In langen Reihen stehen die Rebstöcke mit Chardonnay-Trauben. Sanft neigt sich das Feld gen Süden, aber von einem Weinberg zu sprechen wäre dann doch übertrieben. In der Ferne sind dafür die grünen Hügel der South Downs zu sehen, eines Wanderparadieses direkt an der englischen Ärmelkanalküste. Hügelkette heißt auf Englisch Ridge, weshalb dieses Weingut den Namen Ridgeview trägt. Die Chefin blinzelt in die Sonne und zeigt auf die Rebstöcke: "Das hier ist das erste Feld, das wir vor gut 20 Jahren angelegt haben", sagt Tamara Roberts.
Das Gut im Dorf Ditchling, nördlich des Seebads Brighton, hat insgesamt eine Fläche von neun Fußballfeldern bepflanzt, mit den drei klassischen Champagner-Trauben: Chardonnay, Spätburgunder (Pinot Noir) und Schwarzriesling (Pinot Meunier). In Ridgeview keltert man ausschließlich Sekt. Den darf das Familienunternehmen nicht Champagner nennen, dieses Privileg steht nur den Kellereien in der französischen Region zu. Aber Sekt aus Ridgeview gewann in den vergangenen Jahren einige Preise. Und bei einer Blindverkostung in Paris in diesem Frühjahr gelang es vielen Testern nicht, Ridgeview-Sekt von Champagner zu unterscheiden: mon Dieu! In 10 Downing Street lässt Premierministerin Theresa May den Schaumwein Made in England längst bei Empfängen reichen.
Ridgeview ist nicht das einzige englische Gut, das auf Sekt setzt - und damit Preise abräumt. Seit den 90er-Jahren wurde gleich eine ganze Reihe von Sektgütern entlang der Kanalküste gegründet, in den Grafschaften südlich von London, in Kent, Hampshire, East und West Sussex. Der Kalkboden dort ähnelt dem in der etwa 300 Kilometer entfernten Champagne, dank des Golfstroms ist das Klima mild.
Damit schreiben die Winzer ein erstaunlich erfolgreiches Kapitel in der zuletzt nicht eben ruhmreichen Geschichte englischen Weins. Schon die Römer vergoren auf der Insel Trauben, um sich das Leben in der abgelegenen regnerischen Provinz ihres Reiches schönzutrinken. Im Mittelalter kultivierten die Klöster Weingärten. Die Tradition endete, als Heinrich VIII. die Klöster im 16. Jahrhundert auflösen ließ.
Erst 1952 eröffnete wieder ein kommerzielles Weingut im Königreich. Nun pflanzten die Winzer hier deutsche Kreuzungen wie Müller-Thurgau oder Huxelrebe an. Schließlich war die Witterung ähnlich. Auch beim Stil ihrer Weine kopierten sie Deutschland. Leider: Damals waren in Großbritannien süßliche deutsche Tropfen wie Liebfrauenmilch beliebt, weshalb viele englische Güter zuckrige, flache Plörre produzierten. "Ich stelle mir die Hölle so vor: italienische Pünktlichkeit, deutscher Humor und englischer Wein", witzelte Schauspieler Peter Ustinov. Premierministerin Margaret Thatcher servierte Gästen trotzdem voller Stolz Wein von der Insel - bei Tisch in 10 Downing Street galt es damals, besonders stark zu sein.
Viele Winzer waren Exzentriker, die nur als Hobby oder Nebenerwerb ein paar Flaschen aufzogen. Englischer Wein, eine Kuriosität mit miesem Ruf. So wäre es wohl ewig weitergegangen, hätte nicht ein reiches amerikanisches Ehepaar eine verrückte Idee gehabt. Stuart und Sandy Moss gründeten 1988 das Weingut Nyetimber in West Sussex. Statt deutscher Reben pflanzten sie die Champagnersorten an, die heute auch in Ridgeview wachsen. Guter Sekt statt schlechte Kopien - und das im großen Stil, lautete das Motto.
