"Salaaaaaaaat!" ruft eine junge Frau mit dunklen Locken aus der Küche. "Salaaahaaaaaaat!" Sie beugt sich aus dem Türrahmen, schreit fast. Dabei steht Paul Petrikowski kaum drei Meter entfernt, nur ein Gang trennt die beiden, und er ist schon dabei, die Rucolablätter und Physalisfrüchte zu drapieren, die gebraucht werden. Ist das der raue Ton, von dem es immer heißt, dass er in jeder größeren Restaurantküche herrscht? Oder trödelt Paul?
Weder noch. Petrikowski, Koch, 24 Jahre alt, ist schwer hörgeschädigt. Er trägt ein Cochlea-Implantat, eine Hörprothese, die akustische Signale direkt an seinen Hörnerv übermittelt. Ohne das Gerät könnte er nicht einmal den Salat-Ruf seiner Kollegin nebenan hören. Und ohne Kollegen, die freundlich schreien und die ihn normalerweise beim Sprechen ansehen, damit er von ihren Lippen ablesen kann, ohne sie könnte Paul Petrikowski gar nicht in einem Restaurant arbeiten.
"Michelin"-Guide 2016:Das sind Deutschlands beste Restaurants
Die Spitzengastronomie in Berlin boomt: Die Hauptstadt hat fünf Sterne-Restaurants hinzugewonnen. In Deutschland gibt es so viele Sterneköche wie nie zuvor - das zeigt der "Michelin"-Guide 2016.
In der Gastronomie von Künzelsau, einer kleinen Stadt mit engen Gassen zwischen den Hügeln der Region Hohenlohe im Norden von Baden-Württemberg, gibt es solche Kollegen. Mitten im Zentrum liegt dort das Hotel "Anne-Sophie". Zum Hotel gehören ein Café, eine Konditorei und zwei Restaurants. Eines davon ist das "Handicap", das seit 2014 einen Stern des Guide Michélin trägt. Das Besondere am Handicap ist aber nicht diese Auszeichnung, es sind die Mitarbeiter, mit denen sie errungen wurde: Ein Drittel der Angestellten sind Menschen mit Behinderung. Sie leben mit starken Lernschwächen, körperlichen Behinderungen oder mit dem Downsyndrom - und halten trotzdem ein Spitzenrestaurant am Laufen.
Wer im Handicap essen geht, merkt von diesem Konzept erst mal nichts. Die Räume sind licht und hoch, an die Decke sind Himmel, Wolken und Schwalben gemalt. An den Wänden hängt moderne Kunst. Und unter Kronleuchtern stehen Tische mit schweren weißen Decken. Das Mittagsmenü - ein Dreierlei von der Jakobsmuschel, danach zarte Mini-Saltimbocca mit Steinpilzrisotto - ist leicht und fein, spielt mit verschiedenen Konsistenzen: Das mag jetzt noch keine große Avantgarde sein, aber hervorragende Küche.
Manche schaffen nur wenige Stunden Arbeit pro Tag
Doch wo im Handicap sind denn nun die Menschen mit Handicap? "Das fragen viele Gäste, wenn sie zum ersten Mal hier sind", sagt Christian Helferich, der Direktor des Anne-Sophie. Und ja, wer hier speist, muss sich womöglich hier und da zusammenreißen, die Kellner nicht allzu eindringlich zu mustern, auf der Suche nach irgendetwas, das von dem abweicht, was man gemeinhin als Norm bezeichnet. Helferich ist ein großer, schlaksiger Mann mit beinahe altmodisch höflichen Umgangsformen. Er hält Türen auf, hilft in Mäntel, macht zur Begrüßung eine leichte Verbeugung. Seit zwei Jahren leitet er den Hotel-Restaurant-Komplex, zu dem auch das Handicap gehört. Die "besonderen Mitarbeiter", so ist die Sprachregelung hier, seien keineswegs nur in der Spülküche beschäftigt. Aber sie sind nicht so flexibel einsetzbar, viele können abends nicht arbeiten, weil danach kein Bus mehr zurück an ihren Wohnort fährt. Manche schaffen einfach nicht mehr als wenige Stunden Arbeit pro Tag. Und Helena, die Kellnerin mit Downsyndrom, von der alle Mitarbeiter schwärmen? "Sie ist heute leider krank."
Nun sind (selbst stark) eingeschränkte Arbeitszeiten aber nicht unbedingt das erste Problem, an das man denkt. Man fragt sich eher, wie das zusammenpasst - perfektionistisches Hochleistungskochen auf Sterneniveau und dieses gewisse Holpern, das integrative Zusammenarbeit ja doch mit sich bringt: Helferich erzählt von einer Kellnerin mit starker Lernschwäche, die sich auch nach vier Monaten im Handicap noch nicht merken kann, wo Tisch Nummer drei ist. Und ein Koch, der oft nicht hört, wie die Bestellung lautet, die er zubereiten soll - wie kann das gehen?
