Süddeutsche Zeitung

Essen und Trinken:Nordlicht im Glas

Der Klimawandel lässt sich auch schmecken: In Norwegen ist es erstmals gelungen, Riesling zu keltern. Dagegen ist in Spanien, dem flächenmäßig größten Weinbauland der Welt, der Anteil der Rebflächen gesunken.

Von Verena Haart Gaspar

Ein milder Maitag, leicht bewölkt, 20 Grad. "Ideales Weintrinkwetter", sagt Klaus Peter Keller und lacht. Der Winzer und seine Frau Julia aus Flörsheim-Dalsheim in Rheinhessen haben zur Jahrgangsverkostung ihrer 2018er-Weine geladen. "Keller Open" heißt das Event. Im Innenhof des Weinguts drängen sich die Menschen, das Weinglas fest im Griff. 25 Weine können die Gäste verkosten: vom günstigen Weißburgunder bis zum Großen Gewächs wie dem Hubacker Riesling.

Klaus Peter Keller, 45 Jahre alt, graues Polohemd und dunkle Jeans, sieht sich zufrieden um. 2018 war ein großartiges Jahr. Während die Ernte vieler Landwirte durch Hitze und Trockenheit litt, fuhren die Weinbauern in Deutschland gute Erträge ein. In der Presse ist sogar schon von einem Jahrhundertjahrgang die Rede.

Mit Superlativen hält sich Klaus Peter Keller, den Freunde KP nennen, zurück. Das erledigen andere für ihn. Er zählt zu den besten deutschen Winzern. Auf Instagram folgen ihm über 17 000 Menschen. Keller lieferte nicht nur den Wein zum 60. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II., sondern auch zur Geburt von Prinz George und Prinzessin Charlotte. Aufsehen erregt stets sein Spitzenwein "G-Max" (eine Zusammensetzung aus den Namen von Kellers Urgroßvater Georg und seinem jüngsten Sohn Max), der auf Auktionen Preise von bis zu 3000 Euro pro Flasche erreicht.

Doch seinen wohl außergewöhnlichsten Wein versteckt Klaus Peter Keller in einem dunklen Raum etwas abseits vom Trubel der Verkostung. Zwischen Tanks und Barriques holt er eine kleine Glaskorbflasche hervor. Darauf steht in Handschrift: "Norwegen, Riesling (Hobby)". Keller gießt einen winzigen Schluck aus der Flasche ins Glas und sagt: "Wahnsinn, oder? Aber irgendwie auch erschreckend."

Der Klimawandel, er ist nicht nur zu spüren, er lässt sich auch schmecken; in Form des ersten Rieslingweins aus Norwegen. Gewachsen, gereift und gelesen im hohen Norden, am 58. Breitengrad in Kristiansand, oder wie Keller es nennt: "Der flüssige Beweis für den Klimawandel." Ein guter Wein transportiert ja nicht nur seine Herkunft, den Boden, auf dem er gewachsen ist, den Regen, die Wärme und das Geschick des Winzers. Ein guter Wein ist Zeitzeuge. Und das, was Klaus Peter Keller nun im Glas hat, erzählt nicht nur eine mehr als zehnjährige Geschichte, es weist auch in die Zukunft des europäischen Weinbaus.

Angefangen hat alles mit der Norwegerin Anne Enggrav, die 2008 als Praktikantin ins Weingut Keller kam. Die Arbeit und das Leben als Winzerin gefielen ihr so gut, dass sie begann, vom eigenen Weinberg in ihrer Heimat zu träumen. Je länger die Idee reifte, desto besser gefiel sie auch Klaus Peter Keller. Die Granitböden in Anne Enggravs Heimatort Kristiansand sind ideal, die klimatischen Bedingungen vielversprechend. Wenig später flog sie mit drei Mitarbeitern von Keller und 130 Jungreben im Gepäck, 100 Riesling und 30 Frühburgunder, zurück nach Norwegen. Im Garten ihrer Eltern legte sie einen Weinberg an, schützte ihn mit einer Mauer vor dem rauen Wind von der nahen Nordsee und wartete. In 20 bis 30 Jahren würden vielleicht ihre Kinder reife Trauben Ernten können, so lautete die Prognose. Doch es sollte schneller gehen als gedacht. Viel schneller.

