Wintersport:Grandezza auf Kufen

Eislaufen war einst ein mondäner Spaß für winterfrische Touristen. Heute zelebrieren nur noch wenige Hotels die Kunst des formvollendeten Dahingleitens.

Von Max Scharnigg

Der Arm der Trainerin ist gebrochen. Ja, ist beim Eislaufen passiert, sagt sie zerknirscht. Das erste Mal, dass sie sich bei ihrem Sport überhaupt verletzt hat, und das, obwohl sie schon fast ihr ganzes Leben lang Schlittschuh läuft. Aber eine Stufe im Natureis beim Rückwärtsfahren auf dem See kann eben auch einer Profi-Eiskunstläuferin wie Diana Pedretti den Arm brechen, die bis vor einigen Jahren noch im Kader der Schweizer Nationalmannschaft stand. "Aber keine Sorge, hier oben ist das Eis sauber und schön glatt." Das merkt man beim ersten vorsichtigen Schritt auf den ehrwürdigen Eisplatz des Suvretta House in St. Moritz. Diese Fläche vor dem Hotel, groß wie zwei Tennisplätze, ist so etwas wie ein Gegenentwurf zu den Hip-Hop-beschallten Bratwurst-Eisflächen, die derzeit in vielen Städten vor dem Rathaus eingerichtet sind und auf denen man zu hundert im Kreis stolpert.

Hier im Park ist es still, von den Arven rieselt der Schnee. Jeden Morgen räumt ihn ein Hausdiener sorgfältig auf die Seite, so lange, bis ein perfektes Quadrat freiliegt. Selbst wenn man sich hier auf die Nase legt, hat man noch eine herrliche Aussicht, hinunter ins Tal und auf den Silvaplanersee, dessen Eis an diesem Tag unerreichbar unter dem Neuschnee versteckt ist. Aber für Panorama ist gar keine Zeit. "Nicht immer auf die Füße schauen, Oberkörper gerade, leicht in die Knie und dann mit den Füßen kleine Ballons vorwärts machen!", ruft Diana Pedretti und macht also, was sie hier jeden Winter mit den Gästen des Hotels macht: Grundlagen vermitteln. In einer Sportart, die jeder irgendwie ein bisschen kann, aber kaum jemand mal gelernt hat.

Bevor die Skifahrer den Wintersport für sich vereinnahmten, war Eislaufen der Gesellschaftssport schlechthin

Eislaufen ist wunderbar. Spaß macht es von Anfang an, danach aussehen tut es allerdings erst, wenn man es wirklich kann. So wie der Herr in Knickerbocker, mit Krawatte und flatterndem weißen Hemd, der rückwärts tänzelnd und auf einem Bein nur eine perfekt geometrische Spur im Eis hinterlässt - eine höchst vornehme Erscheinung. Leider gibt es ihn und seine Knickerbocker-Hosen nur noch im Kulturarchiv Oberengadin. Dort sind viele Filmaufnahmen, Fotos und Postkarten aus einer Zeit aufbewahrt, in der die Eisflächen vor den großen Hotels in St. Moritz und anderen Wintersportorten die Treffpunkte der mondänen Welt waren.

Man sieht Kellner, die in Frack und Schlittschuhen Champagner servieren, Pelzmantel-Publikum, das den Fahrern zujubelt, und Jugendstil-Plakate, auf denen Eis-Soireen angekündigt werden. Live-Bands spielten für die Schlittschuhläufer, von den Balkonen der Hotels hatte man die beste Aussicht auf das illustre Treiben. Lange bevor die Skifahrer den Wintersport für sich vereinnahmten, war das Eislaufen der Gesellschaftssport schlechthin. Schon am russischen Zarenhof und bei barocken Prunkfesten spielte sich vieles auf Eis und Kufen ab. "Legt Schlittschuhe an und lasst uns zusammen fahren!", lässt Tolstoi seine Kitty zum verliebten Llewin sagen - und damit in "Anna Karenina" den Auftakt zu einer der schönsten Szenen der Weltliteratur machen.

In England gab es schon im 19. Jahrhundert Eislaufvereine, die Briten definierten lange, wie man sich kunstsinnig auf dem Eis zu bewegen hat. Als sie zur vorletzten Jahrhundertwende die Alpen quasi im Alleingang gentrifizierten, wurden auch dort zunächst die Eisflächen zu ihren Spielplätzen. Sie initiierten Wettbewerbe und legten Schritt- und Figurfolgen fest, die in den Jahrbüchern minutiös nachzulesen sind. Zeit zum Üben gab es genug, schließlich dauerte eine Winterfrische damals gerne mal mehrere Monate. Erfolgreiche Eistänzer gastierten die ganze Saison in den Orten und traten zu regelmäßigen Zeiten öffentlich auf die Hoteleisflächen - als Attraktion für die Zuschauer und als Training für sich selbst. Zur unbestrittenen Königin wurde dabei Sonja Henie, die Norwegerin, die immer noch die erfolgreichste Eiskunstläuferin der Geschichte ist und mit ihrer kessen Art, kurzem Rock und weißen Schlittschuhen den Stil der Sportart entscheidend prägte. In St. Moritz wurde Henie 1928 zum ersten Mal Olympiasiegerin - und blieb dem Ort bei vielen Auftritten und Schaulaufen treu.

