Gastronomie:Warum es eine Qual ist, sich im Restaurant einen Tisch zu teilen

Turkey Istanbul people in outdoor restaurant on Ibni Kemal Caddesi road PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUT

Mit vielen Leuten einen Tisch zu teilen kann schön sein, muss es aber nicht.

(Foto: imago/Westend61)

Mit Fremden an einem Tisch dinieren gilt als das neue Community-Gefühl. Doch seinen Gäste soziale Animation einfach vorzuschreiben, kann mitunter richtig nervig sein.

Von Maximilian Scharnigg

Schauplatz der folgenden Ereignisse war eines jener Restaurants, bei denen man sich am Quartalsanfang um sieben Uhr morgens in die Warteschleife hängen muss, um in den kommenden drei Monaten vielleicht einen Tisch zu bekommen. Ein Restaurant, das einem gleichermaßen oft in Food-Magazinen begegnet wie in Interieur-Zeitschriften. Jung, wild, New Nordic! Kurzum, es war ein Abend, auf den man sich lange gefreut, sogar eine ganze Reise dafür angestrengt hatte, und dann das: "Wir haben für Sie zwei Plätze an unserem Community Table!", jubilierte die Rezeptionistin mit einem Gesichtsausdruck, als hätte man die Weihnachtstombola geknackt.

Es handle sich dabei um das Herzstück des Restaurants, erfuhr man noch, und ja, es war ein eindrucksvoller Eichentisch, kreisrund. Platz für zehn Personen. Community. Bedeutete aber auch, statt seiner Begleitung über Fangschreckenkrebse hinweg in die Augen zu blicken, hatte man sie nun links neben sich, ganz so, als würde man gemeinsam fernsehen. Das Programm auf der anderen Tischseite zeigte: ein älteres einheimisches Paar, das von diesem Seating auch überrascht wurde, dies aber als Teil der neuen Gastrokultur hinnahm. Ebenfalls pünktlich am Tisch: drei Herren mit Manschettenhemden, die offenbar geschäftlich miteinander zu tun hatten. Und ein junges Paar, das mit großen Augen auf zwei und drei Uhr Platz nahm. Hilfe, ich reservierte eine Familie!

Beim Essen neuen Menschen begegnen, Party im Sitzen!

Der Community Table ist keine Erfindung dieses an Erfindungen nicht eben armen Restaurants. In diversen Formen erfreut er sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit in der gehobenen Gastronomie. Als raumbestimmendes Element wie bei Kevin Fehlings "The Table" in Hamburg. Als skandinavischer Gemeinschaftsverstärker im neuen "Noma". Oder als Symbol für den direkten und präzisen Dialog mit der Küche, wie etwa bei "Chef's Table at Brooklyn Fare", einem der derzeit besten Restaurants der Welt. An diesen hochkarätigen Orten ist der große Tisch, die umlaufende Theke oder die sonst wie geteilte Essfläche aber meist so inszeniert, dass ein kleiner privater Luftraum gewahrt bleibt und halbwegs klar ist, wen der Gast adressiert, wenn er das Glas hebt.

Andere Restaurants verklären den Gemeinschaftstisch zum ungezügelten Event-Ort: beim Essen andere Menschen kennenlernen, die Mahlzeit als verbindendes Element erleben! Party im Sitzen! Das reicht vielen als junges Gastrokonzept.

Small Talk am Eichentisch: "Waren Sie mal in München?" - "Leider nein."

Dazu möchte man anmerken: Derlei mag in anderen Kulturen funktionieren, es ist aber zu bezweifeln, ob der Westeuropäer vorrangig auf Völkerverständigung aus ist, wenn er mit der Liebe seines Lebens oder wenigstens dem Date des Abends ins Restaurant geht. Wenn man sich für ein Restaurant statt für eine Bierschwemme entscheidet, ging man bisher einen unausgesprochenen Handel ein: mehr Gewese und Öffentlichkeit als in der heimischen Wohnküche. Aber noch genug Intimsphäre, um notfalls den ganzen Wolfsbarsch in der Serviette verschwinden zu lassen oder über die anderen Gäste lästern zu können. Jetzt überall mit Fremden beim Essen heiter zwangsvermengt zu werden, ist vor allem eine Drehbuchänderung, der Abend läuft ganz anders als geplant. Soziale Akquise statt Entspannung - oder eben krampfhafte Grenzsicherung statt erhofften Binnenstaatsgefühls.

