Gefängnisessen:Gutes aus der Knastküche

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Das Gefängnis HMP Brixton machte Schlagzeilen mit seinen Reformen in der Küche. (Foto: theclinkcharity)

Die britische Organisation „Food Behind Bars“ setzt sich für besseres Essen im Strafvollzug ein. Die Erkenntnis: Wo die Verpflegung stimmt, gelingt die Resozialisierung öfter.

Von Susanne Kippenberger

Ins Gefängnis zu kommen, ist schlimm, in ein britisches zu kommen, grauenvoll. „Unsere Anstalten stehen kurz vor dem Zusammenbruch“, erklärte die neue Justizministerin im Juli. Für ihren Antrittsbesuch hatte sich Shabana Mahmood das HMP Bedford ausgesucht, einen besonders berüchtigten viktorianischen Kasten. Im November erst hatte der Chefinspektor der britischen Gefängnisse die Zustände dort angeprangert: Hoffnungslos überfüllt, zu wenig Personal, ein Hort der Gewalt. Es gebe zu viele Ratten, an Regentagen stünde die Jauche auf dem Boden, und die Zellen seien dunkel und feucht. Es würde wohl niemanden wundern, wenn die Männer im Gefängnis von Bedford Wassersuppe aus Blechnäpfen löffelten.

Szenenwechsel. Ein Ort, der nicht ferner sein könnte vom Leben hinter Gittern, clean, hell, urban. In Londoner Clubs halten smarte Mitglieder ihre Business Meetings ab und stärken sich bei offenem Laptop an einer Quinoa-Bowl mit Lachs. So wie Lucy Vincent. Nur dass sie in den nächsten Stunden kaum zum Essen kommt. Denn sie muss viel erklären, und sie redet rasant, schließlich hat sie eine Mission: Das Essen in britischen Anstalten besser zu machen, das heißt: geschmackvoller, appetitlicher, abwechslungsreicher und gesünder. Dafür hat Vincent 2020 eine in Europa wohl einzigartige Organisation gegründet, die Charity „Food Behind Bars“, deren „Chief Executive“ sie heute hauptberuflich ist.

Die frühere Jounalistin Lucy Vincent, 32, hat sich der Verbesserung des Essens im Gefängnis verschrieben. (Foto: Food Behind Bars)

Für eine deutsche Journalistin ist es so gut wie unmöglich, in eine englische Haftanstalt hineinzukommen. Als Alternative hat Lucy Vincent für ein Treffen daher den Club vorgeschlagen. Hier veranstaltet sie sonst ihre Fundraisings. Die 32-Jährige ist viel beschäftigt. Kürzlich erst war sie im Buckingham Palace, wo Queen Camilla ihr zum „Inspirational Women Award“ der Daily Mail gratulierte. Dass eine englische Boulevardzeitung ein solches Engagement würdigt, statt eine böse Schlagzeile über verwöhnte Verbrecher rauszuhauen, ist allein schon bemerkenswert. 

Doch sollten Straftäter nicht bei Wasser und Brot für ihre Vergehen büßen? Das, so die Botschaft von „Food Behind Bars“, wäre nicht nur menschenunwürdig, sondern schön dumm. Denn so wie besseres Krankenhausessen zur Genesung der Patienten beitragen würde, könnte Essen, das schmeckt und genügend Nährstoffe enthält, das Wohlbefinden der Häftlinge stärken und damit auch die Moral und Sicherheit in den Anstalten; all das würde nachweislich sogar die Chancen auf Resozialisierung erhöhen. Eine anständige Ernährung hinter Mauern ist daher von gesellschaftlichem Interesse und Vincents Charity zum Vorbild geworden, nicht nur für Großbritannien.

