Ist die Katze aus dem Haus, so sagt man, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Gemeint ist das üblicherweise auch als Warnung vor Chaos und Kontrollverlust. Doch was, wenn Freiheit und Grenzüberschreitung dem Haus ganz guttun? Wenn das Mäuse-Ballett erfrischend und sehenswert ist?
„Die Katze“ ist in diesem Fall der Münchner Zwei-Sterne-Koch Tohru Nakamura und das Bild zugegebenermaßen schon deshalb etwas schief, weil der Kontrollverlust geplant war und der Küchenchef sein Haus dafür höchst freiwillig zur Verfügung stellte. Weil Nakamura und ein Großteil seines Teams am vergangenen Wochenende nach Macau reisten, um auf einer Gala des Guide Michelin zu kochen, überließ er die Küche seinen acht Auszubildenden – sechs angehende Köchinnen und Köche sowie zwei Servicekräfte durften an drei Abenden für das Wohl von jeweils 34 Gästen sorgen.
In einem Restaurant dieser Kategorie ist das mehr als eine charmante Idee, es ist ein Novum und schon deshalb eine große Sache, weil ein Azubi-Dinner dem Perfektionsanspruch solcher Häuser eigentlich diametral zuwiderläuft.

In der Gourmetgastronomie mag seit Jahren von der neuen Lockerheit die Rede sein, vom Casual Fine Dining, doch die Wahrheit ist natürlich, dass man in Sterneküchen nichts mehr hasst, als irgendetwas dem Zufall zu überlassen. Alles ist bis ins Detail geplant, von der Position der Handtaschenbänkchen bis zu den Falten in den Servietten. Selbst aufrichtig gemeinte Lockerheit und Gastfreundschaft wirken oft einstudiert, werden so zu Elementen eines mehr oder weniger durchsichtigen Storytellings. Einerseits ist das nachvollziehbar, schon kleinste Unsauberkeiten in der Dramaturgie können die komplexen Abläufe in Toprestaurants gefährden. Doch überzogener Perfektionismus führt auch dazu, dass die Befangenheit der Gäste in manchem Speisesaal mit Händen zu greifen ist. Wer möchte schon dort essen, wo man zum Lachen in den Keller zu gehen scheint?
Vor allem deutsche Spitzenköche unterschätzen oft, wie wichtig es ist, Abläufe gezielt durcheinanderzubringen, auch um ihren Restaurants mehr Spontanität und Humor, sprich: Leben einzuhauchen. Den Azubis gleich für mehrere Tage die Küchenhoheit zu überlassen, ist da ein Schritt, der Schule machen sollte. Auch weil er zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Die Lehrlinge erfahren Selbstwirksamkeit – in Topküchen ein rares Gut. Und die Gäste lernen Haute Cuisine von einer anderen Seite kennen. Wie gut die Idee ankam, zeigt, dass die drei Abende binnen weniger Stunden ausverkauft waren, was auch am Preis gelegen haben wird: Mit 145 Euro für sechs Gänge, Aperitif und Getränkebegleitung verdient man sicher kein Geld, dafür aber gewinnt man viele Herzen.
Das Essen war auf beachtlichem Niveau, doch für den Zauber dieser Abende waren andere Dinge ebenso wichtig: Da war die fröhlich stimmende Aufregung der Lehrlinge. Da war der Mut zu gewagten Kombinationen (die Gelbschwanz-Makrele wurde mit Sake-, Whisky- und Cassis-Aromen begleitet). Und da war die erfrischend entwaffnende Offenheit bei Tisch. Wenn der Service Getränke mit Sätzen ankündigt wie: „Der Sake und ich waren noch nie Freunde, aber ich muss zugeben, wir nähern uns an“, dann darf sich mancher Profisommelier merken: Die Wahrheit liegt nicht immer in der Perfektion. So gelöst wie an diesen Abenden ist die Stimmung in der Sterneküche jedenfalls selten.
Im Restaurant denkt man bereits über eine Wiederholung nach. Unbedingt. Bitte mehr davon!