Am kreisrunden Eichentisch an besagtem Abend schaltete die Zufallsbesatzung notgedrungen auf Small Talk, es war wie in einer Selbsthilfegruppe für Gourmets. "Hallo, ich bin Max, ich habe drei Monate gewartet, um hier einen Platz zu bekommen und freue mich auf die fermentierte Schwertmuschel." Man tauschte reihum Wetterberichte und Nettigkeiten der Kategorie "Nein, ich war noch nicht in Antwerpen. Waren Sie mal in München?" - "Leider nein." Etwa zur Mitte des unerwartet strapaziösen 18-Gänge-Menüs stellte sich zudem heraus, dass das junge Paar auf drei Uhr eigentlich zum Zwecke seiner Verlobung gekommen war. Auf diese bestürzende Nachricht folgte unbeholfenes Gratulieren in drei verschiedenen Sprachen, gespieltes Romantik-Seufzen der übrigen Damen, sowie ein etwa einstündiger Versuch aller, sich irgendwie aufzulösen. Kurz, das Essen war hervorragend, ging aber vor lauter Community-Quälerei irgendwie unter.

Es steht außer Zweifel, dass an so einem Spezialtisch die erquicklichsten Zufallsbekanntschaften möglich sind, und natürlich argumentieren die Restaurants mit Erfolgsgeschichten, bei denen aus einem Restaurantbesuch ganz unerwartet eine gelungene Tischparty wurde und aus Fremden Freunde fürs Leben. Auch dürften Alleinspeisende dankbar für derlei Familienanschluss sein. Aber seinen Gäste soziale Animation einfach vorzuschreiben, ist schon fragwürdig. Und ohne Hinweis bei der Reservierung sowieso eine Frechheit.

Aber nicht nur, was die Möbel angeht, wird derzeit in Restaurants viel geteilt. Noch häufiger begegnen dem auswärts Essenden die "Shared Dishes": Gerichte, von denen alle am Tisch essen, nein, probieren sollen. Gerade akute Trendküchen wie die koreanische oder levantinische versuchen damit, eine authentische Form der Essensaufnahme zu übermitteln. Mantra: viele kleine Gerichte für die Tischrunde, sodass jeder mal alles kosten kann.

Das klingt immer sehr nett, und höchstens ein ausgemachter Menschenfeind protestiert, wenn der Kellner der Tischrunde Derartiges vorschlägt. Aber wer will, nüchtern gefragt, eigentlich unbedingt alles von allen kosten? War nicht ein Versprechen des Restaurantessens (und des Erwachsenseins), dass jeder eben das wählt, worauf er Lust hat? Schon die Bestellung dieser Shared Dishes zeigt, wie kompliziert die Sache auf einmal ist. Denn dabei hat plötzlich jeder aus der Clique ein Vetorecht, und am Ende wird eben nicht "alles" bestellt, sondern immer nur eine Kompromissauswahl. Wenn die anderen am Tisch keinen "crispy octopus" wollen oder diverse Ernährungsleitlinien zu befolgen sind, hat man am Ende des Bestellvorgangs vielleicht etwas über Diplomatie gelernt, aber vermutlich nicht das vor sich, worauf man sich im Restaurant freut: einen ganzen, großen Teller Lieblingsessen nur für sich. Stattdessen lässt man nun verkrampft in jeder Schüssel Anstandsreste zurück. Denn natürlich wollen auf einmal alle den crispy octopus, und es entbrennt ein stiller Tischkampf um die letzten begehrten Stücke.

Noch nie konnten Wirte auch Kleinstportionen derart auspreisen

Aus der eigentlich schönen Idee, gemeinsam zu essen, wird ein missgünstiges Kontrollieren und Herumgabeln, das im schlimmsten Fall später zum offenen Disput beim Bezahlen führt. Sicher, wenn man in eine apulische Masseria oder bei einer südchinesischen Familie eingeladen ist und mit großer Runde einen Haufen Schüsseln und Tellerinhalte teilt, kann das eine überwältigende und im wahrsten Sinne umwerfende Essenserfahrung sein. Aber in einem Restaurant, wo man jede Soße und jedes Stück Brot extra bestellen muss, war das alte "Ein Mensch und sein Tellergericht"-System gar nicht so übel.

Keine Frage, die allgegenwärtige Shared-Dish-Kultur ist ein Segen für Menschen, die in Restaurants sonst immer das Falsche bestellen. Sie kommt dem individualistischen Trend entgegen, immer am liebsten alle Möglichkeiten offen zu haben. Und sie ist nebenbei auch ein Segen für die Wirte, denn noch nie konnten sie Kleinstportionen derart stattlich auspreisen - in dem Handgemenge bei Tisch verliert der Gast ja ohnehin den Überblick über die Portionen, und es sind ja alles nur Probiergrößen. So hat man am Ende eines typischen Shared-Dish-Abends einen Sesamspieß und einen Klacks Humus, viel Brot und irgendwas Gelbes mit Linsen gegessen, ein Stückchen Oktopus und einen Anschnitt von der Entenbrust ergattert. Und das sichere Gefühl, zwar alles geteilt und vieles probiert, aber eigentlich nichts gegessen zu haben.

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