Trend Paleo-Ernährung:Prost Steinzeit

Der neue Steinzeitmensch trägt Smartwatch und verzichtet auf Getreide und Milchprodukte. Der Trend zur Paleo-Ernährung gewinnt immer neue Anhänger. Auch weil die Begründung einleuchte, sagt Nico Richter, einer ihrer Botschafter.

Von Lena Jakat

Er ist großflächig behaart, trägt, wenn schon kein Bärenfell, so doch Grobgestricktes aus unbehandelter Wolle und riecht ein bisschen nach Staub und Lanolin. Er verachtet Smartphones, Fußbodenheizung und Ponymädchen aus der PR. So könnte man sich jemanden vorstellen, der sich als moderner Steinzeitmensch begreift. Und dann trifft man Nico Richter. Gegeltes Haar, Smartphone, das karierte Hemd passt zu den blauen Augen. Der studierte Wirtschaftsingenieur hat zuerst eine Beraterkarriere eingeschlagen und dann in der Münchner Start-up-Szene gearbeitet, wovon die Management-Anglizismen zeugen, die sich immer wieder in seinen Redefluss drängen. Was, bitte, soll dieser smarte Typ mit der Steinzeit gemeinsam haben?

Nico Richter Paleo "Power for Life" Kochbuch Rezepte

Nico Richter lebt für und von Paleo.

(Foto: Christian Verlag / Silvio Knezevic)

Die Antwort: das Essen. Die "Paleo"- Ernährung (im deutschen Sprachgebrauch auch "Paläo"-Ernährung, abgeleitet von der Epoche des Paläolithikums) orientiert sich am Speiseplan unserer Vorfahren. Sie verzichtet auf Getreide, Milchprodukte, stark verarbeitete Nahrungsmittel und Zucker. Diese Art zu essen ist in den USA schon so lange verbreitet, dass sich dort kaum noch von einem Trend sprechen lässt. Diesseits des Atlantiks ist das anders. In Europa gewinnt Paleo erst seit ein paar Jahren an Anhängern und Bedeutung. Nico Richter ist einer der Menschen, die diesen Trend bekanntmachen wollen, die ihn leben und von ihm leben. Er vertreibt auf seinem Blog E-Books zum Thema und hat das erste deutsche Paleo-Kochbuch geschrieben.

"Ich war 28 Jahre alt, sportlich und habe mich subjektiv gesund ernährt", sagt Nico Richter, inzwischen 30, immer noch sportlich, über seine Wandlung zum modernen Steinzeitmenschen. Nach einem Routine-Bluttest wurde Richter von schlechten Werten überrascht - bei Langzeit-Blutzuckerspiegel, Blutdruck, Stressindikatoren. "Da dachte ich: Irgendwas musst du ändern." Paleo verspricht bessere Blutwerte, besseres Allgemeinbefinden, Linderung von Allergien, Fettabbau und bessere Leistungsfähigkeit.

Das tun viele Ernährungskonzepte. Der Grund, warum Richter gerade an der Paleo-Diät hängenblieb, Bücher darüber las, seine Freundin dazu brachte und daraus schließlich einen eigenen Blog entwickelte? "Die Erklärung war gut", sagt er. Die These besagt - kurz gefasst -, dass sich die Ernährungsgewohnheiten in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten so gravierend und so schnell verändert hätten, dass sich der Mensch daran evolutionär noch nicht anpassen konnte. "Es ist wichtig, zu verstehen, wofür der Körper gemacht ist", sagt Richter. "Wir sind seit 2,5 Millionen Jahren auf der Welt. Landwirtschaft gibt es erst seit 10 000 Jahren, industrielle Produkte erst seit 150 Jahren."

Das Paleo-Prinzip

Paleo basiert auf Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch, Eier und Nüssen und verzichtet auf:

[] Getreide in jeglicher Form. Dieses führe zu Entzündungen im Darm, Auto-Immunreaktionen und Fettleibigkeit.

[] Hülsenfrüchte. Ihnen werden ähnlich schädliche Eigenschaften nachgesagt.

[] Milchprodukte. Sie könnten Verdauungsprobleme hervorrufen und den Hormonhaushalt beeinflussen, sagen die Paleo-Anhänger.

[] Zucker, Süßstoffe und alle künstlichen Zusätze.

Sich zu ernähren wie dereinst Jäger und Sammler, macht das Sinn? Die Wissenschaft ist sich uneins. Abgesehen davon, dass der Verzicht auf Süßigkeiten und künstliche Zusatzstoffe bestimmt nicht verkehrt ist: Positive Auswirkungen von Paleo auf die Gesundheit wurden bislang weder abschließend be- noch widerlegt. Derlei aus der Evolution zu schlussfolgern, "muss immer spekulativ bleiben", schreiben Andreas Hahn und Alexander Ströhl von der Universität Hannover. Sie kritisieren auch die Argumentation der modernen Steinzeitmenschen. (Lesen Sie hier einen Aufsatz der Ernährungswissenschaftler)

Thomas Junker dagegen erscheint die Logik von Paleo einleuchtend. "Wie bei allen Tieren halte ich beim Menschen eine artgerechte Ernährung für eine gute Idee" sagt der Evolutionsbiologe der Universität Tübingen. "Deswegen finde ich Paleo sehr interessant."