Wenn Anne Enggrav vom 13. Oktober 2018 erzählt, klingt sie, als ob sie selbst noch immer nicht glauben könnte, was passiert ist. "Ich hätte nie gedacht, dass es möglich ist", sagt die 42-Jährige immer wieder. Beinahe wäre es im Herbst 2018 auch schiefgegangen. Wenige Tage vor der Lese tobte ein Sturm über der Nordseeküste. Der Wind deckte Dächer ab und pustete Meerwasser in den Garten. Nun musste alles ganz schnell gehen. Das Refraktometer, das den Zuckergehalt in den Trauben misst, zeigte 76° Öchsle an. Kabinettweine brauchen mindestens 73° Öchsle. Anne rief bei Klaus Peter Keller in Flörsheim-Dalsheim an. Wenig später saß der Winzer mit seiner Familie im Auto und machte sich auf den mehr als 1200 Kilometer langen Weg nach Norwegen.

Reife Rieslingtrauben in Norwegen sind in etwa so ungewöhnlich wie Ananas am Rhein. Diese Rebsorte wächst eigentlich in Rheinhessen und an der Mosel oder wird in Adelaide in Australien angebaut. Durchschnittlich 1600 Sonnenstunden benötigt die Rebe pro Jahr und eine Durchschnittstemperatur von mindestens 15 Grad Celsius während der Vegetationsphase. In Norwegen aber schneit es mitunter noch am 17. Mai, dem Nationalfeiertag. Dass hier nun erstmals reife Rieslingtrauben geerntet wurden: eine Sensation.

Eine der führenden Weinjournalistinnen des Landes filmte die Lese. Auf den Bildern ist zu sehen, wie Anne Enggrav und Klaus Peter Keller die grün-gelben Beeren vom Stock lesen. Mit einer kleinen Korbpresse keltern sie die Trauben von Hand. Nur wenige Liter ringen sie dem Weinberg ab. Am Ende des Films probieren beide von dem frisch gekelterten Most, und Keller bilanziert: "So unreal!"

Was vor zehn Jahren unwahrscheinlich schien, ist heute Realität. Hans Reiner Schultz, Präsident der Hochschule Geisenheim, überraschte das norwegische Rieslingwunder daher nicht. Der 60-Jährige erforscht seit Jahren den Einfluss des Klimawandels auf den Weinbau. Am Telefon erklärt er: "Die Vegetationsperiode zwischen April und Oktober 2018 war mit Abstand die wärmste seit 1884", sagt Schultz, "die Durchschnittstemperatur lag in dieser Zeit bei 18 Grad. Das war absolut außergewöhnlich. Und dieser Temperaturdurchschnitt entspricht exakt unseren früheren Prognosen für das Jahr 2050."

Die Zukunft hat begonnen. Das bedeute zwar nicht, dass es nun jedes Jahr so heiß wird, meint Schultz, vielmehr sieht er das Jahr 2018 als Vorboten. Die Folgen des Klimawandels sind vielschichtig. Temperatur, extremere Wetterlagen, erhöhte Kohlendioxidkonzentration in der Luft, Änderungen der Nährstoffzusammensetzung im Boden: All das verändert die Anbaubedingungen und damit das Produkt. Die Risiken für den Weinbau werden größer, doch mit ihnen steigen auch die Chancen.

Winzer sind die Chronisten und Futuristen unter den Landwirten. Alte Weinbaukarten zeigen, dass im 13. und 14. Jahrhundert auch in England, Polen und Schleswig-Holstein Wein angebaut wurde. Doch dann brach die sogenannte kleine Eiszeit über Europa herein. Die Weinanbaugebiete verlagerten sich wieder weiter nach Süden. Als Hinweis, dass sich das Klima verändert, braucht es nicht unbedingt wissenschaftliche Abhandlungen, Diagramme und Daten. Wein ist hier ein guter Indikator und nicht zuletzt ein guter Kommunikator.

Die Mehrheit der deutschen Winzer wie Klaus Peter Keller in Rheinhessen profitiert bislang noch von den sich verändernden klimatischen Bedingungen. Seit Ende der 80er-Jahre hatten sie so gut wie keine schlechten Jahrgänge mehr. Besonders der Riesling, der in den 60er- und 70er-Jahren oft nicht richtig ausreifte, gehört zu den Gewinnerweinen einer neuen Zeit. Hitze und Trockenheit verkraften die Reben besser als andere Pflanzen. Ihre Wurzeln ragen metertief ins Erdreich hinein und können sich somit auch bei Dürre noch mit Wasser versorgen. Tonhaltige Böden wie in den Weinbergen in Rheinhessen speichern darüber hinaus die Feuchtigkeit.

In extrem heißen Jahren wie 2018 verzichtet Klaus Peter Keller fast komplett auf den Laubschnitt der Reben. So schützen und beschatten die Blätter die Trauben wie ein Sonnensegel. "Klimawandel heißt für uns nicht, dass es nur wärmer, sondern extremer wird", sagt der Winzer. Die Angst vor Frost im April und Mai ist größer geworden. Temperaturen knapp unter null können die Blüten, die zum Teil schon im März beginnen auszutreiben, in nur einer Nacht zunichtemachen. Auch die Gefahr von Unwettern mit Hagel nimmt zu. 2019 blieben die Weinberge der Kellers bislang verschont, doch 2018 zerstörten tischtennisgroße Hagelkörner die Trauben in den Spitzenlagen Morstein und AbtsE.

Nicht nur Temperaturen, Niederschläge und Wetterextreme haben Einfluss auf den Weinbau. Auch die erhöhte CO₂-Konzentration in der Luft spielt eine Rolle. Die Hochschule Geisenheim hat daher ein ungewöhnliches Forschungsprojekt gestartet: FACE, das steht für "Free Air Carbon Dioxide Enrichment". Kreisförmige Anlagen, die über einem Weinberg mit Riesling und Cabernet-Sauvignon-Reben installiert sind, simulieren die CO₂-Konzentration in der Luft, die man für 2050 erwartet: 20 Prozent mehr als heute. Das hat Auswirkungen auf die Reben und ihre Schädlinge. Die Larven des Traubenwicklers, die Rebblüten und Trauben befallen, werden in dieser Umgebung bis zu 25 Prozent größer. "Was sich noch alles verändert, können wir Forscher derzeit noch gar nicht absehen", sagt Weinbauexperte Schultz, "das Ökosystem versucht, sich anzupassen."

Die Weltkarte des Weins verschiebt sich. Traditionelle Rebflächen verschwinden, neue kommen hinzu. Spanien, flächenmäßig das größte Weinbauland der Welt, hat allein von 2016 auf 2017 gut 8 Prozent seiner Rebflächen aufgegeben. Auch in Weinbaunationen wie Italien und Frankreich gehen die Anbauflächen zurück. Diese Entwicklung ist zwar nicht allein dem Klimawandel geschuldet, doch immer heißere Temperaturen machen den Trauben in Südeuropa zu schaffen.

Goldgräberstimmung herrscht indes in Südengland. Dort kauft das Champagnerhaus Taittinger Wiesen und Weiden auf. Die Anbaufläche ist im Vereinigten Königreich inzwischen auf 3578 Hektar gewachsen, das sind 83 Prozent mehr als 2015. Sogar die Queen ließ im Garten von Windsor Castle Reben anpflanzen. Englischer Sekt ist keine exotische Spielerei mehr, sondern eine echte Konkurrenz zum Champagner. Zwar nicht quantitativ, aber qualitativ.

Und wie schmeckt nun der Riesling aus Norwegen? Kräutrige Nase, schlank und sehr säurebetont. Nicht unbedingt konkurrenzfähig, allein wegen der geringen Mengen, aber ganz sicher ein großer Wein. "Wake-up-Riesling" nennt Klaus Peter Keller ihn. Ein paar Flaschen davon möchte er auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos als "Liquid Proof of Climate Change" präsentieren. Erst im Januar gab es am Rande des Weltwirtschaftsforums bei einem exklusiven, privaten Abendessen den "Wiedervereinigungswein" vom Weingut Keller zu verkosten. Ein Rheinhessischer Riesling Jahrgang 1990. Den hatte Bundeskanzler Helmut Kohl damals als Geschenk für Staats- und Regierungschefs wie Margaret Thatcher, Michail Gorbatschow, George Bush und François Mitterrand bestellt, bei Klaus Peter Kellers Eltern.

"Mit dem norwegischen Riesling können wir Politiker und Wirtschaftslenker hoffentlich wieder erreichen und diesmal für den Klimawandel sensibilisieren", sagt Keller, "die Natur ist der Boss, nicht nur für uns Winzer. Es wird Zeit, dass wir endlich auf sie hören."

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SZ vom 29.06.2019/mkoh
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