Dänisches Streetfood:Die Welt ist eine Scheibe

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Neuinterpretation des Butterbrots im Restaurant "Selma" in Kopenhagen: Roggenbrot mit Zwiebeln, Holunderblüten und Kräutern. (Foto: Selma; Emily Wilson)

Smørrebrød ist für die Dänen ein Pausensnack und kulinarisches Kulturgut. Doch Meister in dieser Disziplin ist ausgerechnet ein Schwede. In seinem Restaurant "Selma" hat Magnus Pettersson das Butterbrot zum Gourmetessen erhoben.

Von Kai Strittmatter

Butter auf Brot ergibt ein Butterbrot. Butter auf Schwarzbrot: ein gesundes Butterbrot. Butter auf dunklem Roggenbrot mit Kernen, das Brot dicht saftig und "schwer wie ein Grabstein": ein dänisches Butterbrot. Smørrebrød. ("Smør" ist im Dänischen die Butter). Und Roggenbrot mit Leberpastete und Speck oder mit eingelegtem Hering, Röstzwiebeln, Ei und Remoulade, das sind Smørrebrød-Klassiker in dänischen Schullunchboxen und Firmenkantinen. Doch was, wenn man die Sache nun auf den Kopf stellt?

Der Hering nicht mehr auf, sondern unterm Brot, außerdem nicht monatelang eingelegt, sondern frisch, mit warmer brauner Butter übergossen. Und das Roggenbrot obendrauf, in hauchdünnen kleinen Stücken, getrocknet, in Butter gebraten, knusprig, leicht malzig im Geschmack. Hört sich jetzt auch nicht total durchgeknallt an. Hatte aber in Kopenhagen noch keiner gemacht. Oder auch so: ein Roggenbrot leicht getoastet, belegt mit sechserlei Tomaten - getrocknet, eingelegt, fermentiert, halb fermentiert. Gebettet auf Thymianmayonnaise, mit der leichten, zitrusartigen Schärfe von Timurpfeffer. Das wäre dann ein Smørrebrød im "Selma", gleich um die Ecke von den schicken Torve-Markthallen im Zentrum Kopenhagens. Belegte Brote, ja, aber auch irgendwie: "krass", wie ein jugendlicher Begleiter beim Lunch an einem lauen Septembertag ausruft.

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"Ich glaube, manche Leute hier denken, ich mache abstraktes Smørrebrød", sagt Magnus Pettersson, Eigentümer und Chefkoch im Selma. Er ist einer jener Kopenhagener Köche, die die Dänen in den letzten Jahren verblüfften, indem sie ihr geliebtes Smørrebrød neu erfanden. Pettersson gehört zu denen, die dabei am meisten auffielen. Der erste, der das Smørrebrød zum Thema für den Guide Michelin machte und für sein Lokal einen "Bib Gourmand" erhielt: Die Auszeichnung steht für eine Küche, die gleichzeitig exzellent, aber bezahlbar ist. Als Künstler sieht Pettersson sich dabei sicher nicht. Handwerker will er sein, aber einer, der das Letzte aus sich herausholt und mehr. Er respektiere die Tradition, sagt Pettersson. "Ich liebe die Seele des Smørrebrød." Nun suche er diese Seele, sagt er, Tag für Tag aufs Neue. Und wenn man nur genau hinschaut, dann kann man sie in den erstaunlichsten Dingen entdecken.

Dänemarks aktueller Smørrebrød-König ist ein Schwede: Der Spitzenkoch Magnus Pettersson in der Küche seines Restaurants. (Foto: Kai Strittmatter)

Die Liebe der Dänen zum Roggenbrot ist eine alte, wie so vieles hier im Land wird sie schon den Wikingern unterstellt. Fürs Mittelalter kann man erste Vorläufer des Smørrebrød nachweisen, zum dänischen Kulturerbe wurde es dann in der Industrialisierung: als Schüler- und Arbeiterbrotzeit. Der gemeinsame, simple Smørrebrød-Lunch ist noch heute ein fester Bestandteil des Arbeitstages in dänischen Firmen. Und während die Deutschen in der Corona-Pandemie Klopapier und Hefe horteten, mahnte Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen in ihrer Ankündigung des ersten Lockdowns im März 2020 die Dänen, jetzt bitte bloß nicht alles Roggenbrot aus den Regalen zu räumen. Drei Stunden später waren die Roggenbrot-Regale leer.