Während die deutschen Justizvollzugsanstalten Ländersache sind, wird in Großbritannien alles zentral geregelt. Gefängnisse dürfen ihre Zutaten nur bei einem einzigen Anbieter bestellen, die Qualität der Lebensmittel ist entsprechend – nun ja, billig. Kartoffelbrei kommt aus der Tüte, gebratene Hühnerteile tiefgekühlt aus China. Dafür tragen britische Häuser den pompösen Titel His Majesty’s Prison (HMP). Als wären es Schlösser. Von wegen!

Häftlinge, die zusammen essen? Das gibt es vor allem in amerikanischen Filmen.

Lucy Vincent war schockiert, als sie erstmals von den Verhältnissen dort las. 2015 war ein vernichtender Untersuchungsbericht über die Versorgung erschienen: totgekochtes Gemüse, industrielles Convenience Food, gern übersalzen, kaum Vitamine. Als Journalistin schrieb Vincent damals mehrere Artikel über die Verköstigung und – wurde von der BBC gleich als Expertin eingeladen. Dabei hatte sie damals noch nie ein Gefängnis von innen gesehen. In einer Talkrunde mit Abgeordneten diskutierte die junge Frau das Thema mit Verve, bald luden Gefängnisdirektoren und Cateringmanager sie auch hinter Gitter ein.

Schon als junges Mädchen hatte Lucy Vincent ihrer Mutter geholfen, das Essen auszuliefern, das diese jeden Samstag für ein Obdachlosenheim kochte. Später jobbte sie in Restaurants, sogar als Journalistin und Aktivistin hat sie sich mit Servicejobs finanziert. Dabei hat sie der soziale Aspekt des Essens, „der Einfluss, den es haben kann“, schon immer mehr interessiert als der rein kulinarische. Im Falle des Gefängnisessens bedeutet „sozial“ übrigens so gut wie nie, dass Gefangene zusammen in einer Kantine speisen, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt. Die meisten essen allein in ihrer Zelle. 

Das führt zu großen logistischen Problemen. Gefängnisküchen, erzählt Lucy Vincent, liegen meist in einer abgelegenen Ecke des Gebäudes. Von da werden die Gerichte auf beheizten Servierwagen in die einzelnen Flügel gefahren. Das kann 20 Minuten dauern, oft gibt’s unterwegs Ärger. Bis die Gefangenen das Essen endlich in ihrer Zelle haben– „für viele der Höhepunkt des Tages“ –, ist alles im Zweifel kalt und matschig.

Lucy Vincents Besuche in den Anstalten addierten sich. „Aber als Einzelperson, ohne Team und ohne Geld, war es schwer, etwas zu bewirken.“ Mit der Gründung von „Food Behind Bars“ vor vier Jahren konnte sie Fördergelder beantragen, zunächst bei Stiftungen, und ein Stipendium für eine Recherchereise durch die musterhaften Anstalten Skandinaviens bekommen. Damals heuerte Vincent auch ihre erste Mitarbeiterin an, eine ausgebildete Köchin und Kriminologin, die anfing Rezepte für Gefängnisse zu entwickeln (gut und gut umsetzbar muss ein Essen sein) und Workshops für Mitarbeiter wie Insassen zu geben. „Heute werden wir überwiegend von den Gefängnissen selbst für unsere Arbeit bezahlt“, sagt Vincent. Sie hat mittlerweile vier Mitarbeiter, die in zwölf Gefängnissen Projekte angestoßen und hundert Rezepte entwickelt haben. Gerade erst, sagt Vincent, hätten sie ein „Prison Food Education Programme“ fertiggestellt; ein Schulungsprogramm mit dem Ziel, binnen drei Jahren das Essen von einem Viertel aller britischen Gefängnisinsassen zu verbessern.

