Ich liebe einen Tisch. Er heißt "Ponte". Auf Rheinisch ist damit eine Fähre, auf Italienisch eine Brücke gemeint. Wie eine Brücke oder Fähre hat sich auch Ponte als Ess-, Arbeits- und Lebenstisch unentbehrlich gemacht. Er ist ein Element der innigen Verbindung. Krisentechnisch gesehen kommt ihm eine geradezu staatstragend infrastrukturelle Bedeutung zu. In unserer Familie, Frau, Mann, drei Kinder, ist Ponte der Mittelpunkt des Universums. Der große gemeinsame Nenner. Etwas, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Paraphernalien sind Grabbeigaben. Typisch für frühe Kulturen mit ausgeprägten Jenseitsvorstellungen. Ich als Profan-Pontifex-Maximus stelle mir das Jenseits lieber mit als ohne Ponte vor. Man kann ihn übrigens zerlegen. Nicht nur ins Grab, auch auf Reisen würde ich ihn gern mitnehmen. Er ist aber schwer. Das recht kleine Haus, in dem wir am Stadtrand von München leben, wurde im Grunde um den recht großen Tisch herumgebaut. Die gemeinsame Mahlzeit ist das oberste Familiengebot. Nicht alle sind glücklich damit. Der Jüngste, ein 15-Jähriger, empfindet das gemeinsame Essen und vor allem jede Form von Tischgespräch als inhumane Zumutung.
Die Objektophilie gilt als seltenes Krankheitsbild, bei dem Menschen leblose Objekte vermenschlichen. Hm. Krank also. Krank, inhuman - und in einen Tisch verknallt. Na und? Unter uns Animisten und Seelengläubigen: Mir ist jemand, der seinen Kühlschrank Bosch nennt und als Freund fürs Leben betrachtet, statt ihn zu verschrotten, total sympathisch. Bosch kühlt einem gutmütig das Bier. Manche von Boschs jüngeren Verwandten schicken einem sogar eine Nachricht aufs Handy in den Supermarkt: "Milch ist alle."
Alles hat der Tisch erlebt, Streit und Tränen, Versöhnung und Glück
Frühstück, Lunch, Abendessen - Ponte ist mein Freund. Ungezählte Mahlzeiten, Gespräche, Weinflecken und Krümel, kleine Kerben an den zunehmend abgenudelten Kanten, ausgebleichte Stellen, erste Risse, Schrammen, Beulen, Kratzer, eine kleine Brandblase, jede Spur erzählt eine andere Geschichte, ein titanischer Brotteller aus Zirbe in der Mitte, Kerzenständer aus aller Welt, ein wildes Sammelsurium der Erinnerungen, Patina, Gelächter und Freude, Streit und Tränen, Versöhnung und Glück, Langeweile sowieso, Freunde (gern), Verwandtschaft (muss), Hausaufgaben, Basteleien, Pokerrunden, die Zeitung lesen, das unlösbare Puzzle puzzeln und bitte nicht noch einmal Siedler von Catan sein müssen - ins Nichts starren: Seit bestimmt zwanzig Jahren sitze ich praktisch täglich an einem Ding aus Eiche. Es lebt.
Zweieinhalb Meter lang und fast einen Meter breit: My ponte is my castle. Erst recht in der Pandemie, wo die Brücke außer zum Abdruck der eigenen Existenz auch zum existenziellen Home-Office wird. Man muss sich den Autor, der genau diesen Text an genau diesem Tisch schreibt, als glücklichen Menschen vorstellen. Wenn man die möglicherweise seltsam anmutende Gabe besitzt (die aber zur Déformation professionnelle als Architekturkritiker passt), Häuser und Möbel lieben zu können, ist eine Existenz an diesem Tisch im Grunde ein Glücksmotiv.
Schon deshalb stellt sich die Frage, warum ich mir plötzlich vorstellen kann, dieses Glück mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Es ist nur eine kleine eheliche Gewaltfantasie. Aus Liebe kann Hass werden. Oder jedenfalls ein Überdruss an der Welt des Wohnens und ihrer aktuellen Überhöhung, Überreizung, Überflutung und Überformung. Ponte und ich: Sind wir reif für die Paartherapie? So schnell kann das gehen. Plötzlich entfremdet.
Dabei gehört die boomende Wohnwelt der Tische und Schränke, der Sofas und Betten, der Stühle und Sessel, der Vorhänge und Teppiche, ausdiskutiert und durchbuchstabiert in Style-Gazetten, Wohn-Blogs und Instagram-Inszenierungen, zu den größten Profiteuren der Pandemie. Der öffentliche Raum, tendenziell als virenverseuchter Corona-Hotspot beargwöhnt, verwaist gerade - während das Private immer öffentlicher wird. Die Optimierungskultur hat das Wohnzimmer erreicht, in dem per Videochat eh schon die halbe Welt sitzt. Wir erleben das Biedermeier 2.0. Das Wohnen hat wieder Konjunktur - wie ehedem, als das biedermeierliche Daheimbleiben erstmals zur Kunst ernannt wurde. Aber das Private wird nun, anders als damals, auch zur öffentlichen Übung: Zeige mir deinen Tisch - und ich sage dir, wer du bist.
Das neue Biedermeier feiert den Wohnraum als Safe Space
Das Biedermeier beschreibt als Epochenbegriff die Zeit vor dem Beginn der bürgerlichen Revolution zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Gesellschaft reagierte auf äußere Krisen, politische Verwerfungen, technische und ökonomische Umwälzungen mit dem Rückzug ins Private. Ins Innerliche. Das Idyll wurde als vermeintlich letztes Mittel der Selbstkontrolle in restaurativen Zeiten erfunden. Innenarchitektur, Wohnkultur und auch die Hausmusik erlebten einen enormen Aufschwung. Das wiederholt sich heute mit anderen Vorzeichen und einem erweiterten Begriff vom Privatraum. Auch jetzt handelt es sich um eine Folge der als disruptiv erlebten Zeitgenossenschaft. Der Wohnraum wird zum Safe Space nicht allein der persönlichen Identität, sondern auch zum Motor identifikatorischer Sinnstiftung und Distinktion.
"Die Küche ist das neue Mallorca", sagt in diesem Zusammenhang Carla Kriwet, Chefin von Europas größtem Hausgerätehersteller BSH. Im SZ-Interview sprach sie kürzlich über den Trend zu teuren Herden, großen Kühlschränken und immer professioneller ausgestatteten Küchen. Vom Phänomen "Cocooning" profitiert die Möbelbranche insgesamt. "Das Zuhause", sagt Oliver Wright als Leiter für Consumer Goods bei der Unternehmensberatung Accenture, "ist der neue Horizont." Zukunftsforscher sprechen von einem gesellschaftlichen "Megatrend".
Das gilt nicht nur für das Premiumsegment, in dem der Lounge Chair von Eames bei Vitra an den Kaufpreis eines Fiat Panda heranreicht. In allen Kategorien des Wohnens, von der Resterampe bis zu jenen italienischen Designern, die angeblich das Putin-"Schloss" ausgestattet haben, wird gerade viel Umsatz gemacht. Das Wohnen bläst die Backen auf: Für die einen, eingeklemmt zwischen Bügelbrett und Home-Office, wird die Küche zur Ersatz-Kita und zum Klassenzimmer im Homeschooling; für die anderen, privilegiert wohnend, wird die Küche zur Visitenkarte. Boris Johnson, der britische Putin-Darsteller, hat sich soeben die Dienstwohnung neu möblieren lassen. Angeblich für 200 000 Pfund. Einerseits ist das skandalös viel Geld. Andererseits hat er wohl sehr viel rankende Blumen in Tapetenform dafür erhalten.
In der Stressforschung weiß man, dass das Gefühl von Autonomie und Kontrolle ein menschliches Grundbedürfnis ist. Im Grusel von Lockdown, Brückenlockdown oder Notbremsenlockdown wird dieses Bedürfnis nicht befriedigt. Die Ausgestaltung und Bespielung der eigenen vier Wände bietet einen Ausweg. Es ist auch kein Zufall, dass Haustiere und Hausmusik als Lieferanten häuslich-wohnlicher Gesinnung gefragt sind wie selten zuvor. Haus, Garten, Wohnen: Es sind die Themen der Zeit.
Gibson, eine Legende unter den Gitarren-Herstellern, stand vor wenigen Jahren noch vor der Pleite. Dann hieß es letztes Jahr im Rolling Stone: "In diesem Jahr werden mehr Gitarren an Mann und Frau gebracht. Das gilt für Fender, Gibson, Martin, Taylor und Co." Der Grund: "die Corona-Pandemie" und "das Revival vergessener Hobbys". Die App "Fender Play", die einen enormen Zulauf meldete, dürfte heute das sein, was die Bildnisse von Carl Spitzweg waren: Versuche, sich im ungeheuren Draußen ein Drinnen als Hideaway zu schaffen. Von der Aufräumkunst der Marie Kondo über die Tipps zum Gärtnern auf der Fensterbank bis zu ausverkauften Wandfarben: Die Wohnkultur ist zum Virus geworden. Schon vor der Pandemie zeigten Studien, dass moderne Gesellschaften sich kaum mehr außerhalb von Räumen aufhalten. Jetzt ist das Drinnen endgültig. Wobei es sich nicht nur wie ein Schutzversprechen anfühlt - sondern zunehmend auch wie ein Gefängnis.
Im Gegensatz zu den Möbeln wird man selbst nicht unbedingt schöner
Als Freund des schönen und auch des noch viel schöneren Wohnens kann man nur verzweifeln. Die Verpontisierung des Universums im Zuge innenarchitektonischer Optimierungslust ist Utopie und Dystopie in einem. Das Wohnen, das ich schon längst zum Fetisch und zum Beruf erhoben habe, drängt sich nun auch allgemein so auf, dass es, wie bitter, nervt. Die Welt, die man sich erschafft aus Möbeln, Stoffen und Farben, wird immer schöner und besser. Bis man es darin nicht mehr aushält, weil man nicht mithält. Man selbst wird nicht schöner und besser. Plötzlich passt man nicht mehr zum Tisch.
Es ist wie im Film "Der Rosenkrieg". Man begegnet sich, verliebt sich, kauft ein Haus, richtet es ein, sammelt zierliche Porzellanfigürchen und gibt dem nach Feng-Shui-Kriterien ausgerichteten Sofakissen noch den ultimativen Kniff: Dann bricht die Hölle los, die sich immer dann einstellt, wenn wir uns der Perfektion hingeben. Das perfektionierte Wohnen, es ist ein verdammtes Privileg, schon klar, hält uns als imperfekte Menschen, die wir nun mal sind, einfach nicht aus auf Dauer. Es stößt uns schließlich ab. Gut so. Nach anderthalb Jahren Odyssee im Wohnraum, an einer Art Innenarchitekturallergie leidend, sollte man ausnahmsweise laut rufen dürfen: Ich will hier raus, lasst mich frei! Es gibt auch ein Leben ohne Ponte. Der 15-jährige Muffel sagt: "Du hast ja so recht, Boomer."