Die Sonne scheint auf den hellen Sand von Derrynane Beach. Die kleine Bucht an der Westküste von Irland ist ein Traumstrand, geschützt vor den Wellen des Atlantiks zieht er sich jetzt, bei Ebbe, bis zu einer kleinen Halbinsel. Dort, wo der Sand noch nass ist, beugt sich John Fitzgerald über ein paar bewucherte Steinbrocken. Zupft zarte hellgrüne Strähnen von der karstigen Oberfläche und dicke, glibberige Blätter, deren dunkles Braun sich gerade wieder schwarz färbt, weil Regen einsetzt. Über diese Pflanzen ziehen nicht nur die Gezeiten, sondern auch extreme Wetter. Die eben herangewirbelten Wolken ziehen bereits weiter, verschatten die nahen Berge, der Schauer ist vorbei. Vor einem Felsen verteilt der weißhaarige Mann die Beute.
Die Algen, die er gesammelt hat, schmecken alle. Und so verschieden wie Spinat, Kohlrabi und Möhren. Wer Algen nur als Nori kennt, in den die Japaner Sushi einwickeln, kaut lange und staunt: die salzige Frische der Wakame-Blätter erinnert an Austern, die Strünke des Samphire, den manche unter dem Namen Meerfenchel kennen, haben kaum Meeresaroma, sie sind knackig wie kurz gegarter Spargel.
Die Algenwanderungen von John Fitzpatrick sind gefragt, vor allem der Workshop, in dem die Pflanzen, die man morgens sammelt, nachmittags zubereitet und verkostet werden. Die Menüs seiner Frau Kerryann enthalten von der Vorspeise bis zum Dessert Algen, und Fitzpatrick kann seit Kurzem sogar Messer mit Griffen aus Algenstängeln neben die Teller legen. Das Verfahren zum Aushärten der weichen Stücke lässt er sich gerade patentieren, in der Hoffnung, dass sie als Accessoire bald auf die Tische der vielen Restaurants kommen, in denen Spitzenköche so an Algenrezepten tüfteln wie Kerryann in der Küche des "Blind Piper".
Irland ist bei diesem Boom vorne mit dabei
Algen sind - zum "Meeresgemüse" um-etikettiert - gerade Trend, als "Superfood" (wegen der Nährstoffe), weil sie vegan sind und weil sie - wo sie nachhaltig geerntet werden - die Umwelt schonen. Irland ist bei diesem Boom vorne mit dabei. Auch in anderen Ländern mag man mit Algenfarmen und Wassertanks auf der grünen Wiese experimentieren, hier liegt der Schatz vor der Haustür: Entlang der mehrere Tausend Kilometer langen Küste wachsen mehr als 600 Algenarten. Außerdem hat Irland ein paar Jahrhunderte Vorsprung. "Das Sammeln und Essen von Algen hat in Irland eine lange Tradition", doziert John Fitzpatrick, "ein dicht bewachsener Felsen an der Küste war einst genauso viel wert wie ein Feld." Und viele Familien erinnerten sich an den Onkel, der stets getrocknete Algen als Proviant in der Jackentasche trug. Noch bis in die Siebziger sammelte man Algen so, wie Kontinental-Europäer in die Pilze gehen, mit Korb in der Hand und viel Erfahrung.
Robert J. Flaherty ließ für seinen Dokumentar-Klassiker "Man of Aran" vor mehr als 80 Jahren noch Frauen in dicken Wollröcken durchs Salzwasser waten und ernten, ihre Männern wuchteten später die schweren Körbe über Klippen auf steinige Felder. Während Seefahrernationen wie die benachbarten Briten vor allem fischten (und in Kriege zogen), waren die Iren findig darin, das zu verwenden, was in Küstennähe wuchs oder angeschwemmt wurde, "unaufhörlich von gewaltigen Wellen, die von fremden Abgründen heranrollten, um ungestüm und heftig gegen die Ufer der Strände zu brechen", wie Séamus Mac an Iomaire in seinem Klassiker "The Shores of Connemara" schreibt; das Ernten der kräftigen Kelp-Pflanzen galt dem Autor als "harte und anstrengende Arbeit" für einsame Strandläufer mit einem Croísin in der Hand, einer Stange, an deren Spitze ein Messer sitzt.
Kelp war da schon lange ein Wachstumsmarkt für das frühe Industriezeitalter, das die nährstoffreichen Pflanzen als Dünger oder Futter verwendete, vor allem die Asche, aus der man Seife oder Farbstoff gewinnen konnte. Nach 1820 war in der Medizin dann das Jod gefragt, später entdeckte man Algen als Geliermittel, das für die Eiscreme-Herstellung ebenso wichtig war wie für den Textildruck. Der irische Staat gründete 1947 die Firma "Arramara Teo", die bis zur Erfindung synthetischer Emulgatoren 30 Jahre später Hunderte Pflücker beschäftige. Auch danach finanzierte die Regierung weiter Grundlagenforschung zu Algen, und Meeresbiologie ist nicht nur Studienfach, sondern wird auch in Abendkursen und bei Umschulungen unterrichtet.
