Käse, ganz richtig - es liegt durchaus nahe, diese Geschichte mit Käse beginnen zu lassen. Es geht, erstens, um einen Schweizer. Dazu um gutes Essen. Und darum, mit Bildern von gutem Essen Geld zu verdienen. Der "Chääs" muss dem Betrachter quasi auf der Zunge zergehen, obwohl er gar keinen im Mund hat.
Das funktioniert im Foodstyling nach ein paar simplen Tricks. Flaumiger Ziegenkäse auf zerbeultem Blechteller, und dem Großstädter wird warm ums Herz - die stallwarme Variante. Die Verknüpfung Silbermesser-Blauschimmel-Nüsse hingegen signalisiert kulinarische Noblesse. Oder goldgelbe Schmelzfäden im Close-up: Yummie, sofortiger Speichelfluss.
Sylvan Müller interessiert keines dieser Spielchen. Er hat Käse vollkommen anders und neu fotografiert. Eine Frau in fleckigen Arbeitshosen, Melkschemel unterm Arm, verschlossener Blick: Das ist sein Bild von "Bitto storico", einem Hartkäse aus dem Veltlin. Das eigentliche Produkt spielt eine Nebenrolle. Man möchte den Käse trotzdem sofort probieren, weil er gar nicht anders sein kann als echt, würzig, einmalig. Genau so wie die Frau, die ihn herstellt. Das Buch, aus dem das Foto stammt, wurde ein Bestseller und setzte neue Maßstäbe.
Fotos von "Lost Places":Der Reiz des Morbiden
Vergessene Orte, verlassene Fabrikhallen, Geisterhäuser: Viele Fotografen suchen den Kitzel der Vergänglichkeit. Sie finden ihn in den Alpen, an Plätzen aus DDR-Zeiten.
Sylvan Müller ist einer der erfolgreichsten Food-Fotografen im deutschsprachigen Raum. Wer ihn treffen will, muss nicht auf die Alm. Zürich genügt, der 45-Jährige hat sein Atelier in Luzern, aber ein Termin in der nahen Großstadt passt besser in den Kalender. Und doch, als Treffpunkt darf es ruhig etwas schick Urbanes sein. "Das kulinarische Erbe der Alpen" heißt der Band (AT Verlag), mit dem Müller Furore gemacht hat: eine Erkundungstour am Berg, zu Landschaften und Lebensmitteln. In der "Markthalle im Viadukt" verkehren eher Feinschmecker aus dem Flachland. Müller trägt Loafers und Lederjacke. Der Chronist des unverfälschten Geschmacks ist kein kantiger Eigenbrötler, auch wenn man sich das so vorstellt.
"Mich interessiert die Verletzlichkeit", sagt er, "darin zeigt sich die Schönheit von Menschen."
"Ich bin da mehr reingerutscht", sagt er im leichten Singsang und macht eine Armbewegung, die alles um den Bistrotisch herum zu umfassen scheint: die Regale mit Delikatessen, die ausgefeilten Zutatenlisten der schlendernden Kunden. Kurz, das Kochen und Essen, wie es viele heute betreiben - mit höchster Konzentration. Hineingerutscht, das ist für einen wie Sylvan Müller eine überraschende Aussage. Er fotografiert für Magazine perfekt arrangierte Stillleben aus Gemüse, Fleisch, Fisch. Er trägt eine Tasche voll schwerer Bildbände, die ihn bekannt gemacht haben. Das Alpenerbe, ein Trip durch Japans Küchen, "Leaf to Root" über den jüngsten Trend der Gemüseküche. Und da soll das Kulinarische nicht im Zentrum seiner Arbeit stehen?
Das tat es nicht immer, und vermutlich hängt mit Sylvan Müllers erstem Leben als Reportagefotograf genau die Tiefe und Ernsthaftigkeit zusammen, für die man seine Food-Arbeiten bewundert. Wobei es an Begeisterung (und Selbstbewusstsein) von Anfang an nicht fehlte. "Ich kann das jetzt", habe er als 16-Jähriger nach ersten fotografischen Versuchen zu Hause verkündet - er grinst bei der Erinnerung an so viel Großspurigkeit. Die Eltern rieten dann doch zu einer Ausbildung. Und früh geriet er über einen väterlichen Freund, einen freien Regisseur, an sein Lieblingsthema: Menschen. Markante Typen, Gesichter, in denen sich Wut, Trauer oder Glück spiegeln. "Mich interessiert die Verletzlichkeit", sagt er, "darin zeigt sich die Schönheit von Menschen."
Für das Luzerner Theater fotografiert er die Schauspieler nach dem Schlussapplaus, in Kostüm und Maske, aber vor Erschöpfung wie entblößt. Er bereist nach der Wende die Braunkohlereviere um Bitterfeld. Seine Fotoserie über junge Psychiatriepatienten in Tschernobyl ist beklemmend, ohne voyeuristisch zu wirken. Einfühlsam würde man die Aufnahmen nennen, wären diese Kinder nicht so von aller Welt verlassen, dass einem das Wort zu schön vorkommt.
