Zugegeben, etwas albern sieht es schon aus: Samstagabend in einem Münchner Restaurant, den Arm senkrecht in die Luft gestreckt, hält man das Smartphone reglos in der Hand, den Finger der anderen Hand zum "Psst" auf die Lippen gepresst, um dem Gegenüber zu signalisieren, dass er nicht reden soll. So aber lautet die Bedienungsanleitung für die App "Soundprint": Nach oben halten und still sein, damit das Smartphone möglichst viel von der Umgebung mitbekommt. Denn Soundprint stellt fest, wie laut ein Lokal ist. 15 Sekunden hochhalten, dann steht das Ergebnis fest: 85 Dezibel, rotes Warnsignal, viel zu laut.
Die Messung ist in der App nun unter dem Restaurantnamen gelistet, neben - nicht gerade vielen - anderen Restaurants im Münchner Zentrum, für die schon Messungen existieren. Auf einer Landkarte ist verzeichnet, wo es im Schnitt wie laut ist. Wie Yelp oder Tripadvisor, nur für Lärm.
Speisekarte:Erfolg auf Bestellung
Der Einfluss der Speisekarte auf den Gast ist enorm. Um ihre optimale Gestaltung kümmern sich heute Profis wie der US-Amerikaner Gregg Rapp. Restaurants verspricht er ein Umsatzplus von 1000 Dollar pro Monat.
Die App gibt es seit 2018, in Europas Großstädten läuft ihre Nutzung erst langsam an, aber in den USA kann man das Bild des Arme in die Luft reckenden Lokalbesuchers immer öfter beobachten, wie ihr Erfinder Gregory Scott erzählt. In seiner Heimat New York nutzten inzwischen viele Leute seine App, um Lärm zu messen. Sechs bis sieben Bewertungen hätten New Yorker Restaurants im Schnitt. Nicht ohne Grund. Scott hat Messungen in mehr als 2700 New Yorker Restaurants und Bars erhoben. Sein Ergebnis: 71 Prozent der Restaurants sind zu laut, um sich vernünftig unterhalten zu können. Doch nicht nur in New York besteht Bedarf: Weltweit haben 80 000 Menschen die kostenlose App heruntergeladen.
Ist Lärm altersdiskriminierend? Die Jungen stört er nicht, die Alten hält er fern
Die Geschichte, wie es zu Soundprint kam, ist so warmherzig, dass sie das Zeug zum Gründungsmythos hat. Scott hatte wegen eines Hörschadens ein Problem damit, Frauen zu daten. Aus Angst, sein Gegenüber in lauter Umgebung nicht zu verstehen und so peinliche Situationen zu provozieren. Vor Dates war er oft extrem nervös. Lange irrte er durch New York, auf der Suche nach perfekten Date-Locations. Irgendwann nahm er einen Dezibelmesser auf seine Erkundungstouren mit und erstellte eine Liste mit ruhigen Lokalen, Cafés, Bars. Immer mehr seiner Freunde wollten die Liste haben. "So kam ich auf die Idee: Warum helfen wir uns nicht gegenseitig und teilen unsere Messungen miteinander?"
Soundprint verdeutlicht damit ein Problem, über das sich viele Gäste beklagen, gegen das aber keiner so richtig etwas zu tun weiß: In Restaurants ist es zu laut. Zu laut - das heißt mehr als 70 Dezibel, dann ist keine Unterhaltung mehr möglich, ohne die Stimme zu heben. Beträgt der Schallpegel über 80 Dezibel kann er auf Dauer gesundheitsschädlich sein. Wer die App mal an einem Regensonntag beim Brunch im vollen Café ausprobiert hat, wird merken, wie schnell diese Grenze geknackt ist. Eine Umfrage des Reservierungsservices "Bookatable" kam zum Ergebnis: Mehr als die Hälfte aller Befragten in Deutschland, Österreich und der Schweiz fühlen sich von der Geräuschkulisse in Lokalen gestört. Sich Anschreien, Kopf-Dröhnen - man kennt das. Und vom Gespräch am Nachbartisch kriegt man so oft mehr mit, als einem lieb ist.
