Traditionsbetrieb:Rasierpinsel-Boom im Erzgebirge

Traditionsbetrieb: Alles, was es für die Nassrasur braucht.

Alles, was es für die Nassrasur braucht.

(Foto: Photo Studio Likeness)

Das Geschäft mit der Nassrasur ist aktuell sehr lukrativ. Zu Besuch bei der Firma Mühle, die seit 70 Jahren Rasierpinsel herstellt.

Von Harald Hordych

Da ist sie wieder, die typische Handbewegung. Man kann Menschen aus Hundshübel bei Stützengrün im Erzgebirge daran erkennen, wie sie einen Rasierpinsel anfassen und dabei ihren Daumen einsetzen. Vor allem, wenn sie für die Firma "Mühle" arbeiten.

Dieser typische Daumenwischer ist nicht Teil der Ausbildung zum Bürsten- und Pinselmacher, sondern eher eine unbewusste Geste. Aber sie gehört zu dieser Manufaktur, gelegen inmitten von Hügeln und Wäldern und so weit weg von ihren illustren Märkten in Singapur, Japan, USA und Skandinavien und den edlen Barbershops, die jetzt überall aufmachen. Und außerdem erklärt diese kleine Geste wohl am einfachsten, warum Mühle zum Weltmarktführer für qualitativ hochwertige Rasierpinsel aufgestiegen ist. Oder, was meinen Sie, Herr Müller?

Andreas Müller sitzt vor einem beleuchteten Regal, das an die Regale von gut sortierten Drogerien erinnert. Da stehen Artikel, die Männer jeden Tag gut gebrauchen können, um Seifenschaum in ihrem Gesicht aufzutragen, Alltagsgegenstände also. Aber dann drückt Müller beim Erzählen gedankenverloren seinen Daumen in die dichte Kugel aus Dachshaaren, und, siehe, die Haare gleiten einerseits gefügig wie Wasser auseinander, andererseits widerstehen sie wie eine Art Knetmasse dem Daumen standhaft. Genau so weich und fest, wie Müller das haben will. Sie wissen schon, was Sie da gerade machen, Herr Müller?

Da lacht der Chef, als hätte man ihn bei etwas Peinlichem ertappt. "Na ja," sagt er. "Das fühlt sich schön an. Ich fass die Pinselköpfe einfach gern an. Manchmal merke ich das gar nicht." Ist das schon das Erfolgsrezept, um zu einem Hidden Champion zu werden? Um weltweit Rasierpinsel verkaufen zu können, die bis zu 360 Euro kosten? Einfach etwas, das sich gut anfasst, wenn man sein Kinn einseift?

In den letzten zehn Jahren hat sich der Umsatz der Firma vervierfacht, er stieg von drei Millionen auf 11,6 Millionen. Eine Million Pinsel verlassen jedes Jahr das Werk, aber 70 Prozent des Umsatzes werden mit den gerade mal 100 000 Pinseln erzielt, die im gleichen Zeitraum in Handarbeit hergestellt werden können. Andreas Müller sagt: "Gott sei Dank! Es gibt ein absolutes Revival der Nassrasur, das sich da auch im alltäglichen privaten Bereich ereignet hat. Total." Aber er ist sich nicht so sicher, inwiefern seine Firma dazu beigetragen hat.

Rasierpinsel müssen auch gut aussehen

Auf jeden Fall setzt sie seit zehn Jahren auf ein neues Design. "Der Rasierpinsel war lange ein Produkt, nach dem man fragen musste und das dann aus der Schublade geholt wurde. Jetzt ist er stylish." In der großen Fertigungshalle sieht man noch nicht wirklich, was das heißt. Hier wird die Masse für den Drogeriemarkt hergestellt. 20 Euro pro Stück, und wenn so ein kleines Ding nach dem anderen durch die Spezialmaschinen rattert, mit wackelnden Köpfchen aus Dachshaar und Kunststoffgriff, dann erinnert das nur an Zeiten, als im Erzgebirge ausschließlich Massenware hergestellt wurde.

Als der Silberabbau im 18. Jahrhundert zum Erliegen gekommen war, mussten sich die Bergarbeiter hier neue Betätigungsfelder suchen. Es gab viel Holz, es gab Tiere und bald gab es auch viele Bürsten- und Pinselmacher. Besen wurden aus Rosshaar gemacht, Hutbürsten aus Ziegenhaar, Haushaltsbürsten aus Schweineborsten. Wer es sich leisten konnte, kaufte Rasierpinsel aus Dachshaar. Dabei griff ein Produktionsprinzip, das Innovationen lähmte: Alle Pinselmacher konzentrierten sich damals auf den Kopf, die Borsten. Der Griff kam vom Zulieferer. Es gab keine gestalterische Vielfalt. Es gab nur Pinsel.

