Süddeutsche Zeitung

Tattoo-Ritual in Thailand:Spirituelles Stechen

Angelina Jolie ist keine Ausnahme: Menschen aus aller Welt kommen nach Thailand, um sich sakrale Sak-Yant-Motive tätowieren zu lassen. Ein Besuch im Tempel.

Von Arne Perras, Bang Phra/Thailand

Noch sitzt der Mann ganz ruhig auf dem Boden, er weiß nicht, wann es kommt. Aber irgendwann packt es ihn. Ple Rattanasak wird aufspringen, losrennen - und wehe, es ist keiner da, um ihn einzufangen. Er braucht einen Menschen, der ihn festhält und am Ohrläppchen massiert, damit er wieder zu sich kommt.

Manche werden an diesem Morgen zum Tiger, andere machen den Bullen, wieder andere mutieren zu Schildkröten, Schlangen, Geckos. Es tragen sich seltsame Dinge zu auf dem Hof des buddhistischen Klosters Bang Phra westlich von Bangkok. Warum bewegen sich Menschen hier wie wilde Tiere und stoßen schauerliche Laute aus? Und was hat das mit Angelina Jolie und Brad Pitt zu tun, die sich im fernen Kalifornien scheiden lassen wollen?

Der Träger des Tattoos muss Regeln befolgen, erst dann entfaltet es seine Kraft

Zunächst zu den Betenden: Sie können selbst kaum erklären, was mit ihnen geschieht. Die Mönche sagen, es ist die Kraft der Tattoos. Wer sich hier am Morgen des 11. März zur Zeremonie "Wai Khru" versammelt, trägt heilige Tinte unter der Haut. "Sak Yant", magische Zeichen. Sie haben ihre Tattoos in diesem Tempel bekommen, durch die Hand der Mönche, die oft selbst den Körper voller Sak Yant haben. Und einmal im Jahr kommen die Tattoo-Jünger zusammen, um ihren Meister zu ehren, den verstorbenen Abt Luang Pho Poen.

Auf dem Platz sitzen etwa 10 000 Menschen. Sie sollten versuchen zu meditieren, ruft ein Geistlicher über Lautsprecher, dann könnten sie es schaffen, sitzen zu bleiben. Der Büroangestellte Rattanasak hört den Rat, aber es ist nicht so einfach. Viele schaffen es nicht, irgendwann fallen sie unter der stechenden Sonne in Trance. Und haben sich nicht mehr im Griff.

Lärm am linken Rand: Dort sitzt ein hagerer Mann im grünen Polohemd, dem jetzt ein tiefes Grollen aus der Brust rollt. Er reißt die Augen auf, fletscht die Zähne, schnaubt und brüllt. Blitzartig ist er auf die Beine gesprungen. Dann rast er los, die Sitzenden ducken sich zur Seite, machen eine Gasse. Er rennt, stolpert, rappelt sich hoch. Er steuert auf die Mönchsstatue zu, die vorne im Pavillon steht. Sie ehrt den Meister Luang Pho Poen. Es ist, als ziehe die Skulptur seine Jünger magnetisch an. Bevor der Mann in die Mauer kracht, fangen ihn Helfer gerade noch ab. Fünf kräftige Männer halten ihn fest, einer reibt an seinem Ohrläppchen. Und schon ist der Rasende wie ausgewechselt. Mit hängendem Kopf trottet er zurück an seinen Platz.

"Ich fühle eine große Erschöpfung", sagt der Büroangestellte Rattanasak, nachdem auch er seinen Lauf überstanden hat. "Es ist der Tiger auf meiner Brust." Er spüre einen Drang, den er nicht kontrollieren könne. Ähnlich beschreibt es Chotirat Dansakun. Der Friseurin wäre es lieber, sie fiele nicht in Trance. Aber sie will ihre Tattoos nicht missen. Sie erzählt von zwei Unfällen, die sie unverletzt überstanden hat - wegen der Zeichnungen auf der Haut, so glaubt sie: "Mein Leben hat sich durch die Tattoos verändert. Ich bete mehr. Und ich erschlage nicht mal eine Mücke."

