Süddeutsche Zeitung

Ladies & Gentlemen:Die Stilhelden des Jahres

Wer machte in der Öffentlichkeit immer eine gute Figur, wer taugt als Vorbild? Die Wahl fiel diesmal auf Spitzenpersonal aus London und Berlin.

Von Julia Werner und Max Scharnigg

Gute Diva: Cynthia Erivo

Vom Sofa aus gesehen, ist es mittlerweile eigentlich egal, was auf den wenigen roten Teppichen passiert. Die Nachwuchsschauspielerinnen dort sind stinklangweilige Sexbomben oder Streberinnern mit politischer Botschaft auf dem Abendkleid, die Superstars nur noch peinliche Karikaturen, man denke an Lady Gaga. Langweilig also, wäre da nicht Cynthia Erivo. Die britische Sängerin und Schauspielerin trägt manchmal Nasenring und immer Plastiknägel, außerdem raspelkurze Haare, Federn, Rüschen, Volumen, Farbverläufe und riesige Dekolletés, sie bespielt gut gelaunt die ganze Klaviatur des großen Auftritts. Mitnichten aber nutzt sie Mode als Selbstvermarktungsvehikel, wie das heute üblich ist, nein, diese Frau liebt und versteht Mode! Wo soll man bloß anfangen? Bei ihrem neongrünen, steif abstehenden A-Linien-Kleid von Valentino Haute Couture bei den Golden Globes? Bei der hochgeschlossenen Robe mit Schwanen-Print und passendem Turban vom Basic-Bitch-Label Tory Burch? Oder beim Schiaparelli-Look bei der Premiere von "Dune", wo sie eine Wärme-Alu-Stola zum Pencil Skirt trug? Hier sehen wir sie beim Filmfestival in Venedig in Gucci, und diese Robe mit integriertem BH plus Engelsflügeln wirkt nicht lächerlich, weil die 34-Jährige das Geheimnis des sogenannten "Fashion Moments" entschlüsselt hat: Im Idealfall überwiegt dabei das Interessante das Schöne, aber nur ein klitzekleines bisschen, und wird in Symbiose mit der Trägerin zu einem Gesamtkunstwerk. Gute Mode an guten Diven sorgt dafür, dass die Show weitergeht. Keine Mode-Message war dieses Jahr wichtiger.

Guter Typ: Karl Lauterbach

Wer in der Politik Karriere machen möchte, sollte auf Extravaganz verzichten. Die kleinste Kapriole bei Kleidung, Brille oder Frisur wird hierzulande missgünstig ausgelegt, jede liebenswerte Eigenheit spätestens im Wahlkampf als Verhaltensauffälligkeit deklariert. Schon eine Fliege statt Krawatte am Hemdkragen gilt vielen Menschen als subversiv, und ein widerspenstiges Haarbüschel genügt ihnen als Beweis für einen provozierenden Wirrkopf. Nein, unauffällig in Form und Inhalt, so hält man sich als Politiker am besten. Umso wichtiger, dass in diesem formatierten Zirkus noch ein paar Figuren auftreten, die etwas von dem Menschen bewahrt haben, der sie mal sein wollten. Bei Karl Lauterbach sind in diesem Sinne trotz vieler Monate im Scheinwerferlicht immer noch Spuren des ulkigen Harvard-Professors nachweisbar. Zwar hat er besagte Fliegen ebenso souverän abgelegt, wie er sie davor trug, aber auch seine irrlichternd-schlaksige Körpersprache, die jugendliche Flinkheit im Blick, die randlose Brille und die Neigung seiner Frisur, vor wichtigen Auftritten unorthodoxe Grüppchen zu bilden, tragen zum Gesamtbild des Gelehrten bei. Botschaft: Das ist ein nüchterner Denker, der nicht viel auf Äußerlichkeiten gibt, das aber mit Genuss. Wir sind derlei nicht gewohnt, aber im angelsächsischen Raum ist der Stil Standard: offener Hemdkragen, eskalierender Pullover, schlechtes Sakko - Oxford oder Cambridge? Schätzung: Wenn nicht alles schiefgeht, wird Lauterbach in zwei Jahren endgültig Kult sein. Und das verstehen dann auch Menschen, die ihn jetzt noch "irgendwie nervig" finden.

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