Griffe aus Eiche, Silber und Birke

Und dann legten Andreas Müller, 40, und sein Bruder Christian, 43, los, nachdem sie die vom Großvater gegründete Firma vom Vater übernommen hatten. Sie entschieden sich, Kopf, Griff und manchmal einen zusätzlichen Fuß selbst herzustellen, Herren über das gesamte Design des Rasierpinsels zu werden. Das Material wurde wertvoller, ein Mühle-Griff kann heute aus Carbon (330 Euro), Mooreiche mit Sterlingsilber (360 Euro) oder russischer Maserbirke (105 Euro) bestehen.

Die Form sollte raffinierter, aber unbedingt klassisch bleiben. Für Andreas Müller etwas, das man sich immer wieder ansehen und als schön empfinden kann, "ohne dass ich mich daran sattsehen könnte". Im Fall des Pinsels namens "Sophist", den er jetzt aus dem Regal nimmt, ist das ein bauchiger Griff ohne Rillen, das schwarze Edelharz liegt schwer in der Hand. Die Haare sind teuer: Silberspitz Dachszupf, jene Haare, auf denen sich eine dunkle Linie abzeichnet, die möglichst gerade verlaufen muss. Genau wie reines oder feines Dachshaar stammt auch die beste Qualität mittlerweile von Dachsen aus Russland.

Wie das Rasieren zur Wissenschaft wurde

Ein klar profiliertes Produkt, das war in dieser Gegend mal so was wie uneinlösbare Utopie. Die sozialistische DDR hatte 1973 die vom Großvater gegründete Firma mit allen anderen Pinselherstellern zum Kombinat zusammengelegt. Als Vater Müller die Firma nach der Wende 1990 wieder eröffnete, hatte er drei Mitarbeiter. "Jeden Tag hat mein Vater ums Überleben gekämpft." Und die Söhne, damals 14 und 17, kämpften jeden Tag mit.

Andreas Müller studierte dann zwar Theologie, aber von der praktischen Welt, in der er aufgewachsen war, konnte er sich nie lösen. Theologisch geschult, fällt es Müller leicht, über weiche Faktoren zu reden, die für den Trend zur aufwendigen Nassrasur und zum teuren Rasierpinsel verantwortlich sein mögen: Menschen suchen wieder Rituale, die den Tagesablauf strukturieren und eine Zeitinsel markieren, wo man abschalten kann. Vielleicht spielen auch Kindheitserinnerungen an Väter eine Rolle, mit ganz viel Schaum vor dem Mund.

Heute sind die Nassrasur und alle Gerätschaften wie Rasierer und Rasiererhalter, die hier ebenfalls hergestellt werden, zur Wissenschaft erhoben worden. Ihr ewiges Ziel ist das Barthaar, ein Ding von der Konsistenz eines Kupferdrahtes gleicher Größe, das es zu durchtrennen gilt. Dazu braucht es Schärfe und Kraft. Der Schaum macht die Haut zuvor weich, das Haar kommt weiter heraus, die Haarwurzel wird nicht so strapaziert. Müller glaubt selbst an sein Plädoyer für die Nassrasur und kündigt an, Mühle werde auch die Produktion der klassischen Barbiermesser aufnehmen, wie man sie aus Westernfilmen kennt.

Der Tag endet im ruhigsten Bereich der Fabrik, kein Maschinenklackern ertönt, kein Surren und kein Sausen. Statt siebentausend Pinseln entstehen hier 70 bis 80 Pinselköpfe in einer Schicht. Zwei Frauen sitzen in einem kargen, nagelneuen Raum mit großen Fenstern. Schön, sagt Anja Schmidt immer wieder. Schön, schön. Und macht die typische Hundshübel-Handbewegung. Vor ihr stehen Formbüchsen, die mit ihrem runden Innenraum an Eierbecher erinnern. Dort hinein kommen die 13 bis 27 Gramm schweren Haarportionen, auf ein Zehntel Gramm genau abgewogen, je nach Größe des Pinsels. Die Haare werden geduldig eingedrückt, festgeklopft, abgeschnitten und geleimt. Und am Ende schön durchgekämmt, für die Konsistenz, die Müller vorschwebt: "Der ideale Pinsel ist am Kopf so richtig schön weich zum Streicheln, aber weiter unten muss er ein gewisses Rückgrat haben. Fest genug für den Massageeffekt."

Müller sieht sehr zufrieden aus. Überraschend zufrieden für einen Mann, der sagt, dass er sich am liebsten mit einem Mühle-Pinsel mit synthetischer Faser einseift. Denn die Mischung, die sie nach jahrelanger Arbeit entwickelt hätten, fühle sich noch besser als Naturhaar an.

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