Anfangs schien das belegte Brot in Dänemark - nicht anders als in anderen Ländern - eine eher flache Angelegenheit gewesen zu sein, doch strebte es schon bald in die Höhe. Auch bei den Dänen zu Hause, wo oft kreativ gemischte Überreste des Abendessens (Schweinebraten, Kabeljau, Rote Bete) am nächsten Morgen das Brot in der Proviantbox der Schulkinder unter sich begraben. Die kunstvollen pyramidenartigen Butterbrot-Bauten aus Hering, Lachs, Shrimpssalat oder Kartoffeln, die man in den Auslagen der dänischen Smørrebrød-Läden sieht, scheinen ohne Grundkenntnisse in Statik kaum herstellbar zu sein, wobei meist überreiche Remouladen und Mayonnaisen als Zementersatz dienen. Kein Wunder, dass den Dänen der Schnaps ein treuer Begleiter des Smørrebrød ist.

"Smørrebrød ist Dänemarks Beitrag zur kulinarischen Weltgeschichte."

Smørrebrød, schrieb die Zeitung Politiken erst diesen Sommer wieder, sei "Dänemarks Beitrag zur kulinarischen Weltgeschichte". Wie andere Traditionen auch hatte das Smørrebrød allerdings seine Krisen. Anfang der Milleniumsjahre hatten die jungen Dänen kaum mehr Lust auf Smørrebrød, es galt mehr und mehr als langweilig, als Rentner-, und Arme-Leute-Essen. Vor 15 Jahren dann kam der Koch Adam Aamann und fing noch mal ganz von vorne an: Aamann buk sein eigenes Brot, legte seine eigenen Gurken ein und pflanzte die eigenen Kräuter an. Er befreite die Remouladen von ihrer Schwere, legte Wert auf frische, hochwertige Zutaten und belegte das Roggenbrot mit Dingen, an die bislang keiner gedacht hatte: gegrillte Gurke etwa, Kürbis oder geröstete Haselnüsse. Aamann erfand das Smørrebrød erstmals neu und löste einen wahren Boom aus, heute serviert er es in gleich drei schicken Lokalen in Kopenhagen.

Für die Zubereitung eines guten Smørrebrøds sind Grundkenntnisse in Statik von Vorteil; auch für Petterssons "Krabbenfelsen" mit "Kräuter-Bäumchen". (Foto: Camilla Stephan; Selma; Emily Wilson)

Das war die Zeit, erinnert sich Magnus Pettersson, als viele Dänen noch erschraken, wenn man ihnen die gewohnte Zitronenscheibe ganz oben auf der Smørrebrød-Pyramide nahm und sie ersetzte durch einen Orangenschnitz. "Die Leute schauten dich an und sagten: Irre!" Magnus Pettersson war selbst drei Jahre lang Chefkoch bei Aamann und hatte dort schon mitgewirkt an der Smørrebrød-Revolution, bevor er 2017 sein eigenes Restaurant eröffnete: Selma, benannt nach seiner heute zehnjährigen Tochter. "Ich wollte einfach mehr", sagt er über seinen Weggang von Aamann. "Ich wusste, dass wir die Möglichkeiten des Smørrebrød noch lange nicht ausgeschöpft hatten." So kam es, dass die Neuerfindung des Smørrebrød noch einmal neu erfunden wurde.

Anders als das Smørrebrød ist Magnus Pettersson gar kein Däne. Der 43-Jährige kommt aus Schweden, lernte das Kochen als junger Mann in Stockholm, Paris und in London, wo er gleich nach Ankunft zwei Wochen im Park schlief, weil er kein Geld für die Miete hatte. Nach Dänemark kam er eigentlich wegen der Liebe, 20 Jahre ist das schon her. Das entspannte, lässige Kopenhagen, sagt er, habe es ihm gleich angetan.

Wenn die Schweden Butterbrot essen, dann nehmen sie lieber Weißbrot. Und während manche dänische Zeitung es noch immer "ironisch" findet, dass ausgerechnet ein Schwede das Smørrebrød in den Guide Michelin gehoben hat, findet Pettersson selbst, seine Herkunft und der Abstand zur dänischen Tradition, das seien eher Vorteile: Die alten Smørrebrød-Regeln, die viele Dänen von Kindheit an verinnerlicht haben, die schiebe er leicht beiseite. "Ich setze mir keine Schranken, was geht oder nicht geht."