Diana Pedretti nennt sie heute noch als Vorbild, genau wie die Zeit, in der Henie fuhr: "Damals war Eistanz noch viel poetischer und ausgewogener, es ging um den Gesamteindruck. Heute ist der Sport sehr technisch und punktorientiert, man hakt als Fahrerin nur ein starres Programm ab." Auf Eisbahnen vor Grandhotels trainiert man natürlich auch nicht mehr. In der Blütephase des Eiskunstlaufs hatten allein in St. Moritz 18 große Häuser Eisflächen zu bieten. Heute sind es noch drei. Noch weniger leisten sich den Luxus einer eigenen Trainerin, aber im Suvretta House mit seiner britischen Sporttradition gehört das noch dazu. Die 27-jährige Diana Pedretti erklärt gerade das Bremsen. "Viele Menschen denken, man müsse irgendwie mit der Spitze bremsen." Die Spitzen der Kufen sind aber vorrangig bei Pirouetten und Figuren im Einsatz, der Bremsvorgang für Anfänger sieht eher aus wie ein Schneepflug mit X-Beinen, die Kufen sollen leicht nach außen drücken und dem Rutschen ein Ende setzen. Schwierig, dabei nicht zu verkanten. "Beim Eislaufen hat man aber eigentlich schnell Erfolgserlebnisse, schon am nächsten Tag sind meine Gäste viel sicherer, nach einer Woche hat man die Grundlagen drauf."

Besonders für die russischen Gäste ist das Eislaufen noch ein fester Bestandteil im Winterurlaub, auch Niederländer und Skandinavier machen gemeinhin noch eine ordentliche Figur auf dem Eis, erzählt Pedretti. "Nur bei Australiern und Brasilianern muss ich ganz von vorne anfangen, die kennen das nicht, eine Eisfläche vor dem Haus." Ihre treuesten Kunden sind aber ohnehin die Kinder der Suvretta-Gäste, die nach dem Skifahren auf den Eislaufplatz kommen, während die Eltern lieber aus dem 37 Grad warmen Außenpool zusehen. "Kinder haben einfach Lust auf Bewegung und fürchten sich nicht vor dem Hinfallen, das sieht bei den Erwachsenen meist ganz anders aus", so die Beobachtung der Trainerin. Trotzdem komme das genussvolle Eislaufen wieder zunehmend in Mode, das merke sie sowohl hier am Eislaufplatz wie auch unten an den Seen. "Schon allein, weil heute oft der Schnee fehlt, suchen viele eine Alternative zum Skifahren. Und das Eislaufen bedient die Sehnsucht nach unkomplizierter Bewegung in der Natur." Ein paar Kilometer weiter, am legendären Kulm-Hotel, wird deshalb auch gerade der Eispavillon renoviert, der seit 1905 pittoreske Anlaufstelle für die Schlittschuhläufer im Kulm-Park war. Stararchitekt Sir Norman Foster nahm sich des Kleinods aus der Belle Époque an, zur Skiweltmeisterschaft in St. Moritz im Februar soll der Pavillon wiedereröffnet werden - natürlich mit Schlittschuhverleih im Erdgeschoss.

Wo sonst macht man tanzend Strecke? Dafür muss aber die Haltung stimmen

Bei aller Grandezza ist das Eislaufen sicher eines der billigsten Vergnügen, das man in Wintersportorten haben kann. Viel mehr als ein Paar passender Schlittschuhe braucht es nicht, und selbst die sehen fast so aus wie vor hundert Jahren, nur das Leder ist heute steifer und gibt dem Fuß mehr Halt. Von ständigen Technik-Updates und grellen Neuerungen ist das Schlittschuhlaufen dankenswerterweise verschont geblieben, man kann es (gemächlich) bis ins hohe Alter betreiben und dabei bella figura machen, denn auf Funktionskleidung kann der geübte Fahrer bei ein paar Runden verzichten. Es ist ein Familiensport und wohl auch deshalb konnten beliebte Plätze wie etwa die große Eisfläche mitten in Davos oder der Eisweg in Interlaken in den letzten Jahren Besucherrekorde vermelden.

Ob auf so einem neuartigen Eisweg, dem gefrorenen Weiher oder dem Traditionseis vor dem Hotel: In Sachen Eleganz sticht der versierte Eisläufer jede andere Art der Fortbewegung im Winter. Wo sonst macht man tanzend Strecke? Dafür aber muss vor allem die Haltung stimmen, mahnt Diana Pedretti zum Abschluss. "Das Wichtigste ist ein gerader Oberkörper, Arme oben lassen, dann sieht das gleich nach was aus. Man merkt es beim Muskelkater in den Armen und im Rücken." Stimmt, nach einer Stunde Grundlagentraining tut alles weh. Es schmerzt auch, die Ästhetik der Eisfahrt mit dem Wort Fitness zu verbinden. Aber eine Stunde Eislaufen ersetzt durchaus ein Work-out und trainiert ähnlich wie Ballett den ganzen Körper. Außerdem ist es die einzige Sportart, bei der man viel rückwärts unterwegs ist und so die Koordinationsfähigkeit besonders trainiert. Nur vor tückischen Stufen im Eis bewahrt einen das leider nicht.

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