Süddeutsche Zeitung

Tattoo-Trends:Linientreu

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Ästhetik statt Bedeutung, Grafik statt Realismus: Tattoos sind ein Massenphänomen. Aber bevor man sich stechen lässt, sollte man mal kurz darüber nachdenken.

Von Juliane Liebert

Demnächst kommt ein Kunde, dem tätowiere ich Jean-Claude Van Damme auf den Damm. Ich mache auch ungewöhnliche Stellen, dafür bin ich bekannt." Nick Kater vom Kreuzberger Tattoostudio Bläckfisk lacht, als er das sagt. Es ist Frühjahr 2017, ein ruhiger Tag. Wenn er das Wort "Trend" benutzt, tut er es in einem Tonfall, der klarmacht: Es ist für ihn ein Schimpfwort.

Tattoos liegen trotzdem nach wie vor im Trend. Das Bläckfisk-Studio ist eines der beliebtesten Tattoostudios Berlins. Es wurde im Februar 2012 gegründet, am Anfang waren sie zu dritt, mittlerweile sind sie zu zwölft. Das Angebot ist eher traditionell, die Leute lassen sich gerne die Klassiker auf die Haut stechen. Doch auch hier verändern sich die Dinge, erklärt Nick Kater: "Wir befinden uns in einem krassen Umschwung. Tätowieren war in Deutschland bis vor zehn Jahren eine totale Insider-Angelegenheit. Vor zehn Jahren begann das, sich zu verändern, hauptsächlich durch soziale Netzwerke. Sie führen dazu, dass das Tätowieren zugänglicher ist. Dass man die Sachen online anschauen kann und sehen kann, da gibt es unterschiedliche Stile." Dadurch, dass den Leuten mittlerweile bewusst ist, dass es Qualitäts- und Stilunterschiede gibt, entwickeln sich neue Stile und Vorlieben - und eine neue Industrie.

"Inzwischen weiß sogar Mutti: Sohnemann ist kein Verbrecher, weil er ein Tattoo hat."

Wer früher ein Tattoo wollte, ging ins nächste Studio und hoffte, dass der Typ, der es stach, kein totaler Trottel war. Heute kann man nahezu weltweit vergleichen. Hinzu kommt, dass das Tätowieren in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. "Inzwischen hat sogar Mutti mitgekriegt: Sohnemann ist kein Verbrecher, weil er ein Tattoo hat. Dadurch ist das Fernsehen auf den Zug aufgesprungen - und das muss natürlich alles verwursten und vermarkten."

Aber nicht nur die Anzahl der Tätowierer und Tätowierten, auch die Möglichkeiten haben sich verändert. Tattoos sehen schon länger nicht mehr aus, wie man sich so vorstellt, dass sie aussehen müssten. Die Trends des Jahres 2017 sind: Ästhetik statt Bedeutung, Grafik statt Realismus. Es gibt Wasserfarben-Tattoos, bei denen nahezu ohne Outlines gearbeitet wird. Geometrische Tattoos, die nur aus Linien, manchmal nur aus Punkten bestehen, über mehrere Körper fortgeführte Tätowierungen. Double-Exposure-Tattoos, bei denen ein Motiv in die Umrisse eines anderen gefügt wird. Schwarzlicht-Tattoos, die im Dunkeln leuchten.

Einer der weltweit beliebtesten Tattoo-artists ist der Israeli Chaim Machlev von Dots-to-lines, der in Berlin lebt. Wer sich von ihm tätowieren lassen will, muss mit Wartezeiten von bis zu drei Jahren rechnen. Für ihn hat Tätowieren nichts mehr mit Rebellion zu tun. Es geht ihm um die Verbindung zur Kunst. Die filigranen Pieces des ehemaligen IT-Manager basieren auf Computerzeichnungen und Vektoren. "Der ganze Prozess hat viel mit Selbstheilung zu tun." Wenn er mit einem Kunden keine "innere Verbindung" herstellen kann, tätowiert Chaim Machlev ihn nicht. "Und ich tätowiere überhaupt nie mehr als eine Person am Tag."

Im Bläckfisk sieht man Tattoos, die nur auf Instagram gut wirken, kritisch: "Eine Tätowierung ist ein chirurgischer Eingriff. Du veränderst etwas, und das auf Dauer, deshalb hast du die Verantwortung, dass es auch so bleibt. Wenn Leute zu uns kommen und sagen 'Wir wollen so ein kleines Wort da links auf dem Knöchel', antworten wir: 'Klar, könnten wir das machen, sähe aber nach zwei Jahren scheiße aus.'" Denn theoretisch kann man zwar alles, was man auf Papier bringen kann, auch tätowieren. Aber damit ein Tattoo gut bleibt, ist noch mehr zu beachten: Es braucht eine gewisse Liniendicke, einen gewissen Kontrast, der erhalten bleiben muss, damit das Ganze nach zwanzig Jahren nicht vergammelt wirkt. Die neuen Realistic-Tätowierer zeichnen ein Gemälde auf die Haut. Nach ein paar Jahren verlaufen die Farben ineinander. Manchen ist das bewusst. Manche werden auch für dumm verkauft - aus Geldmacherei. Anderen ist es vielleicht auch einfach egal, dass ihr hippes, im Dunkeln leuchtendes, geometrisches Wasserfarbentattoo in ein paar Jahren schlecht aussehen wird - solange es gerade angesagt ist.