Weihwasserdusche um 9.39 Uhr

Nicht jeder, der ein Sak Yant auf der Haut trägt, wird im Tempel zum Tier. Die meisten sitzen ruhig am Boden und meditieren. Später beten sie mit den Mönchen und warten auf das Weihwasser, das die Geistlichen um 9.39 Uhr aus Schläuchen über der Menge versprühen. Die 9 gilt den Buddhisten als magische Zahl. Gleichwohl führt es in die Irre, von "buddhistischen Tattoos" zu sprechen. Sak Yant verbindet viele spirituelle Elemente, das Tattoo ist Ausdruck einer komplizierten Glaubenswelt, in der sich animistischer Geisterkult mit brahmanischen, hinduistischen und buddhistischen Einflüssen mischt. Die Wurzeln der spirituellen Kunst reichen Tausende Jahre zurück. Nun erlebt sie eine neue Blüte. Und das nicht nur in Thailand. Sakrale Tattoos sind weltweit populär, was man schon daran erkennt, dass sich auch Touristen Sak Yant stechen lassen.

Für den Betrachter liegt der ästhetische Reiz nicht selten in der Kombination von geometrischen Formen, alten Buchstaben und detaillierten Tierdarstellungen. Die Meister allerdings sagen, dass ein Sak Yant nur seine Kraft entfaltet, wenn es zeremoniell durch passende Rituale "aktiviert" wird, etwa durch Gebete. Am wichtigsten sei, dass der Träger des Tattoos bestimmte Regeln einhält, um ein guter Mensch zu sein. Wer es nur zu dekorativen Zwecken wählt, verfehlt demnach den spirituellen Zweck der Tinte.

So setzt sich das sakrale Sak Yant stark ab vom Trend im säkularisierten Westen, wo Tattoos nahezu alles bedeuten können. Vor allem sind sie Hautschmuck und Pose. Körperzeichnungen werden insgesamt immer populärer, doch unterliegen sie stark der Mode. Häufig dienen sie dem Körperkult oder der Selbstdarstellung, angeregt durch Profi-Fußballer oder Musikstars, die ihre Tattoos in der Öffentlichkeit zelebrieren. Wer Sak Yant in die westliche Kultur importiert, verwandelt die religiös aufgeladenen Zeichen. Eine als exotisch empfundene Ästhetik löst dann den spirituellen Gehalt ab.

Wer die Globalisierung der heiligen Tinte erkunden will, bittet um eine Audienz bei Ajan Noo Kanpai. Der Tattoo-Meister ist der prominenteste Vertreter seiner Zunft, er hat viele asiatische Stars tätowiert. Aber keine Kundin hat ihn so bekannt gemacht wie Angelina Jolie. 2003 fragte sie ihn, ob sie ein Sak Yant aus seiner Hand bekommen könne. Der Meister beriet sie und machte sich an die Arbeit. Die Fotos ihres Rückens gingen um die Welt, seither muss sich Meister Noo um Kundschaft keine Sorgen machen. Noch zwei weitere Male hat er Jolie tätowiert, 2004 und im Februar 2016, als die Schauspielerin für ihren neuen Film in Kambodscha arbeitete. Brad Pitt war auch dabei.

Meister Noo empfängt im Norden Bangkoks. Hinter dem Tor parken teure Limousinen, von denen es allerdings heißt, dass sie nicht alle dem Meister gehörten. Über eine Wendeltreppe steigt man hinauf in einen großen Saal. Viel Licht, weiße Fliesen, gerahmte Fotos, Buddhas hinter Glas. Und überall goldene Masken, die Pho Khae zeigen, den Eremiten aus der indischen Mythologie. Viele Meister berufen sich auf seine spirituelle Kraft. Und so wachen links und rechts zwei riesige Einsiedler-Statuen über die Arbeit von Ajan Noo. Ganz in Weiß gekleidet, hat sich der Meister in der Mitte auf einer flachen Bank niedergelassen. Er arbeitet im Lotussitz.

