Süddeutsche Zeitung

Essen und Trinken:Gelbes Gold

Ob im Salatdressing, zu Käse, auf dem Burger und sogar im Kuchen - ein Klecks Senf macht alles besser. Eine Verneigung vor der besten Nebensache auf dem Teller.

Von Kathrin Hollmer

Im Sommer 2021 rief ein Kunde an einem Stand auf dem Münchner Viktualienmarkt die Polizei. Der Grund: Man hatte ihm seine Leberkässemmel mit süßem Senf statt - wie bestellt - mit mittelscharfem serviert. Das sagt eigentlich schon alles, die Geschichte könnte hier zu Ende sein: Senf ist, ganz offensichtlich, ein Bauchthema.

Lebensmittel haben generell mit Gewohnheit zu tun, aber nur bei wenigen spielt sie eine so große Rolle wie bei Senf. Emotional behaftet ist nicht nur die Sorte: der süße zur Weißwurst, der mittelscharfe zur Bratwurst, beim Leberkäse wird es, wie erwähnt, schon komplizierter. Auch die Marke ist wichtig: Im Rheinland bevorzugt man Löwensenf, im Osten Bautz'ner, in Bayern mittelscharfen von Develey aus Unterhaching, wobei zum Konzern ironischerweise heute auch die beiden ersten Marken gehören. Bei süßem Senf schwören viele Bayern wiederum auf Händlmaier aus Regensburg, wobei Johann Develey aus Unterhaching den süßen Senf einst erfunden hat. Senfmarken und -sorten haben offenbar die Macht, Kunden zu treuen Liebhabern, ja kompromisslosen Anhängern zu machen: In den Eberhofer-Krimis malt Kommissar Eberhofer Herzen aus süßem Senf auf seine Leberkässemmeln, auf Instagram wird das Hashtag #senfliebe verwendet. Und die Marke Händlmaier hat sogar zwei Fanklubs, einen in Niederbayern und einen in Cincinnati, USA.

Wie essenziell Senf ist, konnte man im Sommer in Frankreich beobachten. Dort wurde er knapp, nachdem die Ernte in Kanada 2021 so schlecht ausgefallen war. Die meisten Hersteller beziehen ihre Senfkörner aus Kanada und Osteuropa, auch der Krieg in der Ukraine führte zu Engpässen. In Frankreich wurde in manchen Läden nur noch ein Glas pro Person abgegeben. Die Folge: empörte Kunden und verzweifelte Anrufe bei der Burgunder Senfvereinigung. Schließlich ist Senf in Frankreich Grundnahrungsmittel. Die Stadt Dijon erhielt im 13. Jahrhundert das Monopol für die Senfherstellung in Frankreich. Bis heute ist die Senfkultur im Land ausgeprägt. Normalerweise sind selbst in Tankstellen-Shops ganze Regale mit Senf gefüllt, seit diesem Sommer stehen viele Regale leer.

In Deutschland näherte man sich dem Thema lange eher vorsichtig. Was man weiß: Die nussige Schärfe von Senf kann aus einer Bratwurst oder einem Stück Käse ein kleines Erlebnis machen und aus Salatblättern oder ein paar hartgekochten Eiern ein Gericht, sobald man ihn ins Dressing oder in die Soße rührt. Keine große Sache? Genau diese Unterschätzung war lange das Problem. Erst neuerdings bekommt Senf hierzulande die Aufmerksamkeit, die er verdient. Dementsprechend aufgestockt hat man im Handel.

Im Supermarktregal stehen inzwischen Whisky- und Champagnersenf, Senf mit Bärlauch, Birnen, Blaubeeren oder Wasabi, mit norddeutschen Äpfeln oder exotischer Mango. Senf steckt in Dressings und Soßen, in Chips und Brotaufstrichen. Er ist also ein Lifestyle-Produkt, einerseits. Doch trotz aller Vielfalt essen die Deutschen statistisch gesehen nach wie vor am liebsten mittelscharfen Senf. Dazu gibt es ein paar regionale Unterschiede: Der Norden isst mehr Dill-Senf-Soße zu Fisch, Berlin und Nordrhein-Westfalen lieben scharfen Senf, und in Bayern mag man mehr süßen.

In der ambitionierten Küche war lange Dijon-Senf der Favorit, wobei der Begriff nicht geschützt und das Monopol lange gefallen ist, seit 2009 wird in der Stadt überhaupt kein Senf mehr hergestellt. Auch müssen sich andere Sorten heute nicht mehr verstecken, ebenso wenig wie die Senfkultur in Deutschland. Firmen wie Wajos in Dohr in Rheinland-Pfalz, die unter anderem Riesling- und Balsamicosenf verkauft, die Senf- und Gewürzmanufaktur Mari aus Heinrichshofen im Landkreis Landsberg am Lech oder die Manufaktur Münchner Kindl Senf in Fürstenfeldbruck bei München haben zur neuen Vielfalt und Qualität beigetragen.

Gérard Depardieu lobte den Dijon-Senf aus Bayern - und tunkte Weißwurst hinein

Besuch in der Firmenzentrale von Münchner Kindl Senf. Dort kommt man doch noch einmal auf das Thema Dijonsenf, der in der Firma sogar einen eigenen Raum hat. Für ihn wird nur das Innere des Senfkorns verwendet, wo die Schärfe sitzt, die Schale wird abgesiebt. "Weil man hier nur die Essenz des Senfkorns verwendet, spürt man die Schärfe in der Nase", erklärt Lisana Hartl, die mit ihrer Schwester Catalina das Familienunternehmen führt.

Im Lager nebenan duftet es nach Kreuzkümmel und Kurkuma. In den Gefriertruhen liegen Feigen und Mango-Püree, die wichtigste Zutat aber lagert ganz unprätentiös in großen Säcken: gelbe und braune Senfkörner, die sie aus dem nahen Pfaffenhofen an der Ilm beziehen. Die Saatkörner der Senfpflanze, die man aufgrund ihrer gelben Blüten auf dem Feld leicht mit Raps verwechselt, sind die Basis aller Senfrezepte.

Die Firma begann 1920 als Metzgerei auf dem Viktualienmarkt in München. Die Kunden bekamen den süßen Senf, den Lisana Hartls Großvater damals kochte, zum Einkauf geschenkt, bald fragten auch Standnachbarinnen, Kunden und Wirtinnen danach. Die Metzgerei gibt es heute nicht mehr, doch Münchner Kindl Senf verkaufte weiter süßen und bald auch mittelscharfen Senf. Lisana Hartls Vater Theo übernahm 1986 die Produktion, stellte auf Bio um und begann, mit Rezepten zu experimentieren. Mehr als 200 haben die Hartls über die Jahre gesammelt. Zum Sortiment gehören heute unter anderem Trüffel- und körniger Himbeer- oder Biersenf. Ihre Produkte sind mehrfach ausgezeichnet und werden in Oktoberfestzelten wie Bio-Hotels gereicht. Bei den Dreharbeiten für die Serie "Schlemmen mit Gérard Depardieu", erzählt Hartl, lobte der französische Schauspieler ihren Dijon-Senf und tunkte eine Weißwurst hinein.

Jeder Senf hat eine andere Rezeptur, doch am Anfang wird immer eine Maische angesetzt. Dafür werden die Senfkörner (für feinen mittelscharfen oder scharfen Senf nimmt man geschrotete Körner) in eine Mischung aus Essig, Wasser, Salz und Gewürzen eingelegt. Für mittelscharfen Senf werden gelbe und braune Senfkörner vermahlen, bei scharfem ist der Anteil der schärferen braunen Körner höher. "In Kontakt mit Wasser reagiert das Innere des Senfkorns, und beim Mahlen tritt das Senfallylöl aus, das die charakteristische Schärfe gibt", sagt Lisana Hartl. Nach dem Quellen kommt die Mischung in die Senfmühle, aus der direkt die gelbe Paste fließt.

Die gelbe Farbe verdankt Senf Kurkuma

Das charakteristische Gelb bringt in der Regel Kurkuma, eigentlich hat Senf eine gräulich-braune Farbe. Auch hier gibt es regionale Unterschiede: "Die Berliner mögen ihren Senf eher nicht gefärbt, in Süddeutschland und Österreich ist er viel gelber", sagt Hartl. Körniger, auch Rotisseur-Senf genannt, ist in Baden-Württemberg beliebt, dabei werden die Körner im Ganzen oder aufgebrochen grob vermahlen. Wenn die Körner beim Draufbeißen im Mund platzen, ist das ein besonderes Geschmackserlebnis.

Körnigen Senf empfiehlt Hartl zum Kochen: "Hitze zerstört die ätherischen Öle im Senf, man verliert die Schärfe, und der Geschmack verändert sich. Im Korn ist die Schärfe etwas geschützt." Grundsätzlich solle man Suppen und Soßen deshalb erst am Ende mit Senf abschmecken. Für Salatdressing eignen sich körnige und feine Sorten oder fruchtige mit Beeren, Mango und Orange. Im Dressing sorgt Senf als Emulgator dafür, dass sich Essig und Öl harmonisch verbinden.