Ist das Tattoo, ehemals Symbol für Außenseitertum und Rebellion, also längst zu einer automatisierten Präsentation von Hedonismus innerhalb gut definierter sozialer Normen geworden? Und zum Erkennungszeichen von Weltklassefußballern wie Ronaldo, Neymar, Messi, Boateng oder Kroos, deren teure Luxuskörper tausendfach kommentiert werden? Es kommt darauf an. Mit tätowiertem Gesicht oder Händen ist man außerhalb von Kreuzberg immer noch ein Freak. Die Motivationen, sich stechen zu lassen, sind so unterschiedlich wie ihre Träger. Denn "das" Tätowieren gibt es nicht. Die "Tätowierszene" gibt es auch nicht. "Manche Leute schneiden sich die Fingerkuppen ab und hängen sich an Haken auf, andere wollen einfach im Sommer cool aussehen. Das sind vollkommen unterschiedliche Beweggründe", sagt Nick Kater vom Bläckfisk. Tätowieren zählt zu den Dingen, die noch nicht von vorne bis hinten durchschaubar sind. "Das Fernsehen erzählt den Leuten: ,Dein Tattoo muss total viel Bedeutung haben.' Dann kommen die zu uns und sagen: 'Ich hätte gerne eine Rose.' Und wir: 'Gut.' Und die: 'Weil, meine Mutter ist ja ein Feuerwesen und...' Dabei wollen wir eigentlich nur Haut verschönern."

Und was ist mit dem Arschgeweih? Wäre langsam mal Zeit für ein Revival

Ein Zwischending zwischen klassischem und modernem Tätowieren betreibt die Tschechin Petra Hlavackova, die in Berlin und Prag arbeitet. "Die Szene hat sich auf gute Weise gewandelt", sagt sie. "Aus einem Stigma ist ein Teil der Gesellschaft geworden. Ich arbeite inzwischen am liebsten ohne Maschine, in der Natur. Am meisten Spaß machen mir die Stücke, die ich nicht für Geld mache."

Doch gerade weil Tattoos immer normaler werden, gibt es Menschen, für die gilt: umso ungewöhnlicher, desto besser. Sie lassen sich dann etwa bei Nick Kater ihren Penis tätowieren. Angeblich fühlt sich das nicht viel anders an als bei den meisten anderen Körperteilen. Und es existieren noch extremere Sachen. Wer will, kann sich sogar seine Augäpfel färben: Für Eyeball-Tattoos wird Farbe in den Glaskörper gespritzt. Und in der Bodymod-Szene trägt man Swastikas - nicht als Hakenkreuze, sondern in der ursprünglichen Bedeutung als Fruchtbarkeitssymbol.

Doch der Hype hat auch noch andere Auswirkungen. Tätowieren wird immer mehr zu einer lukrativen Industrie mit den entsprechenden Folgen. Wer früher Tätowierer werden wollte, musste zeichnen können, ging dann irgendwann ins Studio, stellte sich vor und kochte erst mal zwei Jahre Kaffee. Mittlerweile gibt es Tattooschulen, in denen vom Zeichnen über die Maschine über "Wie du den Laden schmeißt" alles gelehrt wird. Und es existiert sogar ein Bundesverband der Tätowierer. Auch die Behörden haben mitbekommen, dass Tätowieren eine blühende Industrie ist. Es gibt immer mehr Vorschriften, das hat Vor- und Nachteile. "Gut ist, dass mehr Kontrolle kommt", erklärt Nick Kater, der in seinen Anfängen einfach nur 26 Euro für eine Gewerbeanmeldung zahlen musste und damit auf einen Schlag Tätowierer war. "Ich fände es ganz gut, wenn darauf geachtet wird, das jeder sich mit Hygiene auskennen muss." Man kann es damit aber auch übertreiben: In Spanien muss etwa jeder Tätowierer sein eigenes Zimmer haben. Das wiederum "ergibt wenig Sinn, Blut spritzt ja nicht meterweit".

Aber was ist mit den Trends, die man schon mit einem Stoßgebet loswerden wollte, als sie noch ganz neu waren? Kommen etwa Tribals zurück? "Kommen gerade zurück." Das Arschgeweih? "Nicht so wirklich." Na, immerhin etwas. Andererseits ist Arschgeweih-Bashing eh öde. Das Arschgeweih ist so stigmatisiert, dass es eigentlich schon wieder cool wäre, mit einem rumzulaufen. Vielleicht 2018.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2017
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