Süddeutsche Zeitung

Porträt eines Spitzenkochs:Wie ein Fleischfan zum Veggie-Sternekoch wurde

Paul Ivić aus Wien ist einer von nur vier vegetarischen Sterneköchen weltweit. Von ihm kann man lernen, dass Ideologie in einer guten Gemüseküche absolut nichts verloren hat.

Von Marten Rolff

Die Geschichte über Paul Ivić beginnt mit einem Widerspruch. Da ist also ein Mann, der überall für die Feinheit seiner Gemüseküche bewundert wird. Ivić ist einer von weltweit nur vier vegetarischen Köchen, die einen Michelin-Stern halten. In seinem Wiener Restaurant "Tian" serviert er so komplexe Gerichte wie fermentiertes Rotkraut mit Petersilienwurzeltatar, Petersilien-Espuma, gereiftem Joghurt und Jus aus geröstetem Rotkraut zu süßer Molke. Oder eine sphärisch zarte Variation vom Kohlrabi - eingelegt, blanchiert, gedünstet, gefüllt; eine sehr klare, frische Vorspeise, bei der die Rübe immer wieder überraschend anders schmeckt.

Und dann erzählt dieser Gemüse-Pionier, wie glücklich es ihn mache, dass der Papa ihm regelmäßig Tiroler Speck nach Wien schickt. Dass er am liebsten Speckknödel von Mama isst. Auch kocht Ivić zu Silvester gern für sein gesamtes Team - immer klassische Bratengerichte, es ist ein Ritual. Da stellt sich natürlich die Frage, warum ausgerechnet ein Fleischfan zum Vordenker der fleischlosen Küche wurde.

Es ist eine Frage, die direkt ins Zentrum von Ivić' Arbeitsweise führt. Und zur Antwort gehört auch, dass er findet, es sei eine Frage, die sich eigentlich gar nicht stellen dürfte. Ideologie ist dem Koch ein Gräuel, vor allem beim Essen. "In der Küche zählt allein der Geschmack", erklärt er.

Selten hat Gesinnung beim Essen eine solche Rolle gespielt wie heute. Die Küche spaltet sich in immer mehr Fraktionen, schnell wird es grundsätzlich. Ivić bedauert das, so entstünden Schubladen, sagt er, aber keine Qualität. Er wundert sich über Fleischesser, die bis heute "ernsthaft Angst haben, von einem veganen Gericht nicht satt zu werden". Und er hat erfolgreich seine vielen Kollegen widerlegt, die tönten: "Du willst fleischlose Gourmetküche machen? Viel Spaß! Das funktioniert nicht. Zu langweilig!" Auf der anderen Seite sieht Ivić es als Problem, dass manche Köche vor allem aus Gründen der Weltanschauung vegan kochen. Ethische Motive hält er selbstverständlich für legitim. Nur reiche diese Haltung allein eben nicht aus, um sich am Herd zu entwickeln, glaubt er.

Das Mantra, das der Chef im Tian ausgerufen hat, lautet daher: Jedes Gericht radikal vom Produkt her denken, und: Allein die Qualität entscheidet. Es sei an der Zeit, dass die fleischlose Küche erwachsen werde, findet er. Verführen statt belehren! Mit der Strategie hat Ivić zuletzt auch das Tian am Münchner Viktualienmarkt auf Sterneniveau geführt. Beliebt war das Zweitrestaurant schon vorher; doch seit Ivić dort als Geschäftsführer zuständig ist, hat nun auch München eine Küche, die beispielhaft vormacht, was sich aus Pflanzen geschmacklich herausholen lässt.

Ein Koch ist heute nur so gut wie sein Wissen über Landwirtschaft

Wenn Ivić über Qualität spricht, dann meint er damit nicht nur die von Kohlrabi oder Rotkohl. Er bezieht Qualität vielmehr auf alles, was mit dem Kochen zu tun hat, auf die Produkte, den Anbau, die Arbeitsbedingungen, die Stimmung in der Küche. Besuchern nähert sich der Koch mit freundlich abwartender Höflichkeit. Im Foyer seines Restaurants, gelegen in einem eleganten Altbau in der Wiener Innenstadt, kommt er einem mit ruhigen Schritten entgegen und fragt leise zur Begrüßung: "Können wir bitte Du sagen? Das Sie macht mich immer so nervös."

Andere Köche würden nun vielleicht in die Küche bitten, um sich über ihren Stil zu unterhalten. Ivić dagegen lotst den Gast vor die Tür, auf die Straße, wo seine Assistentin schon am Steuer eines Kleinwagens wartet. Der Koch quetscht sich auf die enge Rückbank, und wenig später rauschen am Fenster die Ausläufer der Wiener City vorbei. Es geht aufs Land, ins Weinviertel. Denn wer über Küchenstil sprechen wolle, müsse sich vor allem die Produzenten ansehen, sagt Ivić, "sie sind das wahre Fundament unserer Arbeit".

Er selbst hat lange gebraucht, um zu verstehen, was es wirklich bedeutet, im Einklang mit der Natur zu kochen. Ivić ist jetzt 40. Gelernt hat er in einer klassischen Hotelküche in Tirol. Es folgten mehrere Stationen in besseren Hotels mit gehobener Gastronomie. Vor acht Jahren dann musste er wegen schwerer Herzprobleme seine Ernährung umstellen. Er las damals ein Interview mit dem Tian-Gründer Christian Halper, seinem heutigen Chef, und er war fasziniert von dessen Gedanken zur Nachhaltigkeit. Sie trafen sich in Wien, und weil sie sich verstanden und das Tian gerade einen Küchenchef suchte, blieb Ivić.

Der Koch schätzt, dass er selbst sich heute zu etwa 80 Prozent vegan ernährt und zu 20 Prozent vegetarisch. Fleisch liebt er, aber es bleibt die Ausnahme; auch weil es selten nachhaltig ist. Ivić glaubt fest daran, dass der Mensch dort, wo er sich wirklich an der Natur orientiert, ins Gleichgewicht gerät und sich nachhaltig ernährt. Folgerichtig ist der Koch, so wie Ivić ihn versteht, weder Tellerarchitekt noch Erziehungsbeauftragter, sondern schlicht Mittler zwischen Mensch und Natur. Ivić sieht das tatsächlich als "Gesellschaftsauftrag".

Während der Fahrt deutet er immer mal wieder auf den Patchworkteppich aus Monokulturen neben der Autobahn, Mais, Getreide. "Massentierhaltung für Pflanzen", nennt er das. Es sei doch so: Die Leute glaubten, mit Fleischverzicht sei es getan. Aber an der Künstlichkeit der Lebensmittel, an der Auszehrung der Böden, der industriellen Landwirtschaft ändere sich wenig, wenn zum Beispiel eine Fabrik für Fleischersatz nach der anderen entstehe. Ivić fände Sensorik-Schulungen für Gemüse wichtiger. Zu erfahren, dass Kohl oder Kürbis nach Trockenperioden völlig anders schmecken. Oder dass "nur ein Tropfen Olivenöl den Geschmack einer Suppe um ein Vielfaches potenzieren kann. Das ist spannend!" Man stehe beim Gemüse erst am Anfang. Für bestimmte Aromen hat die Küche ja noch nicht einmal Worte.

Im Tian setzt man auf Offenheit der Gäste und verzichtet auf die üblichen Raster. Die Speisekarte unterscheidet nicht zwischen vegan und vegetarisch. Wenn ein Gericht ohne tierisches Fett oder Eiweiß funktioniert: wunderbar. Aber wenn es mit etwas Sahne oder Eigelb besser schmeckt, dann ist das kein Problem. Wenn die Küche einmal weit genug ist, werden sich auch diese Zutaten ersetzen lassen.

Der Großteil seiner Gäste seien Fleischesser, die etwas anderes probieren wollten, sagt Ivić. Im Idealfall wird ihr Geschmackshorizont mit jedem Gang behutsam erweitert. Zum Beispiel durch die innovative Getränkebegleitung, Mischungen aus Säften, Tees und Gewürzen: fermentierter Red-Moon-Apfel mit Preiselbeere; Karotte mit Schwarztee, Essig und schwarzem Pfeffer; Birkenwasser mit Mandelblüte und Gerstengras.

Viele vegane Lokale bringen sich um ihre Möglichkeiten, weil sie nur Dogmen der Fleischküche kopieren. Schnitzel aus Seitan zum Beispiel. Oder die wenig überzeugende Regel, dass jeder Teller eine Hauptkomponente und Beilagen braucht. Aber gute Gemüseküche, das kann man bei Ivić lernen, funktioniert nach ganz eigenen Gesetzen. Der Koch durchbricht alte Schemen, indem er etwa ein Gemüse mit zwei, drei Akzentzutaten variiert, die in unterschiedlicher Form im Gericht immer wieder auftauchen und deren Aromen es abwechslungsreich machen und zugleich abrunden. Sellerie zum Beispiel, der in anderen Lokalen gern als steakartige Schnitte serviert wird, findet sich auf seinen Tellern als stimmiger Reigen: zusammen mit Pumpernickel als Füllung im Malz-Raviolo; oder mit viel Eigenaroma gegart im Salz-Malz-Teig; dazu als Risotto mit Bärlauch - alles flankiert von Pumpernickelsud und Bärlauchcreme mit gepuffter Gerste.

Ein Produkt neu zu denken, bedeute, es ernsthaft zu hinterfragen, sagt Ivić. Alles steht zur Debatte, von der Saatgutsorte bis zum besten Erntezeitpunkt. Ein Koch, zumal ein vegetarischer, ist heute nur so gut wie sein Wissen über Landwirtschaft. Schließlich kann man schmecken, ob etwa ein Brokkoli auf einem Boden mit hohem Lehmanteil gewachsen ist. Es hat Jahre gedauert, ein Netzwerk hervorragender Produzenten aufzubauen. Einer der besten ist laut Ivić die Agrargenossenschaft "Krautwerk", das Ziel der Fahrt. Nach 45 Minuten hält der Wagen in einem Hügel-Idyll nordwestlich von Wien. Auf einem Bio-Hof, der vor allem eins ist: überraschend klein.

Das Anbaugebiet umfasst gerade mal einen Hektar, sein Ertrag gibt fünf Menschen ein finanzielles Auskommen. Wie das geht? "Indem man alles anders macht, als es heute üblich ist", sagt Robert Brodnjak lachend, der hier über den Hof führt. Einfach war es nicht. Vor sieben Jahren haben sie als Quereinsteiger angefangen: konsequenter Aufbau des Bodens, Hecken gegen die Erosion, Wechsel der Fruchtfolge, kleine Furchenabstände, um die Erträge zu erhöhen, Hühner auf dem Feld für einen lockeren Boden. Nach vier Jahren waren sie so gut wie pleite. "Ein Jahr noch oder ich gehe zurück ins Büro", sagte Brodnjaks Frau damals. Dann kam die Wende. Plötzlich riss man ihnen das Gemüse aus den Händen, die Rüben, die Bohnen, die mildsüßen Zwiebeln, den scharfen Senfsalat.

"Eigentlich müsste alles, was heute in den Lehrbüchern über moderne Landwirtschaft steht, umgeschrieben werden", sagt Brodnjak. Und Ivić, der neben ihm auf dem Bohnenfeld steht, greift beipflichtend mit der Hand in den Acker. "So muss Erde sein", sagt der Koch, "feinkrümelig; frisch, nicht muffig."

Vor acht Jahren wog er 22 Kilo mehr, aß nur noch Fast Food - und ekelte sich vor sich selbst

Ivić sieht nicht gerade aus, als gehörte er auf ein Feld. Der Koch trägt eine schicke Lederjacke zu schwarzem Hemd, Edelstrick und Boots. Alles sitzt so akkurat wie die Haare seines dunklen Vollbarts. Ivić ist mit 40 in einem Alter, in dem der Körper dem Stress in der Gourmetgastronomie eigentlich Tribut zollen müsste. Davon sieht man nichts. Aber das war einmal anders. Vor acht Jahren wog er 22 Kilo mehr, er ernährte sich nur von Fast Food - Tiefkühlpizza, Burger, Fertigaufstriche - und war in einer Verfassung, die Kollegen als "fettes Arschloch" zusammenfassten, wie er erzählt. Es war das Ergebnis eines Selbstversuches, der etwas aus dem Ruder gelaufen war. Er hatte einfach ausprobieren wollen, was passiert, wenn er sich so ernährt. Eine Therapeutin hat ihn mal gefragt, wieso er glaubt, ständig Extreme ausloten zu müssen. Ein Koch, der als Vorbild den Bergsteiger Reinhold Messner nennt. Es dürfte wenige Küchenchefs geben, die dermaßen lustvoll an der Krise gewachsen sind.

Das war schon früher so, als der 14-jährige Paul beschloss, in der Schule nicht mehr zu essen. Zu Hause, auf dem Dorf in Tirol, war er gewohnt, dass beide Eltern gut kochten, der Vater war in der Gastronomie. Das Essen in der Schulkantine empfand er "als persönliche Beleidigung, als Verbrechen". Er zog den Kantinenstreik durch. Fast ein Jahr. Man zwang ihn, vor dem Teller sitzen zu bleiben. Solange, bis der Junge erschöpft auf den Tisch kotzte.

Seine Schwester schlug ihm vor, Koch zu werden. Ein guter Rat. Doch bevor er wusste, was er wirklich wollte, lotete er wieder Grenzen aus. Die Lust am Erfolg, am Stress - am Ziel, Kosten zu senken und Profit zu maximieren. In seinen früheren Jobs in Hotelküchen lernte er, wie gut Gäste sich verschaukeln ließen. Wenn er wieder irgendein Stück Fleisch zu drei Euro das Kilo vakuumiert und im Wasserbad totgegart hatte, riefen sie: "Mmhh, das Schwein war heute aber wieder besonders zart!" Ivić rutschte in die Sinnkrise, war monatelang arbeitsunfähig, bekam Depressionen und schwere Herzprobleme. Schließlich stellte er sein Leben um. Der Job im Tian kam gerade recht. Dort konnte er seinen Extremismus auf das harmlose Ziel lenken, die Gemüseküche zu perfektionieren.

Heute ist Ivić überzeugt, dass ihn die Beschäftigung mit der Natur nicht nur zu einem besseren Koch, sondern auch zu einem besseren Menschen gemacht hat. Er sagt, dass es nicht immer eine Freude sei, für ihn zu arbeiten, "viele haben Probleme mit meinen Ansprüchen". Aber er sei milder geworden im Tian. Er arbeitet mit einer Mentaltrainerin. Es beruhigt ihn zu sehen, "dass viele meiner Köche einmal besser sein werden als ich". Er sagt, er könne es endlich ertragen, wenn ein Teller die Küche verlässt, ohne dass er jedes Kerbelblättchen darauf kontrolliert hat.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2019/aner/olkl
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