"Ich setze mir keine Schranken, was geht oder nicht geht", sagt Magnus Pettersson. Hier seine Brotschnitte mit Blüten und Blättern in Herbstfarben. (Foto: Selma; Emily Wilson)

Die neue Heimat Kopenhagen war auch aus diesem Grund ein Glücksfall: Magnus Pettersson erlebte die kulinarische Revolution in der Stadt aus nächster Nähe, die Erfindung der neuen nordischen Küche durch René Redzepi, Chef des Restaurants "Noma". "Das Noma hat allem, was hier gerade geschah, den Teppich unter den Füßen weggezogen", sagt er, "es hat uns alle auf ein neues Niveau gehoben." Heute kocht auch Pettersson mit lokalen und saisonalen skandinavischen Produkten, legt Wert auf Nachhaltigkeit und die Zusammenarbeit mit kleinen, regionalen Bioproduzenten. Und wenn die einmal nicht liefern können, wird nicht Ersatz besorgt, sondern die Speisekarte spontan umgestellt.

Im Selma steht auch Tartar auf der Karte, aber das ist das einzige Fleischgericht. Eine Ausnahme macht Pettersson auch für Fisch, genauer gesagt für Hering, Lachs und Makrele. Vor allem aber ist Magnus Pettersson ein Vorreiter des vegetarischen und veganen Smørrebrød. Ein Wagnis, sagt er, sei das anfangs gewesen, Brot mit Gemüse zu belegen - und dann war der knusprig gebratene Sellerie mit gerösteten Haselnüssen, frischem Trüffel und Brunnenkresse gleich das meistbestellte Gericht. "Die Zeiten haben sich geändert", sagt Pettersson. Die Leute sind bereit für Neues. "Unser Timing war gut." Umgerechnet 15 bis 21 Euro kostet ein Smørrebrød bei Selma, mit zwei ist man satt für den Rest des Tages. Dazu trinken die meisten Craft-Bier, manche auch die selbstkreierten Schnäpse, einer davon aromatisiert mit übrig gebliebenem Roggenbrot.

Eines, sagt Pettersson, solle sich bei aller Kreativität nicht ändern: "Smørrebrød ist Comfortfood." Er möchte die Leute überraschen, ja, aber er will sie dabei abholen. "Es gibt nichts Größeres, als wenn du mit einem Gericht schaffst, dass den Leuten die Erinnerung an ihre Kindheit aufsteigt." Als die Zeitschrift Vice Pettersson bat, für sie ein einfaches Smørrebrød zuzubereiten, da entschied er sich für einen Belag, mit dem nicht nur dänische Kinder aufwachsen: Makrele mit Tomatensoße, für gewöhnlich schlimmes Dosenfutter. Magnussen filetierte frische Makrele. Statt sie zu braten, salzte er sie leicht und legte sie dann kurz ein in den Saft frisch pürierter Tomaten, Olivenöl und Zitrone. Er schlug eine frische Mayonnaise mit Dijon-Senf und fein gehackten Kapern auf und servierte das Brot dann mit ein paar frischen Tomaten, in Roggenmehl panierten Röstzwiebeln und den frisch gepflückten Blüten vom Schnittlauch und Holunder. Der Vice-Journalist, selbst Däne, kostete und urteilte: "bahnbrechend".

Ein guter Brotbelag? Yuzukosho, Blätter der Austernpflanze und fermentierte Stachelbeere

Heute, vier Jahre später, steht das Gericht noch immer auf der Karte, gerade ist Makrelensaison. Aber Magnussen hat es weiterentwickelt, gibt nun eingelegte grüne Tomaten und marinierte Gurkenkügelchen dazu und würzt es mit Yuzukosho, einer Pfefferpaste aus der Schale einer japanischen Zitrusfrucht. Oben drauf kommen Blätter der Austernpflanze und ein wenig fermentierte Stachelbeere. "Das Gericht ist nun ein wenig ausgefallener und erwachsener", sagt Pettersson. "Aber es ist noch immer Makrele mit Tomatensoße. Und es erinnert mich noch immer an meine eigene Kindheit."

Dänemark hat die Corona-Beschränkungen Anfang September komplett abgeschafft. Das Selma ist wieder voll, jeden Tag, auch zur Lunchzeit. Und die Leute strömen auch in die anderen Smørrebrød-Lokale der Stadt. "Ich bin nicht mehr der einzige Verrückte", sagt Magnus Pettersson. Oh ja, sagt er, er habe noch viel vor mit Smørrebrød. "Ich habe gerade erst angefangen."

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