Wohnen:Bei der Tapete geht es um Selbstdarstellung

Wohnen: Mit Tapeten können Wände zu Kunstwerken werden, wie die „Brickollection“ zeigt, ein Entwurf des Münchner Designstudios Markus Benesch Creates.

Mit Tapeten können Wände zu Kunstwerken werden, wie die „Brickollection“ zeigt, ein Entwurf des Münchner Designstudios Markus Benesch Creates.

(Foto: Stephan Rumpf)

Erst nur für die Oberschicht, dann für alle: Die Tapete ist die vermutlich erfolgreichste Demokratisierung des Dekors. Lange verpönt, ist sie jetzt wieder im Kommen.

Von Oliver Herwig

Sie ist der Inbegriff der Einfallslosigkeit - und findet sich doch in vielen deutschen Haushalten: die Raufasertapete, 1864 erfunden von Hugo Erfurt, einem gelernten Apotheker und geschickten Unternehmer. Sie war eigentlich als Schaufensterdekoration gedacht und wanderte erst in den Zwanzigerjahren in die Wohnung. Ihre Struktur kaschiert so manche Wandunebenheit und macht sie einfach zu verlegen. Die Anschlüsse passen schließlich immer. Keine Muster, keine Farbverläufe - einfach nur Struktur.

Doch so ganz trauen selbst Experten der Orangenhaut an den Wänden nicht - und raten daher dazu, sie zu streichen. Eine Faustregel besagt: Ein Zehn-Liter-Eimer reicht etwa für 60 Quadratmeter. Bevorzugter Farbton: Weiß. Das jedenfalls ergab eine repräsentative Umfrage des Immobilien-Portals Immobilienscout 24 aus dem Jahr 2010. Nach Weiß (57 Prozent) rangierten Beige beziehungsweise Vanillegelb (19 Prozent) auf Platz zwei.

Eher exotisch ist dagegen die gemusterte Tapete. Sie hat einige Höhen und Tiefen hinter sich. In den vergangenen Jahren hat das Wandpapier eine kleine Renaissance erlebt. Das bewies nicht nur der Tapezier-Weltrekord auf der jüngsten Messe "Heimtextil" in Frankfurt. Nach 96 Stunden Dauertapezieren hatten fleißige Hände 2400 Quadratmeter zugekleistert. Die Aktion bewies auf ihre Art: Mit dem Wandschmuck ist wieder zu rechnen.

Die Tapete ist die vermutlich erfolgreichste Demokratisierung des Dekors. Während Wandteppiche, Brokatstoffe, Leder und Seidenbespannungen nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten waren, machten einfachere Pergamenttapeten Karriere. Doch es sollte lange dauern, bis im 16. Jahrhundert importierte chinesische Papiertapeten einen regelrechten Ansturm auf Wandpapiere auslösten. Europäische Hersteller nahmen die Wünsche des Publikums gern auf und gingen an die eigene Produktion - ähnlich dem Porzellan, das 1708 in Dresden neu erfunden wurde. Am 1. Mai 1634 beauftragte Karl I. von England den Papiertapetenhersteller Jerome Lanyer, "Tapeten mit aufgeklebtem Staub aus gefärbter Wolle herzustellen".

Tapeten geben etwas von der Persönlichkeit der Menschen preis

Erst die großtechnische Herstellung machte den Wandschmuck einigermaßen erschwinglich. Johann Christian Arnold gründete 1789 in Kassel eine solche Tapetendruckerei. Aus exotischen Überseewaren wurde ein Massengut, aus der handbemalten Kostbarkeit eine praktische Meterware, mit der sich Wohnungen in Windeseile neue Kleider zulegen konnten. Tapeten wurden regelrechte Modeartikel, Wohnungen häuteten sich mit den Vorlieben ihrer Bewohner - was man ab und an noch sieht, wenn nach dem Einzug ganze Lagen alter Papierbahnen zum Vorschein kommen - Zeichen vergangener Dekore.

Was aber steckt wirklich hinter der dünnen Schicht aus Papierfaser und Farbe? Wer hier nur Deko-Wahn und die Angst vor leeren Wänden vermutet, liegt falsch. 2013 brachte eine Studie des Deutschen Tapeten-Instituts etwas Licht in die Beweggründe der Tapezierer: Es geht um Selbstdarstellung. Tapeten spiegeln ihre Bewohner, doch ganz ernst sollte man die Psychologie der Stoffe nicht nehmen. Wikipedia etwa vermutet "einerseits ein Gefühl von Behaglichkeit und Wärme, andererseits einen Eindruck von der Persönlichkeit der Bewohner". Das ist nicht zu widerlegen, sagt aber nicht viel. Der Erfolg der Tapete in ihrer Standard-Rollenform von 47 Zentimetern Breite und 8,16 Metern Länge liegt wohl in ihrer leichten Handhabung. Mit der Wandbekleidung nähert sich die Wohnung einem Modeartikel, der schnell neu bespielt werden kann.

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Fashion an der Wand: Die Firma A.S. Création hat mit dem italienischen Modeunternehmen Versace eine Tapetenkollektion herausgebracht.

(Foto: A.S. Création/dpa)

Im Gegensatz zum einfachen Farbauftrag verwandelt eine Tapete die darunterliegenden Wandflächen viel dramatischer. Muster sind ein Statement. Sie verlangen aber auch Fingerspitzengefühl und nicht nur einen guten Blick beim Verlegen, sondern vor allem beim Entwurf. Nicht umsonst machten Kreative wie Raoul Dufy oder Sonia Delaunay-Terk sowie Bauhaus-Designer aus der einfachen Rollware kleine Kunstwerke. Die erste Bauhaus-Kollektion von 1930 leitete freilich den Schwenk ein zu Minimalmustern, zu feinen Nadelstreifen auf den Wänden. Das gerollte Bauhaus gab es in 14 Mustern mit bis zu 15 Farben - ein modulares Kunstwerk für die modulare Gesellschaft. Und ein ziemlich langer Weg von Gobelins, chinesischen Papiertapeten und Velourstapeten zu demokratischer Flachware.

Ja, die Tapete ist ein Modeartikel. Und als solcher kennt sie nicht nur Erfolge und Niederlagen, sondern auch vermeintliche oder echte Geschmacksverirrungen: psychedelische Farb- und Formexplosionen, Großkaros und wogende Wellenformen, die in den Achtzigerjahren Platz machten für weiße Wände, die nun ihrerseits zunehmend wieder Mustern und Rhythmen weichen. Das belegen Zahlen. Der Umsatz im Marktfeldsegment "Farben / Tapeten / Deko / Heimtex" liegt seit Jahren im Milliardenbereich, die Nachfrage nach Farben, Tapeten und Lacken wächst. Zahlen für 2016 zeigen eine Steigerung um 1,4 Prozent auf rund 4,5 Milliarden Euro (laut dem Institut für Handelsforschung Köln und BBE Handelsberatung).

Nicht geringen Anteil am Wiedererstarken der Tapete hatte wohl auch eine Zeitschrift, die bereits im Titel anzeigt, was Sache ist: Wallpaper. Sie war anfangs eine kleine Bibel für Einrichtungsfetischisten und war sich nicht zu schade, neue, aufregende Muster einer globalen Design-Community vorzustellen.

Viel hat sich also geändert, nur eines blieb gleich: Der Stoff, aus dem manche Gestaltungsträume sind, hat durchaus seine Tücken, wie zahlreiche Cartoons und Slapstick-Filme zeigen. Unvergessen, wie Knetschaf Shawn eine einfache Tapezieraktion in ein klebriges Chaos verwandelt. So haftet der Tapete bis heute trotz eigentlich einfacher Handhabung der Ruf von Spezialistentum an, von Frauen und Männern, die mit alten Jeans, Turnschuhen und faltbarem Tapetentisch anrücken, Kunststoffkübel, Kleister und Bürste ausbreiten, um dann Bahn für Bahn perfekt zu spalieren.

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