Werbe-Videos:Die Rührseligen

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Weihnachtsclips sind keine Erfindung von Edeka. Bei der Kombination aus Tradition und Kitsch haben die Engländer die Nase vorn.

Von Jenny Hoch

Weihnachten kommt ja alle Jahre wieder völlig überraschend. Dass es so weit ist, merkt der moderne Internetmensch daran, dass in den sozialen Netzwerken auf einmal alle diese Filmchen posten. Leute, die man eigentlich für zurechnungsfähig gehalten hatte, schicken tatsächlich Werbespots herum, und wenn es ganz dick kommt, haben sie auch noch Kommentare wie "schnüff . . ." oder "zum Heulen schön" druntergeschrieben. Man klickt das Zeug also an, denn irgendwas muss ja dran sein - und schon hat man die Bescherung: sitzt in Tränen aufgelöst am Arbeitsplatz.

Wer jetzt peinlich berührt am Taschentuch nestelt und vor den Kollegen so tut, als müsse er sich ganz normal die Nase schnäuzen, dem sei gesagt: ist schon okay. Heulen ist jetzt Trend. Schon seit einigen Jahren überbieten sich die Unternehmen gegenseitig damit, zu Weihnachten besonders gefühlige Werbeclips auf ihre potenziellen Kunden loszulassen - und die potenziellen Kunden kontern diesen Angriff, indem sie sich lustvoll ihren Tränen hingeben. Und sie sogar mit anderen teilen, virtuell und in echt. In dieser Saison ist der Höhepunkt der Emotions-Offensive erreicht. Zumindest gefühlt.

Da man Werbung sowieso nicht entkommt, ist gut gemachte allemal besser als langweilige

Otto, Telekom, Coca-Cola, Rewe, Toys'R'us, Macy's, Sainsbury, Burberry, John Lewis - sie alle haben 2015 ihren eigenen "Christmas Advert", ihre eigene Weihnachtswerbung, im Netz. Alle super gut gemacht, alle aufwendig und teuer in Szene gesetzt und mit emotionalen Botschaften versehen. Die Engländer können das besonders gut. Die Kaufhauskette John Lewis etwa hat in Sachen Weihnachtswerbung längst Kultstatus - und ist dadurch auch außerhalb Großbritanniens im Gespräch. Die Spots werden stets mit einem hitverdächtigen Song untermalt - in diesem Jahr ist es "Half The World Away" von Oasis, gesungen von der Norwegerin Aurora - und erzählen jedes Mal eine andere anrührende Story. Diesmal beobachtet ein kleines Mädchen durch ein Teleskop den Mann im Mond, einen einsamen alten Greis. Sie versucht lange vergeblich, ihm ein Geschenk raufzuschicken, ein Zeichen, dass jemand an ihn denkt - bis es pünktlich zu Heiligabend doch gelingt.

Ein rührender Junge, ein einsamer Pinguin und ein Song mit dem Refrain "It's real love, it's real": Der großartige Clip "Monty The Penguin" von 2014. (Foto: lewis/youtube)

Den Vogel aber - oder, um im Bild zu bleiben, die Weihnachtsgans - hat in dieser Saison die deutsche Supermarktkette Edeka mit ihrem Spot "#heimkommen" abgeschossen. Die Geschichte ist simpel: Opa muss Weihnachten immer alleine feiern, weil seine Kinder in alle Welt verstreut und super busy sind. Also schickt er ihnen eine fingierte Todesanzeige - und schon kommen sie in Tränen aufgelöst herbeigeeilt. Happy End am reich gedeckten Tisch. Das ist ziemlich untypisch für normale Werbung, noch dazu für so etwas Profanes wie einen Supermarkt. Nicht nur, weil die typischen Produkte der Handelskette gar nur nicht wirklich gezeigt werden, sondern auch, weil der Spot auf raffinierte Weise jene Betrachter anspricht, die selbst zu wenig Zeit für ihre nächsten Verwandten haben.