Essen verbindet, eine gemeinsame Mahlzeit hebt Grenzen auf
"Es gibt in meinem Leben einige Brüche. Sie sind wichtig für mich und meine Arbeit", sagt Sylvan Müller. Ein paar Monate hat er in einem Weinberg gearbeitet anstatt hinter der Kamera. Und auf die Reportagen folgte mehrere Jahre lang reine Werbefotografie mit schicken Studios in der Schweiz und New York und mit ziemlich guten Honoraren. Bis ihm das alles zu glatt war. "Mir hat etwas Entscheidendes gefehlt. Ich wollte wieder Geschichten erzählen."
Geschichten über das Essen berühren und verbinden die Leute wie kaum etwas anderes. Wildfremde geraten so miteinander ins Gespräch. Eine gemeinsame Mahlzeit hebt Grenzen auf, Gerüche wecken Kindheitserinnerungen. Nahrungsmittel transportieren Emotionen. "Dieser Aspekt hat mich am Essen immer schon fasziniert", sagt Müller. Heute ist daraus eine Art Markenzeichen (und ein gutes Geschäft) geworden: Bilder von Menschen und ihrer Leidenschaft für Essbares. Männer oder Frauen, die kochen, jäten und schlachten, räuchern oder schälen. Die in Tokio auf dem Fischmarkt einkaufen oder in einem alpinen Hochtal alte Rübensorten anbauen.
Das trifft natürlich haargenau den Zeitgeist, die Suche einer weltweiten Wohlstandsschicht nach dem Urwüchsigen. Je ausgefeilter unsere Koch- und Essgewohnheiten werden, samt detaillierter Pläne zur Allergievermeidung, umso mehr soll das einzelne Produkt rein und unschuldig sein. Der Hype um authentische Nahrung verbindet die Sehnsucht nach Elementarem und das allgegenwärtige Connaisseurtum zu einem täglich konsumierbaren Statussymbol. "Im Grunde finde ich es suspekt, wenn Essen zur Ersatzreligion wird", sagt Sylvan Müller. "Aber mir ist klar, dass ich selbst Teil dieser Bewegung bin."
Umso wichtiger sind ihm Signale der Distanz. Er möchte nichts beschönigen, sondern "Geschichten zu Ende erzählen". So werden den Freunden der Alpenküche Bilder von Schlachtungen auf der Alm oder einem ausgeweideten Murmeltier nicht erspart. Oder er erlaubt sich ironische Brechungen, wie sie im Buch "Leaf to Root" über die sicher sehr vernünftige restelose Gemüseküche eingestreut sind - Schnecken, die über Blattwerk kriechen, aufgemalte Kreideknollen neben echten roten Beten. Die Botschaft: Bitte keine Dogmatik.
Oft hat er Stunden auf den einen Moment für das Foto gewartet
Trotzdem ist das Charakteristische an Sylvan Müllers Bildern diese gewisse Strenge. Der Schweizer verzichtet rigoros auf Kunstlicht, das gibt den Schwarzweiß-Porträts etwas Plastisches. Aus der alpinen Serie ist vor allem das Foto eines Hirten aus dem Aostatal bekannt geworden, mit Zicklein auf dem Arm. Blick zum Betrachter, dunkle Holzwand im Hintergrund. Sonst nichts. Auch die Rezeptbildstrecken wirken nüchtern konzentriert wie bei Versuchsanordnungen. Almbutter, frisches Brot, eine Schale Salz. Oder: Rübenkompott, ein Klecks Rahm. Schluss. Die Kunst heißt: weglassen. Das ist meilenweit entfernt von der Cheesecake-Wohligkeit der angloamerikanischen Foodstyling-Schule. "Donna-Hay-Licht" nennt Müller diese Art von sanftem Schein, mit dem die australische Köchin berühmt wurde. Inzwischen ist es sein Stil, der großflächig kopiert wird.
Natürlich heißt die Kunst auch: abwarten. Sich Zeit lassen. Für den mit Dominik Flammer herausgegebenen Band "Das kulinarische Erbe der Alpen" ist Müller drei Jahre lang durchs Gebirge gereist. Von Savoyen bis Slowenien, zu Imkern, Maronibauern, Schweinehaltern. Oft hat er Stunden oder Tage gewartet, bis der richtige Moment für das Foto kam - häufig passierte das gerade dann, wenn die Leute viel Arbeit und eigentlich keinen Nerv für ihn hatten. "Dann verstellen sich die Menschen nicht."
Sylvan Müller glaubt, dass er nur mit diesem Einsatz eine Bildqualität erreichen kann, die sein Metier überleben lässt, trotz Blogs und Instagram. Eigentlich, sagt er, "ist das ja ein unmögliches Arbeitsgebiet geworden, in dem ich tätig bin. Heute macht jeder auf der Welt Food-Fotografie."
Aber nicht jeder betreibt diesen Aufwand. Abgesehen davon hat er auf seiner langen Reise den Bitto Storico von Antonella Manni kennengelernt. Nicht einfach ein Käse, sagt Müller. Eine Offenbarung.