Kein Wunder also, dass nun das halbe Land bereit steht für den Boom der Algen als Lebensmittel. Paul Cobb zum Beispiel, der bis zur Finanzkrise in der Baubranche war und danach bei einer Algenfarm anheuerte. Vor der Küste von Bantry versenkt Cobb lange Seile im Wasser, die er jetzt im Frühjahr, dicht bewuchert, wieder aberntet. Dazwischen tüftelt er daran, Braun- und Rotalgen in küchenfertige Produkte zu verwandeln. Beliebt sind seine "Chorizo Style Vegan Sausage", vegane Würstchen, die über Eichenholz geräuchert sind.
Die Meeresbiologin Cindy O'Brien und ihre Tochter Sinead bieten Besuchern in Gewächshäusern, die an einem Meerarm in Sichtweite der Aran-Inseln stehen, asiatisch abgeschmeckte Algensalate an. Eigentlich betreiben die Frauen eine Abalone-Farm, doch haben sie zufällig bemerkt, dass sich Dulse oder Meeresspaghetti in den von Salzwasser durchspülten Plastiktanks wohlfühlen, in denen auch die Muscheln reifen. Nun vermarkten sie Meeresgemüse - unter dem mit einem knurrigen Seebären verzierten Label "Mungo Murphy's".
James Cunningham wiederum denkt in größeren Maßstäben. Er hat noch bis vor Kurzem ein nach der Algenart "Dulse" benanntes Restaurant in Barna nahe der Westküstenstadt Galway geführt, in der Küche wurde mit Gewürzmischungen aus gemahlenen Algen gearbeitet. "Zufällig haben wir bemerkt, dass unser Brot übers Wochenende frisch blieb", erzählt er. Sein Start-up "Connemara Food Ventures" produziert nun natürliche Zusätze für die Back-Industrie, die Treibmittel, Geschmacksverstärker, ja die ganze Chemie überflüssig machen sollen.
Mancher hier lobt die Vorzüge vor allem für die Struktur der Krume, in Galway gibt es Bäcker, die knuspriges Algenbrot verkaufen und ihr Schaufenster mit filigranen Seepferdchen-Kuchen dekorieren. Das Restaurant hat James Cunningham aufgegeben, seine Algenprodukte sind nun in Dutzenden Ländern erhältlich, es gibt auch Brühe und Sauce für den Gastronomie-Großhandel. Einzig die Produktion eines Energieriegels hat er gestoppt, der an die alte Tradition anknüpfen sollte, getrocknete Algen in den Jackentaschen zu tragen.
Bedrohung für die Unterwasserwälder
Die Iren sind mindestens so egalitär wie die Skandinavier, ob Koch, Dulse-Farmerin oder Backmittelproduzent - geschäftlichen Besuch empfangen die neuen Kleinstunternehmer oft in ihrer Wohnküche. Weswegen man die Geschichte von den Garagen als Schaltzentrale von Start-ups gerade etwas umdichten möchte: Von den Küchen und Küsten Irlands aus wirkt die Algen-Industrie wie das nächste große Geschäft. Doch ob die Sache Zukunft hat, vor allem für die Iren, hängt nicht allein von Erfindergeist und Risikobereitschaft ab. Sondern auch davon, ob dem Boom nicht bald schon sein Rohstoff ausgeht.
Denn die Regierung hat die Traditionsfirma "Arramara" für eine nicht genannte Summe an den kanadischen Multi "Acadian Seaplants" verkauft, mitsamt der Ernterechte an gut einem Fünftel der irischen Küste, heißt es. Und nicht allein die neuen Kleinunternehmer fürchten um den Nachschub, Algen-Ernter und Umweltschützer malen sich eine Zukunft aus, in der mechanisch geerntet wird, in der Roboter systematisch den Meeresgrund abrasieren, wo bislang jeder Taucher und Pflücker mit Steinen markiert, welche Pflanze kürzlich abgeerntet wurde und sich erholen darf.
Am Ortseingang von Bantry steht ein kleines Schild, das vor dem drohenden Verlust der Unterwasserwälder warnt, in denen uralte Kelp-Pflanzen kleineren Algensorten, aber auch Krebsen, Hummern und frisch geschlüpften Fischen Nahrung und Unterschlupf bieten. Der von kleinen und mittelständischen Unternehmern als undurchsichtig empfundene Verkauf - er könnte das Image aller beschädigen. Der Mythos von der irischen Alge in ihrem seewassersauberen Habitat, er würde den Boom nicht überleben.