"Es ist ein ständiges Pilotprojekt", sagt Helferich. "Natürlich darf das Steak nicht kalt sein, wenn es am Tisch ankommt. Damit das klappt, stellen wir uns auf jeden Mitarbeiter sehr individuell ein. Auch wenn das letztlich mehr Zeit und Mühe bedeutet." Mehr Zeit und Mühe - das heißt auch: mehr Personal, als ein Betrieb dieser Größe sich sonst leisten würde. Drei Teilzeitkräfte kümmern sich im Hotel und in den Restaurants speziell um die Mitarbeiter mit Behinderung. Falls sie überarbeitet sind, Hilfe brauchen oder reden möchten. Eine von ihnen ist Karin Müller, 49, blondiertes Haar, pinkfarbenes T-Shirt. "Kommunikation ist ganz wichtig", sagt sie, "und man muss die Leute fordern." Wenn ein Kollege nicht weiterweiß, eine Kollegin unkonzentriert ist oder einfach gerade keine Lust hat, dann stellt Karin Müller sich daneben und fragt: "So, was ist denn jetzt zu tun? Wie geht das? Zeig doch mal."
Ein Restaurant wie das Handicap gibt es auf dem Niveau nur einmal in Deutschland. Und es ist kein Zufall, dass es gerade in Künzelsau steht: Das 15 000-Einwohner-Städtchen ist Hauptsitz von Würth, dem Schraubenhandel, der zum Großunternehmen wurde. Carmen Würth, Ehefrau des Chefs, hat das Anne-Sophie und das Handicap gegründet. Ihr Sohn Markus ist wegen eines Impfschadens geistig behindert, hat nie sprechen gelernt. Die Würths haben selbst die Erfahrung gemacht, wie schwer es ist, junge Menschen mit Behinderung ins Berufsleben zu integrieren.
"Lauter, du weißt doch, dass ich 'ne taube Nuss bin."
In Deutschland leben etwa 3,3 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter. Ihre Arbeitslosenquote ist mit 13,9 Prozent mehr als doppelt so hoch wie die nicht beeinträchtigter Menschen. Ist das Handicap also ein Wohltätigkeitsprojekt? "So ein Betrieb ist kaum kostendeckend zu führen", sagt Christian Helferich. "Aber wir haben strenge wirtschaftliche Vorgaben, die wir erfüllen müssen."
Bei allem Lob für das Konzept des Handicaps, übertragbar auf Restaurants, hinter denen kein Milliardär steht, ist es also sicher nicht. Ohnehin sind Spitzenküche und Rentabilität schwer zu vereinbaren, in manch bekannterem Restaurant ist der Ablauf so durchgetaktet, dass schon ein unaufmerksamer Tellerwäscher den Zeitplan eines Abends gefährden würde. In einer Avantgarde-Küche mit vielen Köchen, die manchmal wie eine Mischung aus Ballett und Uhrwerk funktionieren, ist jede Verzögerung, jedes Knirschen im Ablauf ein Risiko. Denn das Publikum ist anspruchsvoll.
Natürlich sind ein solcher Stress, der oft raue Ton und der manchmal übersteigerte Ehrgeiz in der internationalen Spitzengastronomie mit dem Klima in der Küche des Handicap nicht vergleichbar. Aber trotzdem ist der Stress da, und trotz aller Rücksicht ist er für Mitarbeiter wie Paul Petrikowski größer als für solche ohne Behinderung. Gerade am Anfang, erzählt er, habe es wegen seiner Schwerhörigkeit oft Missverständnisse gegeben: "Weil der Sous-Chef eine Bestellung in Richtung der Wand sprach und ich deshalb die Lippen nicht lesen konnte. Oder weil ich mich nicht getraut habe, nachzufragen."
Aber Petrikowski will nicht anders behandelt werden, "nur weil ich das hab", sagt er über seine Schwerhörigkeit. Und auch wenn die meisten Gäste das Konzept des Restaurants kennen und daher nachsichtiger sind, so möchte man auch im Handicap nur daran gemessen werden, ob etwas gut war. Und nicht daran, ob etwas gemessen an den Einschränkungen gut war. Ohne diesen Anspruch würde die Restaurantkritik das Lokal auch gar nicht derart auszeichnen. Und das ist dann vielleicht auch das Wichtigste: zu zeigen, dass so etwas überhaupt möglich ist.
Auf dem Weg dahin, rät Paul Petrikowski, sei es wichtig, die Widrigkeiten "mit Humor" zu nehmen. Denn natürlich kommt es bis heute immer mal wieder vor, dass er Kollegen nicht versteht. Und dann? "Dann frage ich nach und sage: Du weißt doch, dass ich 'ne taube Nuss bin."