Der Überraschungseffekt ist also mindestens so groß wie das Bedürfnis, diesen rührenden Großvater gleich mit seinen Netzwerkfreunden zu teilen. Wie alle viralen Phänomene ruft aber auch der Edeka-Spot schon wieder eine ironische Anti-Haltung und reichlich Spott hervor: Die Entertainer Joko und Klaas haben gemeinsam mit dem Musiker Olli Schulz die rührselige Geschichte radikal umgeschrieben - Opa (gespielt vom Berliner Friseur Udo Walz) nervt einfach nur mit seiner Fake-Beerdigung und wird am Ende tatsächlich gewaltsam aus dem Weg geräumt. Seine Enkel lassen sich den Festschmaus schmecken: Der Alte hat's ja nicht anders verdient. Und Edeka kann sich ebenfalls freuen: Wer Anlass für so gekonnte Parodien gibt, hat alles richtig gemacht.

Das Spiel mit den Gefühlen mag zwiespältig sein, manchmal auch nahe am Kitsch, aber es funktioniert erstaunlich oft. Aber warum öffnen die Zuschauer diesen Emo-Filmen so bereitwillig ihre Herzen und scheinen es gar nicht peinlich zu finden, wegen einer gottverdammten Werbung zu heulen? Das war früher anders. Da wetterte man noch pflichtschuldig gegen das "Konsumfest Weihnachten" und hätte jeden Clip, der einen dazu bewegen wollte, die Trottelei mitzumachen, aber so was von in die Tonne getreten.

Heute animiert der weihnachtliche Konsumrausch nur noch ein paar Unverbesserliche zu einer mürrisch vorgetragenen Anti-Haltung. Der Rest stürzt sich jauchzend und frohlockend ins Getümmel der Shoppingmalls, von wo man regelmäßig mit Emojis dekorierte Selfies absetzt. Überhaupt scheinen alle in eine Art Softie-Modus zu schalten: Kritische Geister hängen im Advent auf einmal Mistelsträuße an ihre Wohnungstüren, Kinderlose besprühen die Fenster mit Schlitten- und Schneemannmotiven. Selbst Minimalisten verzieren ihre Designertische mit Tannenkränzen, Laubsägearbeiten aus dem Erzgebirge und anderem handgearbeiteten Klimbim. Motto: Wir fühlen weihnachtlich - und wir zeigen es. Zehnerjahre-Eskapismus mit jahreszeitlicher Legitimation.

Der Weihnachtswerbespot ist dabei der kleinste gemeinsame Nenner. Nur einen Klick weit weg verspricht er im durchgetakteten Alltag ein wenig Besinnlichkeit. Dass der Absender ein Konzern ist und der Sinn des Filmchens darin liegt, den Umsatz zu steigern - geschenkt. Es wäre auch naiv, ernsthaft zu glauben, man sei nicht sowieso von Produkten, Labels und Marketing-Strategien umzingelt. Warum sie also nicht willkommen heißen und das Gute abschöpfen, als sich bei dem ohnehin vergeblichen Versuch abzustrampeln, sich ihnen zu verweigern? Es gibt Leute, die nennen das Medienkompetenz.

In diesem Zusammenhang ist ein Essayband interessant, der gerade als das Buch der Stunde bejubelt wird. Es heißt "Die Empathie-Tests" (Hanser Berlin, 21,90 Euro) und erkundet moderne Gefühlswelten - ohne die Nase über Kitsch und Sentimentalität zu rümpfen. Geschrieben hat es eine kluge, junge Amerikanerin, Leslie Jamison, die von Coolness und Ironie nichts mehr wissen will, sondern für eine neue Kultur der Empfindsamkeit eintritt.

Die Tore dafür stehen an Weihnachten so weit offen wie nie. Das ganze Jahr hindurch wird sich zusammengerissen und durchgeschuftet, aber einmal im Jahr, im Dezember, reicht es damit auch mal. Dann kommen all diese klebrigen Gefühle zum Vorschein, die sonst in den Keller verbannt werden: Rührseligkeit, Sentimentalität, Ergriffenheit.

Spätestens am 1. Januar ist der Spuk vorbei. Dann kriechen alle verkatert aus den Betten und nehmen Haltung an. Aus den Kitschtanten und Kitschonkels der Feiertage werden wieder kühl kalkulierende Gefühlsverächter.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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