Küchenschulung mit "Food behind bars". (Foto: food behind bars)

Einer ihrer Auftraggeber ist das HMP Woodhill, eine Anlage aus den 1990er-Jahren, in dem die Verhältnisse einem Untersuchungsbericht zufolge verheerend sind. „Sie haben die höchste Quote an Gewalt und Selbstverletzungen im ganzen Land“, so Vincent, „das Essen wurde von den Inspektoren als ein Grund dafür genannt – es ist grauenvoll. Und die Atmosphäre in der Küche toxisch.“ Die Ursachen sieht Vincent in fehlender Organisation, mangelnder Führung und einer ungesunden Hierarchie und Lagerbildung zwischen Angestellten und Insassen, die sie die „Wir-und-die-Kultur“ nennt, „die kann verheerende Folgen haben“. Ein Beispiel, das Vincents Beobachtungen nach garantiert zu Stress führt: wenn die Insassen in der Küche zu wenig zu tun haben. Chicken-Nuggets auspacken, auf ein Blech legen, fertig? Da sei klar, dass dann alle herumstehen, sich langweilen, dass es Ärger gibt. „Dort wird ja auch nicht frisch gekocht.“ Dabei wären die Arbeitskräfte ja da, um Kartoffeln zu schälen, statt Pulver in Töpfe zu schütten.

„Wenn Sie da hinkommen und sagen, Sie wollen das Essen verbessern, sind Sie sofort beliebt.“

Ein anderes Ärgernis ist das Budget. Der offizielle Verpflegungssatz in Großbritannien beträgt 2,70 Pfund (etwa 3,20 Euro) pro Tag. In bayerischen Justizvollzugsanstalten sind es 4,06 Euro, in denen Berlins sogar 4,50 Euro. Manche Direktoren legen 20 Pence drauf, „das kann schon einen Riesenunterschied machen“, sagt Lucy Vincent. Doch dafür werde dann in einem anderen Bereich gespart, bei der Bildung zum Beispiel oder der Kleidung. Und es gibt auch Gefängnisdirektoren, die weniger als 2,70 ausgeben. Dabei sind etwa 95 Prozent der Gefängnisinsassen Männer, und viele beschweren sich schon jetzt, nicht satt zu werden. Hat sie als junge Frau da nie Angst? Vincent lacht und schüttelt ihre blonden Haare. „Wenn Sie da hinkommen und sagen, Sie wollen das Essen verbessern, sind Sie sofort beliebt.“

Sie ist überzeugt, dass man schon mit kleinen Eingriffen viel verändern kann. Beim Frühstück etwa, „der umstrittensten Mahlzeit“, die zusammen mit dem Dinner schon am Spätnachmittag des Vortages ausgeteilt wird, in einer Box. Die meisten Insassen essen ihr Tütchen Cornflakes und ihr Marmeladenweißbrot deshalb schon in der Nacht, ob aus Hunger oder Langeweile. Das Mittagessen um halb zwölf ist dann ihre erste Mahlzeit. Lucy Vincent rät auch dazu, den Speiseplan zu vereinfachen, um so die Qualität zu verbessern. Weniger Alternativen, dafür frisch gekocht. Wobei es ihr beim Kochen nicht nur ums Essen geht, sondern vor allem um die Menschen.

Als Vorbild nennt Vincent die Küche im HMP Brixton, das früher einen besonders üblen Ruf hatte, mit seinen Reformen aber gezeigt hat, wie es gehen kann: In Brixton, erzählt Vincent, hätten sie damit angefangen, die Pasta al dente zu garen und seltener Frittiertes anzubieten, damit das Essen auf dem langen Weg in die Zellen ansprechend bleibt. Die Küche sei dort inzwischen organisiert wie in einem Restaurant, die Männer würden gut behandelt. „Sie arbeiten richtig hart, aber sie bekommen ein großes Frühstück, sitzen zusammen beim Lunch.“ In anderen Häusern werden die Küchenhilfen mittags für ein paar Stunden zurück in ihren Trakt geschickt. Die durchgehende Schicht ist Vincents Meinung nach aber nicht nur effektiver, die Moral verbessere sich dadurch ebenfalls.

