denn ihre drei Kinder sollten von Anfang an vernünftig am Tischgespräch teilhaben können. Inzwischen sind aus den drei Kinderstühlen 300 Exemplare geworden und Gisela Neuwald zur Sammlerin. In ihrer Wohnung stehen Sessel, Hocker, Schaukelstühle, Freischwinger und Klappstühle, die sie als Nachttischchen, für die Pediküre oder bei der "Reise nach Jerusalem" mit ihren neun Enkelkindern nutzt. Einen Teil ihrer bunten Sammlung zeigt nun die Pinakothek der Moderne in München, die Ausstellung "... nur Stühle?" ist bis zum 4. Februar zu sehen.

Welche Bedeutung Kinder in einer Gesellschaft haben, lässt sich auch am Design ablesen

Holz, Plastik, Stahl, Pappe: Vom einfachen Gartenstuhl und selbstgezimmerten Unikat hin zu Design-Objekten von Alvar Aalto, dem Ehepaar Eames oder Philippe Starck ist alles dabei. Der kastenförmige Armlehnstuhl aus China von 1840 ist eher Verwahrungsort als Kindersitz, der grüne Kunststoffstuhl "Julian" des spanischen Designers Javier Mariscal sieht hingegen aus wie eine Katze. Das Herzstück ihrer Sammlung ist ein schlichter Stuhl aus Fichtenholz mit niedriger Rückenlehne, nichts Besonderes eigentlich, aber der Auftakt ihrer Sammlung. Das staubige Stück auf dem Dachboden einer Freundin erinnerte sie an den ersten Stuhl aus ihrer Kindheit, also kaufte sie ihn ihr in den Siebzigerjahren für 30 Mark ab.

Was alle Stühle eint, sind die Gebrauchsspuren. Nicht nur Farbe oder Form spielen für Neuwald eine Rolle, sondern auch die Geschichte hinter dem Stuhl, über die sie sich gern Gedanken macht: Wer war das Kind, das darauf saß? Hatte es eine glückliche Kindheit? Und was ist später aus ihm geworden?

Die Ausstellung ist auch ein Rundgang durch ein kleines Stück Weltgeschichte. Welche Bedeutung Kinder in einer Gesellschaft haben, lässt sich mitunter daran ablesen, inwieweit auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Dazu gehören auch Kindermöbel, zumindest in der westlichen Welt. Über Jahrhunderte waren sie nur dem Nachwuchs adeliger Familien vorbehalten. Wer auf so einem Stuhl saß, musste repräsentieren. Das Kind übernahm die Funktion eines Erwachsenen und hatte sich entsprechend zu benehmen.

Als Howard Carter im November 1922 das Grab Tutanchamuns öffnete, fand er in der dunklen Kammer nicht nur Tierstatuen, Krüge aus Alabaster, vergoldete Bettgestelle und bemalte Truhen, sondern auch zwei Kinderstühle. Das aufwendig verarbeitete Ebenholz und Elfenbein dürfte die Minipharaonen wenig beeindruckt haben, sondern vielmehr die dicken Tierkrallen mit den goldenen Nägeln. Nicht überliefert ist, wie häufig sie ermahnt wurden, mit dem Kippeln aufzuhören.

Jedes achte in Deutschland produzierte Möbelstück ist inzwischen für Kinder

Bis ins 18. Jahrhundert waren Kinderstühle in Europa lediglich Kopien der Erwachsenenmodelle. Mit Pädagogik-Reformern wie Johann Heinrich Pestalozzi und Maria Montessori wurde die Rolle der Sprösslinge neu überdacht, das Wort "kindgerecht" tauchte plötzlich auf. Als es den Brüdern Thonet gelang, mithilfe des Bugholzverfahrens Möbel in Serie herzustellen, kam 1866 auch die erste eigene Produktserie für Kinder auf den Markt. Die meisten Gestalter begannen erst, kleine Möbel zu entwerfen, als sie selbst Eltern wurden. "Bequemes und sicheres Sitzen, regulierbare Höhe, abwaschbar, nicht zu schwer und massig": 1919 stellte der niederländische Designer Gerrit Rietveld einen Hochstuhl mit abgerundeten Hölzern an den Kanten vor - er war sechsfacher Vater. Bauhaus-Vertreter wie Marcel Breuer oder Mies van der Rohe schrumpften ihre Freischwinger später zwar auch zu Miniversionen, aber mit den Ansprüchen an kindgerechte Stühle setzten sie sich nicht auseinander.

Kaum ein Material brachte schließlich so viel Innovation und Demokratisierung auf den Möbelmarkt wie der Kunststoff. Wenig Gewicht, leicht zu reinigen, in vielen Farben und Formen zu haben: Anfang der Sechzigerjahre tauchten immer mehr Entwürfe für Kinder auf. Eines der bekanntesten Modelle ist nach wie vor der "Zocker", eine Tisch-Stuhl-Kombination von Luigi Colani (1972). Als Kindergartenkinder zwischen vier und sechs Jahren gebeten wurden, für die Ausstellung in der Pinakothek der Moderne Stühle aus der Neuwald-Sammlung zu testen, schnitt der "Zocker" am besten ab. Weil er eben nicht nur Stuhl ist, sondern auch Spielzeug.

Seit dem Siegeszug des "Tripp Trapp", dem wohl bekanntesten Hochstuhl, und den Rundum-sorglos-Paketen von Ikea gehören Kindermöbel genauso zum Familienleben wie die Kinder selbst. Längst gibt es eine Vielzahl an eigens konzipierten, mitwachsenden, wandelbaren und mit jeder Menge Prüfsiegeln versehenen Stühlen, Tischen, Betten. Jedes achte in Deutschland produzierte Möbel ist für Kinder, so der Verband der Deutschen Möbelindustrie. Damit der Nachwuchs anständig sitzt, investieren Eltern mehr als 400 Euro pro Jahr - Tendenz steigend.

In Sachen Design verläuft weiterhin die Front zwischen Groß und Klein. Während Eltern eher auf klare Linien in schlichtem Ahorn setzen, darf es für Kinder lieber was Buntes mit Rutsche oder Zelt sein. Aber egal wie gut ein Stuhl oder seine technischen Neuerungen sind: Kippeln bleibt immer toller, als still zu sitzen.

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