Eskapismus:Die Villa in Gedanken

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Das wäre jetzt genau der richtige Platz! Die Hasenberg Lodge am Walensee in der Schweiz. (Foto: Nicolas Kyramarios)

Das Thema Urlaub wird auch diesen Sommer nicht unbelastet sein. Kurzfristig kann man sich aber gut am Bildschirm wegträumen - ein Plädoyer für das Screen Travelling.

Von Max Scharnigg

Als im Jahr 2007 die Seite Urlaubsarchitektur.de online ging, war das eigentlich ein reiner Freundschaftsdienst. Der Architekt Jan Hamer war in seinem Bekanntenkreis immer wieder nach geschmackvollen und architektonisch lohnenden Ferienhäusern gefragt worden - also bastelte er eine kleine Seite, auf der er solche Empfehlungen sortierte und fortan sammelte. Für Menschen wie ihn, die auch oder gerade im Urlaub Wert auf ästhetische Wohnumgebung legten oder eine Abneigung gegen banale Hotelzimmer hatten.

Fünfzehn Jahre später ist aus der Liebhaberei eine Plattform geworden, die schon sehr vielen Menschen außergewöhnliche Urlaubstage beschert hat. In meist privaten Häusern, gebaut oder renoviert von Profi-Ästheten oder zumindest souveränen Geschmacksinhabern und vermietet an jene, die Design oder Baugeschichte eines Hauses zu schätzen wissen und dafür vielleicht auch mal ihr Budget ausreizen können. 550 solcher besonderen Ferienhäuser- und -wohnungen in ganz Europa sind mittlerweile in die Übersicht aufgenommen, ein fünfköpfiges Team um Jan Hamer kuratiert das Angebot. "Wir bekommen jetzt so viele Vorschläge eingereicht, wir könnten auch 5000 Häuser auf der Seite haben. Aber es geht uns weiterhin nicht um die Masse oder Gewinn, sondern um individuelle und einzigartige Ziele", sagt Ulrich Knoll. Er arbeitet seit zehn Jahren mit und besucht regelmäßig auch die neu gelisteten Häuser, um zu sehen, ob sich der gute erste Eindruck von den Fotos auch vor Ort bestätigt.

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Die Seite ist heute aber mehr als nur ein Vermittler zwischen interessanten Gastgebern und interessierten Gästen, mehr als nur ein Wegweiser zum stilvollen Urlaubsglück. Sie bedient nebenbei auch eine sehr zeitgemäße Form des Eskapismus, an die man sich seit Kurzem zwangsgewöhnt hat. Man könnte es vielleicht Screen Travelling nennen - in Anlehnung an die Disziplin des Armchair Travelling, in der es vor allem die Briten vor Jahrhunderten zur Meisterschaft gebracht haben, exemplarisch überliefert etwa in Form von "Gullivers Reisen" oder "Alice im Wunderland". Schriftsteller und Leser betrieben damals eine besonders nachhaltige Form des Verreisens, bei der sie die wildesten Abenteuer durchlebten, ohne dabei die behagliche Sicherheit ihrer eigenen vier Wände verlassen zu müssen.

Dieses Jahr brauchen viele das Urlaubsgeld wohl eher für die Nebenkostenabrechnung

Dass solche Fantasiesafaris noch mal vonnöten sein würden, hätte in den vergangenen Jahrzehnten keiner geahnt, als alle Welt wie wild unterwegs war und selbst die größten Langweiler Expeditionskreuzfahrten buchen konnten - im Whirlpool zum Nordpol. Aber schon vor Corona war das Thema Urlaub nicht mehr unbelastet. Man denke an den viralen Begriff der Flugscham, "Fridays for Future" oder die immer längere Liste der Urlaubsländer, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr ansteuerbar waren. Dann kamen die Lockdowns und geschlossene Grenzen, geplatzte Reisen, Horrorgeschichten von Kreuzfahrtschiffen, Waldbrände, Fluten und Erdbeben. Jetzt ist Krieg in Europa, auf den Bahnhöfen und Flughäfen der Hauptstädte kommen Flüchtende an - wer kann und will dazwischen wirklich unbefangen zwei Wochen pauschal abzwitschern? Außerdem erlebt das Land eine Preisentwicklung, dank der viele das Urlaubsgeld dieses Jahr wohl lieber für die Nebenkostenabrechnung beiseitelegen. Leibhaftig längere Lustreisen anzutreten, das wird also auch diesen Sommer wieder ein schwieriges Thema.

Dabei macht sich gerade jetzt, am Ausgang eines mühsamen Winters, auf der langen Geraden einer Pandemie und angesichts der allabendlichen Kriegsbilder, doch penetrant ein kleinlicher Wunsch bemerkbar: Ich will mal raus. Muss mal weg, brauch mal Sendepause oder, besser gesagt, Empfangspause. Die Sehnsucht nach etwas Schönem, Unbelasteten, nach Zerstreuung und leichter Muse ist menschlich, und in chronisch anstrengenden Zeiten kommt ihr fast therapeutische Bedeutung zu. Man braucht bisweilen ein mentales Bällebad, um nicht ganz abzustumpfen. Wer weiter funktionieren soll, muss mal Pause machen dürfen. Eine Seite wie Urlaubsarchitektur.de kommt da gerade recht. Eine halbe Stunde in der Mittagspause in diesem perfekt eingerichteten Loft in Südfrankreich oder den puristisch aufgeräumten Cabins in der Uckermark schwelgen, dazu die nett-fundierten Beschreibungen von Haus und Ort lesen, kurz eintauchen in die Idee eines idealen Urlaubs, das klärt den Geist ungemein. Links an Freunde verschicken, mit dem Hinweis: "Das wäre es!" Oder sich einen Abend lang mit dem Partner gegenseitig mit Traumhäusern bewerfen und gemeinsam da- und dorthin wegdenken - das tut manchmal richtig gut.

Oder doch lieber Ausspannen in einem alten, wunderbar renovierten Schulhaus in Friesland? (Foto: urlaubsarchitektur.de)

Mit einem Neckermann-Katalog oder in den unendlichen Weiten der Airbnb-Angebote geht das nicht richtig. Da ist zu viel touristische Bückware und ein Meer von indiskutablen Inseraten dabei, die noch aus der Zeit stammen, in der Reisen eben nichts Wertvolles war. Nein, für gelungenes Screen Travelling muss es heute die richtige Mischung sein aus inhaltlicher Tiefe und appetitlicher Präsentation, ein Panoptikum der Perfektion, in dem man schon vom Schauen satt wird und Augen und Geist bei jedem Bild gestreichelt werden. Bei der Plattform Urlaubsarchitektur haben sie diesen Meta-Mehrwert längst erkannt und legen regelmäßig eigene Coffeetable-Books auf, in denen die schönsten Häuser noch mal haptisch angemessen präsentiert werden - nichts anderes als ein Ticket zum Verreisen auf der Couch.

Sehr gut gelingt das auch auf der schönen Seite " Ferien im Baudenkmal", hinter der eine sehr engagierte, gleichnamige Schweizer Stiftung steht. Hier reist der Screen Traveller mitten hinein in die guten Stuben von uralten Häusern, Villen und Berghütten. Sie wurden von der Stiftung behutsam saniert und geschmackvoll renoviert - um jetzt als Feriendomizile vor dem Verfall oder Vergessen gerettet zu sein. Bauhistorische Nachhilfe und Interieur-Porno vereinen sich dabei aufs Beste, und auch wer niemals Urlaub in der Schweiz machen würde, wird zugeben müssen, dass die Vielfalt der Objekte, die rührende Aufbereitung, die hingebungsvolle Schilderung der "baukulturellen Besonderheiten" einen großen Unterhaltungswert besitzen. Und auch hier gibt es Meditationseffekte für den verhinderten Reisenden. Diese Bildergalerien mit den sonnenverbrannten, alten Holzfassaden, den Gletschern im Hintergrund und den Bänken an der Hauswand zu betrachten, die geschliffenen Dielen aus Arvenholz mit Corbusier-Möbeln darauf oder freistehende Badewannen mit Blick ins Tal - das ist zutiefst beruhigender Eskapismus und befriedigt die Sehnsucht nach einer anderen Zeit als der Gegenwart. Ähnlich wie bei Urlaubsarchitektur.de wird das wirkliche Verreisen in so ein Bündner Patrizierhaus oder eine entkernte Scheune aus dem 19. Jahrhundert eher zweitrangig. Aber es spielt schon eine große Rolle, dass man es könnte.

Wie wohnt es sich im Baudenkmal? Auch der "Landmark Trust" hat einiges im Angebot

Denn sich Häuser, Einrichtungen, Outfits der anderen im Netz anzusehen und dabei insgeheim selbst ins Bild zu retuschieren, ist natürlich nichts Neues. Ganz Instagram funktioniert noch mit diesem Hebel: Habe ich nicht, hätte ich aber gerne. Bei den genannten Seiten oder zum Beispiel auch beim Blättern durch die Angebote des britischen Landmark Trust - exzellente Vordenker der Idee vom bewohnbaren Baudenkmal - verstärkt sich die Anteilnahme aber noch mal anders. Denn diese spektakulär umgebauten Bauernhäuser, diese historischen Schmuckstücke, die kühnen Entwürfe in den Bergen oder am Meer sind ja wirklich betretbar, zwei, drei Mausklicks, dann hätte man Kontakt mit dem Vermieter und mit etwas Glück und einer gewissen monetären Leidensbereitschaft (bei den Schweizern aber oft gar nicht so viel), wäre man eines Tages wirklich dort: an diesen bodentiefen Panoramafenstern oder in dem modisch schmalen Pool.

Bei einigen Häusern geht man nach dem Abend als Screen Traveller vielleicht sogar den Schritt weiter, sichtet die Preise in Vor- und Hauptsaison und die belegten Wochen im Spätsommer und gleicht sie mit seinem eigenen Kalender ab. Auch das gehört zu der platonischen Form des Reisens, auch das schüttet alles schon Dopamin aus, das spielerische Planen und die ganze "Was wäre, wenn"-Situation sind als Ablenkung willkommen. Wie die Floskel sagt - Vorfreude ist die schönste Freude, das gilt für die Urlaubsplanung ganz besonders. Denn jeder weiß, dass im Urlaub selbst bei schöner Umgebung noch einiges schiefgehen kann.

Auch wenn man diese Traumhäuser dann doch nicht bucht, weil letztlich Geld, Termine oder Anfahrtsweg dagegensprechen - schon wenn man eine Woche in Gedanken dort verbracht hat, war man ein bisschen da. Oder zumindest nicht ganz hier. Und darum geht es ja gerade.

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