Das Restaurant "The Clink" im HMP Brixton. (Foto: theclinkcharity)

In Brixton sind sie auf diese Weise weit gekommen, auch ein mittlerweile bekanntes Gourmetrestaurant gibt es, natürlich ausschließlich für auswärtige Gäste: „The Clink“ hat einen eigenen Gemüsegarten, bietet drei Gänge für umgerechnet etwa 50 Euro an, und Häftlinge machen ihre Ausbildung dort – in der Küche, im Service, in der Lebensmittelhygiene. Doch trotz des Erfolgs ist das HMP Brixton bis heute die absolute Ausnahme geblieben, wundert sich Vincent.

Im "The Clink" werden Häftlinge zu Servicekräften ausgebildet. (Foto: Holly Dwyer/theclinkcharity)

Aber auch Vincent und ihr Team mussten dazulernen. Von zu exotisch klingenden Gerichten wie Schwarze-Bohnen-Eintopf mit Salsa haben sie sich bei der Rezeptentwicklung wieder verabschiedet. Viele Häftlinge konnten damit nichts anfangen. Jetzt probiert Vincent es mit spannenderen, gesünderen Versionen von etwas, was die Insassen kennen. „Wenn du im Gefängnis bist, sehnst du dich nach Dingen, die dir vertraut sind.“ Mexikanisches Chili und vegetarischer Pie entpuppten sich als Erfolg. Das ist der Weg, den Vincent jetzt mit reformwilligen Gefängnisküchen gehen will: „Das, was die Leute mögen, so gut wie möglich zu machen.“

Im besten Fall kommen die Zutaten noch aus dem eigenen Garten. Außerhalb der Städte sitzen viele britische Anstalten auf riesigen Grundstücken. „Vor 25 Jahren hatten die meisten noch eine eigene Farm, die Obst und Gemüse für die Anstaltsküche produzierte.“ Doch je voller die Gefängnisse wurden, desto mehr ging die Eigenproduktion zurück. Gemüsegarten-Workshops gehören nun ebenfalls zum Programm der Charity. Gerade haben Insassen im HMP Stoke Heath erstmals den nackten Hof bepflanzt, mit Rüben und Sellerie gekocht und ein Gedicht über die Selbstermächtigung geschrieben. Das Modellprogramm wird ein Jahr lang laufen.

Im reformwilligen Strafvollzug legen Häftlinge neuerdings sogar Gemüsegärten an. Dort schmeckt auch das Essen wieder. (Foto: Food Behind Bars)

Die neue britische Regierung wird die maroden Gefängnisse so schnell nicht sanieren können. Der kurzfristige Weg lautet: Insassen früher entlassen. Damit sie für die Freiheit auch gerüstet sind und wieder lernen, sich um sich selbst zu kümmern, veranstaltetet „Food Behind Bars“ auch Kochkurse. Viele Insassen haben seit Jahren nicht mehr am Herd gestanden. Einige noch nie.

Das Interesse, sich selbst zu versorgen, sei definitiv da, sagt Vincent, Kochbücher gehörten in Gefängnisbibliotheken zur begehrtesten Lektüre, und in ihren Zellen würden die Insassen kreativ. Ihr Zaubertopf ist der Wasserkocher. „Das ist offiziell nicht erlaubt, wird aber meist geduldet.“ Im Kessel bereiten sie Currys zu und Nudelsuppen aus Hühnerknochen vom Mittagessen, oder sie karamellisieren Kondensmilch für einen Geburtstagskuchen. Es hat auch schon mal jemanden gegeben, der am Fenster Ricotta in Socken reifen ließ. Es seien auch diese kleinen Schritte, die sie an die Reform der Gefängnisküchen glauben ließen, sagt Lucy Vincent bevor sie geht, um ihre Tochter abzuholen, und den Rest ihrer Quinoa-Bowl stehen lässt. „Ich bin eine unverbesserliche Optimistin.“

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