Lisana Hartls Faustregel: milder Senf zu milden Gerichten und zum Backen, schärferen Senf zu deftigeren Gerichten. Sie backt sogar Süßes mit Senf. In Kürbis-Muffins gibt sie einen Esslöffel süßen Senf statt einer Prise Salz, die Füllung vom Nusszopf würzt sie mit Feigensenf. Mittelscharfer oder scharfer Senf ist längst mehr als ein Dip zu gegrilltem Fleisch oder zur Bratwurst. Er gehört in die Senfsoße zu Eiern oder Fisch und zum Grünkohl, er würzt sogar Shakshuka. Nicht nur Fleisch kann man mit Senf marinieren, sondern auch Tofu - "am besten in Kombination mit Sojasoße, das ist eine echte Geschmacksexplosion", sagt Hartl. Fruchtiger Mangosenf passt zu Fisch, Geflügel, Frischkäse und milden Weichkäsesorten. Hartl empfiehlt süß-scharfen Senf zu kräftigem Käse, etwa Feigensenf zu würzigem Manchego und Birnensenf zu Blauschimmelkäse. "Fruchtig-süße Senfe passen sowohl zu mildem als auch zu kräftigem Käse." Honig- und Himbeersenf wiederum schmeckt gut zu Schafs- und Ziegenkäse, Mangosenf zu Hartkäse.

Gerade in der vegetarischen und veganen Küche wird Senf gerade beliebter, als universelle Würze oder auf dem Brot. Mit der Köchin Sophia Hoffmann hat Münchner Kindl Senf einen Apfel-Meerrettich-Senf mit Rote-Bete-Saft entwickelt, der für Dressings, zum Marinieren insbesondere von Tofu, Grillkäse und Gemüse, aber auch als Brotaufstrich gedacht ist. "Senf ist in jeder Küche vielseitig einsetz- und kombinierbar", sagt Sophia Hoffmann, die im Herbst in Berlin das Restaurant Happa eröffnet. "Er rundet den Geschmack von Gerichten perfekt ab, weil er gleichzeitig Säure und Schärfe mitbringt."

Praktisch: Schlecht werden kann Senf eigentlich nicht

Das gilt am Imbiss oder bei der Brotzeit ebenso wie in der Sterneküche, wo auch viel mit ganzen Senfkörnern gearbeitet wird. Im Berliner Sternelokal Tulus Lotrek gibt es in Dashi gegarten Rettich mit Senfsaat und Shiso. Im Zwei-Sterne-Restaurant Atelier in München serviert Küchenchef Anton Gschwendtner bayerische Forelle mit Meerrettich und Savora-Senf. Auch in der modernen Alltagsküche fehlt Senf so gut wie nirgends. Alison Roman kombiniert in ihrem Buch "Nothing Fancy" ein Dressing mit körnigem Senf zu grünen Bohnen. Anna Jones toppt in ihrem Rezeptband "One" Ofenkartoffeln mit gedünstetem Lauch, körnigem Senf und Cheddar.

Schlecht werden kann Senf übrigens nicht. Hartl rät, ihn dunkel und kühl aufzubewahren und immer ein sauberes Messer oder einen sauberen Löffel zu benutzen, damit keine Krümel ins Glas gelangen und womöglich Schimmel entsteht. Wenn sich Flüssigkeit im Senfglas absetzt, sei das kein Problem: "Synärese nennt sich der Vorgang, da kann man einfach umrühren." Mit der Zeit verliert Senf aber seine Schärfe. "Dadurch verändert sich der Geschmack, weil die Gewürze dann intensiver zu schmecken sind", sagt Hartl. Senf hamstern ist also keine gute Idee, immer eine Lieblingssorte im Kühlschrank zu haben, dafür eine umso bessere.

Kürbis-Muffins mit süßem Senf von Lisana Hartl

Zutaten (für 12 Muffins): 200g weiße Schokolade, 100g Butter, 1 EL süßer Hausmacher Senf, 2 TL Schmand, 50g Rohrzucker, 160g Mehl, 2 Eier, 1/2 Päckchen Backpulver, 80g gemahlene Mandeln, 1 TL Zimt, 100g Kürbisraspel (Hokkaido), 12 Papierförmchen, Puderzucker

Zubereitung: Den Ofen auf 180°C vorheizen. Schokolade hacken und mit der Butter etwa 5 Minuten bei mittlerer Hitze schmelzen und immer wieder umrühren. Schmand zugeben und 3 Minuten unterrühren. Alles abkühlen lassen. Eier, Zucker und Salz schaumig schlagen. Flüssige Schokolade unterrühren. Mehl, Backpulver, Mandeln, Kürbisraspel, Zimt und Senf unterrühren. 12 Muffinförmchen auf das Back- oder Muffinblech geben und zu zwei Dritteln mit Teig füllen. 18 bis 20 Minuten backen, bis sie goldgelb und innen noch feucht sind, abkühlen lassen und mit etwas Puderzucker bestreuen.

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