Gleich wird Noo erzählen, von der Kraft des Sak Yant, vom richtigen Weg im Leben. Und auch von Angelina Jolie und Brad Pitt. Weil sich die Filmstars nun aber scheiden lassen, ist das ein heikles Thema, das er mit größter Vorsicht behandeln wird. Vorher bittet er noch kurz um Geduld. Er möchte erst das Tattoo für eine Kundin fertig machen. Vor ihm kniet eine junge Vietnamesin. Die Hand des Meisters führt den Stab mit der Nadel, die Frau ist tapfer, verzieht nur selten das Gesicht. 15 Minuten dauert das Tätowieren am oberen Rücken. Dann dreht sich die Frau um, Noo segnet sie, indem er weiße Paste auf ihre Stirn pinselt. Macht 38 000 Baht - tausend Euro.

Die Palette magischer Tattoos und deren Kosten variieren von Meister zu Meister

Die Palette magischer Tattoos variiert von Meister zu Meister, die Kosten auch. Man darf ohne Übertreibung behaupten, dass sich der Ruhm für Meister Noo ausgezahlt hat. Er bestreitet es nicht, er steht zu seinen Preisen. "Und ich versteuere mein Einkommen ordentlich", sagt er, was man nicht von allen behaupten könne. Man hört es durchklingen, es geht nicht immer harmonisch zu in dieser Zunft.

Nicht nur Mönche stechen Sak Yant, auch Laien können das. Die Kunst wird vom Meister auf seine Schüler übertragen. Ajan Noo war auch mal Mönch, aber es ist lange her. Er wuchs auf in einer Gegend, in der es viel Gewalt gab. Bevor er ins Kloster ging, war er Mitglied einer Gang, sie nannten ihn Noo, den Hooligan. Ständig gab es Reibereien. Und so kam er auf die Idee zu testen, ober er sich nicht durch magische Objekte oder Gebete schützen könne. Weil er auch Kämpfe gegen Stärkere unversehrt überstand, kamen bald viele zu ihm und wollten, dass er sie beschützt. Als es Ärger mit der Polizei gab, versprach seine Mutter, ihn ins Kloster zu schicken. Noo wurde Mönch. Dort begann er das Tätowieren. Er stieg auf, sollte schließlich ein Kloster leiten. Aber Noos Leidenschaft war das Sak Yant. Als Abt erwarteten ihn andere Aufgaben. So verließ er das Kloster, um ein Studio aufzumachen. Der Ruf seiner Tattoos hatte sich längst verbreitet.

"Um ein guter Buddhist zu sein, braucht man keine Tattoos"

Und was sagt der Meister nun zu seinen prominentesten Kunden, Angelina Jolie und Brad Pitt? Auf Noos Website hat man folgenden Satz gefunden: "Dieselbe Tinte wurde bei beiden benutzt, um sie symbolisch als Mann und Frau zusammenzubinden." Nun ist es aber so, dass sich die beiden scheiden lassen. Ja, er wisse schon, dass das Fragen aufwerfe, sagt Noo. "Aber dieser Satz ist die offizielle Version." Und die inoffizielle? Bleibt unter Verschluss. Werden jetzt nicht viele denken, dass sein Tattoo gar nicht gewirkt hat? Nein, so dürfe man das nicht sehen, sagt Noo. Wichtig sei, dass das Tattoo die beiden spirituell verbinde. Scheidung hin oder her.

"Ich habe den Eindruck, dass sich der Kommerz immer mehr der magischen Tattoos bemächtigt", sagt Pathum Posawan, 88-jähriger pensionierter Lehrer, der die Geschichte des Tempels Bang Phra gut kennt. "Um ein guter Buddhist zu sein, braucht man keine Tattoos. Die Mönche sehen darin aber ein gutes Mittel zum Zweck. Es hilft ihnen, die Leute auf die rechte Bahn zu lenken."

Wer im Tempel Bang Phra ein Tattoo bekommen möchte, muss zumindest nicht fürchten, dass ihn die heilige Tinte arm macht. Man kauft Blumen, Zigaretten und Räucherstäbchen für 75 Baht. Und der Meister mit der Nadel bekommt 25 Baht. Macht alles zusammen: knapp drei Euro.

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Quelle:
SZ vom 18.03.2017/olkl
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