Wie die Hannoveraner Forscher dringt Junker darauf, das Konzept differenziert zu betrachten; zumal es nicht eine steinzeitliche Ernährungsweise gab, sondern diese sehr nach Region variierte. "Milch zum Beispiel ist tatsächlich relativ neu in der Menschheitsgeschichte. Erwachsene Säugetiere trinken in der Regel keine Milch." Vor etwa 5000 Jahren, so Junker, habe sich jedoch eine Mutation herausgebildet und seither vertrügen die meisten Menschen in Mitteleuropa Milchprodukte. "Auch die extreme Fokussierung auf Getreide ist neu." Linsen dagegen, würden - anders als Paleo-Anhänger propagieren - schon sehr lange gegessen und Eier, die bei Paleo eine wichtige Rolle spielen, habe es früher nur saisonal gegeben. "Wenn man sie nun ständig isst, ist das eine groteske Übertreibung."

Artgerecht im Google-Zeitalter

Wie andere Tiere auch, sagt Junker, sei der Mensch eigentlich dafür gemacht, die für ihn geeignete Nahrung zu finden. "Dass wir Farben und so gut sehen können, dass wir es süß und bunt mögen, haben wir unseren Vorfahren zu verdanken. Als Affen ernährten wir uns von Früchten, und die galt es zu finden." Problematisch wird es, wenn dieser Effekt nun simuliert wird - in Form von Süßigkeiten, zum Beispiel. "Statt Nährstoffen erhalten diese nur leere Kalorien."

Nico Richter Paleo "Power for Life" Kochbuch Rezepte

Richters "Vietnamesischer Rindfleischsalat" nach Paleo-Art.

(Foto: Christian Verlag / Silvio Knezevic)

Wer sich paleo ernähren will, braucht Willensstärke. Commitment, wie Nico Richter sagt. "Jeder hat nur eine begrenzte Menge an Willenskraft. Klar, es ist nicht einfach, allen Versuchungen zu widerstehen. Ich wäge immer ab: Ist mir der kurzfristige Genuss wichtiger oder was mir langfristig guttut?"

Kritiker monieren bei Paleo den hohen Fleischanteil - aus gesundheitlicher und ökologischer Sicht. "Das ist ein Riesenproblem", sagt auch Richter. "Man muss allerdings unterscheiden zwischen der Mortadella aus dem Supermarkt und dem grasgefütterten Rind vom Bauernhof." Paleo steht für letzteres. Schon wegen der Zusatzstoffe - und mit Blick auf Umwelt und Klima. Anders als in der Argumentation vieler Veganer oder Vegetarier steht bei den Paleo-Anhängern allerdings nicht die globale Perspektive im Vordergrund. "Ernährung ist egoistisch", sagt Nico Richter.

Die modernen Steinzeitmenschen sind keine wiedergeborenen Hippies, haben mit Umweltschützern fast genauso wenig zu tun wie mit Massentierhaltung. Sie sind eher hippe Karrieristen und hängen der Idee der Selbstoptimierung an. Manche kommen aus der Bewegung des quantified self, die auf die Analyse von Körperdaten setzt. Auch Nico Richter lässt alle zwei Monate einen Bluttest machen. Diese Steinzeitmenschen wohnen nicht in Lehmhütten, sondern in den energiearmen Glas-Stahl-Burgen der Städte. In dem Roman "The Circle" (lesen Sie hier eine Rezension) läuft in einer Szene ein Rezept für "Paleo-Suppe" über den Monitor in der Circle-Kantine. The Circle ist eine fiktive Version des Google-Konzerns, voller junger, erfolgreicher, selbstoptimierter Menschen mit Pulsmess-Armreifen.

Es erscheint nur folgerichtig, dass Paleo nicht beim Essen stehen bleibt - sondern "ein ganzer Lifestyle" ist, wie Richter sagt. Schließlich hat sich nicht nur die menschliche Ernährungsweise in den vergangenen 150 Jahren radikal gewandelt. Sondern auch wie wir arbeiten, wie wir uns bewegen (oder eben nicht). "Stress ist evolutionär kurzfristig angelegt, um zum Beispiel auf einen Tierangriff zu reagieren", sagt Richter. "Aber nicht, um zehn Stunden lang jeden Tag herum zu hetzen." Moderne Steinzeitmenschen wollen auch dafür das Bewusstsein schärfen. "Zum Beispiel halten wir uns abends künstlich viel zu lange wach", zählt Richter weiter auf. "Und wir fahren mir der Rolltreppe ins Fitnessstudio." Paleo dagegen propagiert natürliche Bewegungsformen, hat Anknüpfungspunkte an Bewegungen wie CrossFit oder MovNat.

Der Evolutionsgedanke lässt sich beliebig weiterdenken - bis hin zu der Frage, ob es unserer Gattung entspricht, allein und in Großstädten zu leben. "Nur so eine fixe Idee von mir: eine Paleo-Community", überlegt Nico Richter laut vor sich hin. "Gemeinsam mit ein paar Freunden in einer Kleingruppe zusammenleben, ohne Höhle und mit all den Vorzügen moderner Technik." Hipster mit Körperfettwaage eben, Steinzeit im Google-Zeitalter.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: