Süddeutsche Zeitung

Wohlbefinden:Fühl dich gedrückt

Bisher wurden sogenannte Gewichtsdecken nur für Therapien genutzt. Nun sollen sie auch Schlaflosen eine gute Nacht bescheren.

Von Julia Rothhaas

Die reißfeste Strumpfhose. Das elektrische Skateboard. Der Malaria-Test ohne Blutabnahme. Der eine Deckel für (fast) alle Kochtöpfe. Diese und 46 weitere Dinge erklärte das Time Magazine zu den besten Erfindungen des Jahres 2018. Darunter auch: die Gewichtsdecke. Die bis zu zwölf Kilogramm schwere Bettdecke verspricht eine störungsfreie Nacht und ist damit das neueste Gadget im Geschäft um den guten Schlaf. Nach Kopfmaske (Töne sollen die Hirnfrequenz nach unten dimmen), Lichttherapie-Brille (grünes Licht soll die innere Uhr des Körpers positiv beeinflussen) und "Glo to Sleep Therapy"-Maske (auf ein blaues Licht gucken, um runterzukommen) wird jetzt also die Gewichtsdecke zum Heilsbringer aller Schlaflosen erklärt.

Der sanfte, gleichmäßige Druck auf den Körper soll nachts beim Entspannen helfen

Neu ist die Erfindung allerdings nicht. Zum Einsatz kam sie bislang vor allem im Therapiebereich, etwa bei autistischen Kindern, Tourette-Patienten oder Soldaten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. Schon Ende der Neunzigerjahre testete die amerikanische Ärztin Tina Champagne die Wirksamkeit der Gewichtsdecke - auch Therapie- oder sensorische Decke genannt - an psychisch kranken Menschen. 2007 zog sie die Schlussfolgerung, dass Angstsymptome mithilfe solcher Decken reduziert werden könnten, weil ihre Patienten bei Panikattacken damit imstande waren, sich selbst wieder zu beruhigen.

Nun wird die Decke massentauglich - im grauen Kuschelbezug oder bedruckt mit Sternchen oder Schmetterlingen, für Erwachsene und Kinder. Ihr Gewicht bemisst sich an demjenigen, der unter ihr liegt. Im Optimalfall macht sie etwa zehn Prozent des Körpergewichts aus, schwerer sollte sie nicht sein. Kunststoffkügelchen oder winzige Glasperlen stecken dafür in ihren Kammern. Mit ihrem Gewicht löst sie nachts einen sanften, gleichmäßigen Druck auf den Körper aus, die Schwere soll wie bei einer Massage beim Entspannen helfen. "Der Tiefendruck vermittelt dem Gehirn das gleiche Signal, das bei einer liebevollen Umarmung entsteht", schreibt der deutsche Anbieter Therapiedecken.de. "Bei angemessenem Gewicht wird die Ausschüttung des Glückshormons Serotonin und des Schlafhormons Melatonin gefördert und gleichzeitig der Cortisolspiegel (sog. Stresshormon) gesenkt."

Wissenschaftliche Belege für diese Thesen fehlen jedoch. "Das Melatonin muss erst einmal auch im Gehirn ankommen", sagt Martin Keck, Direktor der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. "Das ist nicht automatisch gegeben, nur weil der Körper möglicherweise mehr Serotonin produziert." Die Studien, mit denen die Anbieter ihre Decken bewerben, hält er methodisch für nicht sehr aussagekräftig. "Dafür wären objektive Parameter aus dem Schlaflabor nötig, etwa wie oft sich ein Patient nachts bewegt und ob er überhaupt Tiefschlafphasen erreicht", sagt Martin Keck. Die Ergebnisse müsste man dann noch mit dem Schlaf unter einer normalen Decke vergleichen, um überhaupt verlässliche Aussagen treffen zu können.

Die objektiven Parameter dürften bei der Bewertung der Gewichtsdecken jedoch keine große Rolle spielen. Denn unter welchen Voraussetzungen jemand gut schläft, lässt sich nicht einfach auf andere übertragen. Vielmehr gilt, wie jemand das Schlafen unter so einer Decke empfindet. Während der eine an Zwangsjacken denkt und sich bedrängt fühlt, kann der Nächste vielleicht wirklich besser schlafen, weil er sich durch das Gewicht der Decke beschützt und umarmt fühlt. "Wirkt tröstlich", "schlafe wieder durch", "Gefühl der Geborgenheit": Die Bilanz der Bewertungen auf der Seite des Anbieters Therapiedecken.de ist da ziemlich eindeutig. Tatsächlich hat das Liegen unter so einer Decke etwas Beruhigendes, es erinnert an ein Ritual aus der Kindheit: Papa oder Mama setzen sich ans Bett und tuckern die Decke fest um einen. Gute Nacht war nie so einfach.

Vielleicht lässt es sich unter diesen Decken nachts auch schlichtweg schlechter zappeln, weil Arme und Beine unter ihrem Gewicht müde werden und der sich hin- und herwälzende Körper schneller Ruhe findet. Dass es einem zu heiß wird und man stundenlang gefangen bleibt im eigenen Saft, muss hingegen niemand befürchten. Die paar Kilos lassen sich auch im Halbschlaf locker zurückschlagen.

Bleibt der Preis. Ab 140 Euro bis knapp 300 Euro aufwärts: Eine solche Decke muss man sich leisten wollen. Davon lassen sich die Käufer allerdings nicht abhalten, der Werbetext "besser schlafen" klingt einfach zu verheißungsvoll. Dafür fühlt man sich nachts auch gern wie ein Salami-Sandwich.

Paradox: Unter der Gewichtsdecke soll sich die Welt ein Stück leichter anfühlen

Dass man mit Gewichtsdecken jenseits aller therapeutischen Zwecke gut Geld verdienen kann, erkannte auch das US-Unternehmen Gravity Blanket. Als sie ihre Idee im April 2017 auf die Finanzierungsplattform Kickstarter setzten, mit dem Ziel, 21 500 US-Dollar für die Produktion der ersten Decken zu sammeln, bekamen sie schon am ersten Tag das Siebenfache zusammen. Bis zum Ende des Projekts, einen Monat später, hatten sie über 4,7 Millionen Dollar gesammelt. Ein Grund für ihren Erfolg, da sind sich die Macher sicher: Donald Trump. Viele Menschen hätten nach seiner Wahl nach etwas gesucht, um sich wieder zu beruhigen. Unter der Gewichtsdecke soll sich die Welt also auch ein Stück leichter anfühlen. Bleibt die Frage: Wer hilft einem am nächsten Morgen wieder aus dem Bett?

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SZ vom 02.02.2019
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