Der Gastrojournalist Alexander Gilmour fand für das Phänomen zu lauter Restaurants in der Financial Times eine interessante Erklärung: Altersdiskriminierung. Restaurants seien für ein junges Publikum geschaffen, denn junge Leute seien cooler als ältere, würden mehr trinken, schneller essen und eh schreien - sie störten sich also nicht so sehr an Lärm, zum Nachteil älterer Besucher. Unfug, sagt Gregory Scott, der Soundprint-Erfinder: "Junge Menschen können mit Lärm vielleicht besser umgehen, aber das heißt nicht, dass er sie nicht stört." Die Daten von Soundprint würden indes zeigen, dass eine Vielzahl der Nutzer zwischen 25 und 30 Jahre alt sind.
Finden junge Menschen es nicht spießig, sich über Lautstärke zu beschweren? "Diese Annahme ist Teil des Problems", sagt Scott. "Es gibt noch kein Bewusstsein, wie schädlich Lärm wirklich ist." Scott vergleicht den Lärm mit dem Rauchen: Oft spüre man erst im Alter das Ausmaß jahrelangen gesundheitsschädigenden Verhaltens. "Durch die App fühlen sich Menschen bestärkt, sich über die Lautstärke zu beschweren", sagt Scott. Mit dem Dezibelbeweis auf dem Handy könnten sie sich problemlos an den Restaurantleiter wenden, der sei in der Regel verständnisvoll. "Wenn man ein Lokal eröffnet, denkt man beim Einrichten oft nicht an die Akustik. Das passiert erst, wenn die ersten Beschwerden kommen", sagt Scott.
Der Münchner Daniel Hildmann, der sich mit Innenarchitektin Daniela Wilke auf das Design von Lokalen spezialisiert hat, hält die Messung per App für eine gute Idee. "Es gibt ja Restaurants, wo einen der Lärm richtiggehend fertigmacht", sagt Hildmann. Akustikprobleme habe es früher weniger gegeben, vor allem, weil eben alles plüschiger gewesen sei. Teppiche, Tischdecken und Vorhänge absorbierten Geräusche. Doch dieser Stil wurde abgelöst von einem schicken Minimalismus, dazu offene Küchen und enge Tische - all das begünstigt eine laute Geräuschkulisse.
Für Hildmann gehört Lärmprävention längst zum Geschäft. "Erfahrene Gastronomen kennen das Problem", sagt er. Restaurants plant er von Anfang an auch unter akustischen Gesichtspunkten. Und die Zeit arbeitet für ihn: Denn Hildmann beobachtet, dass Markthallenflair und kantiger Minimalismustrend langsam überholt sind. "Es geht den Menschen ums Wohlfühlen. Restaurants ersetzen immer mehr das Wohnzimmer." Da soll es dann bitte auch so klingen: entspannt, unaufgeregt. Wohlfühlen hat eben auch mit Klang zu tun. Damit das gelingt, arbeitet Hildmann zum Beispiel mit Material in den Decken, das den Schall schluckt. "Das Design des Restaurants bleibt davon unberührt", sagt der Architekt. Manchen Restaurantbetreiber konnte er aber auch schon von Teppichböden überzeugen.
Auch Gregory Scott will den Restaurantbesitzern helfen, anstatt ihnen durch die Soundbewertungen weniger Gäste einzubringen - ganz so rigoros wie Yelp oder Tripadvisor ist Soundprint da nicht. Scott geht auf die Gastronomen zu, setzt sie in Kontakt mit Sounddesignern und Akustikberatern. Ändern die Restaurants etwas, können Daten aus der App gelöscht, die Lautstärke neu vermessen werden.
Und am Ende hilft sich Gregory Scott damit ja auch selbst: Seit es Soundprint gibt, laufe es mit dem Daten wesentlich besser. "Ich fühle mich jetzt wesentlich wohler vor den Treffen", sagt er.