Englische Weinbauern dachten damals, das Klima sei zu rau für die edlen Champagner-Rebsorten. Aber die Sommer hier sind seit den 90er-Jahren im Schnitt wärmer als in den Jahrzehnten zuvor, ideal für die natürliche Säure der Trauben. Das Experiment der Amerikaner gelang; ihr erster Sekt, ein 1992er Jahrgang, räumte aus dem Stand Auszeichnungen ab.
Und andere folgten ihrem Beispiel. Wie der inzwischen verstorbene Vater von Tamara Roberts. Er gründete Gut Ridgeview 1995, nachdem er seine Computerfirma verkauft hatte. "Er liebte Reisen in die Champagne, das Weingut war sein Projekt für den Ruhestand", erzählt seine Tochter. Als Kellermeister heuerte der Senior einen Engländer an, der in Deutschland studiert und gearbeitet hatte. Zudem konsultiert Ridgeview Fachleute aus der Champagne.
Doch der Anfang war schwer: Rebstöcke brauchen drei Jahre, bis Trauben gelesen werden können, dazu kommt die Reifezeit in der Flasche. Fünf Jahre dauerte es bis zu den ersten Einnahmen aus dem Verkauf. Zudem hätten Banken die Geschäftsidee skeptisch gesehen, sagt die heute 43-Jährige, weshalb es keinen Kredit gab.
Hinter vielen der neuen Sektgüter stehen reiche Enthusiasten, die in anderen Branchen ihr Vermögen gemacht haben. Also kein alter britischer Winzeradel. Und eins der größten Wein- und Sekthäuser der Insel, Chapel Down in Kent, wurde 1993 gegründet und ist an der Börse notiert. Alles sehr neumodisch - und ein herber Kontrast zur Champagne, wo Kellereien gerne auf ihre Jahrhunderte zurückreichenden Traditionen verweisen.
Doch Matthew Jukes, einer der einflussreichsten Weinkritiker Großbritanniens, schätzt englischen Sekt. "Natürlich haben die Kellermeister in der Champagne mehr Erfahrung als ihre Kollegen in England", sagt er. "Champagner ist immer noch weltweit das Maß aller Dinge." Englische Sekthäuser lernten aber rasch hinzu, den Qualitätssprung in den vergangenen Jahrzehnten nennt Jukes "atemberaubend". Guter englischer Sekt könne nun problemlos mit gutem Champagner konkurrieren. Mittlerweile entdecken auch Frankreichs Champagnerhäuser den Reiz der englischen Südküste. So kaufte Taittinger einer Obstplantage in Kent 69 Hektar Land ab, um Trauben zu pflanzen - eine Art Ritterschlag. Die ersten Flaschen englischen Sekts à la Taittinger sollen 2021 abgefüllt werden.
Rivale Vranken-Pommery Monopole kündigte ebenfalls an, bald englischen Schaumwein herzustellen. Für die Unternehmen ist es viel billiger, in England Weingärten aufzubauen, als zu Hause in der Champagne zu expandieren. Die Landpreise in der französischen Region sind zwanzigmal so hoch.
Inzwischen gedeihen Reben in England und Wales auf gut 2000 Hektar, das ist immerhin doppelt so viel wie vor acht Jahren, wenn auch winzig im Vergleich zu anderen Ländern. Allein in Franken wächst Wein auf der dreifachen Fläche. Die 133 Kellereien im Königreich zogen 2015 fünf Millionen Flaschen auf, zwei Drittel davon sind Sekt. Der Branchenverband schätzt, 2020 würden bereits zehn Millionen Flaschen abgefüllt - weil die Anbaufläche so rasant zugenommen hat. Bislang ist der Marktanteil englischen Weins und Sekts selbst in Großbritannien vernachlässigbar; er liegt bei einem Prozent.
Ridgeview zieht 250 000 Flaschen im Jahr auf; jede kostet zwischen 32 und 54 Euro. Das Gut nutzt nicht nur eigene Trauben, sondern lässt auch Bauern in verschiedenen Regionen Südenglands Reben anpflanzen. "Damit verteilen wir das Risiko schlechten Wetters besser", sagt Tamara Roberts. "Und weil sich die Böden leicht unterscheiden, haben wir mehr Nuancen beim Geschmack." Ein Fünftel des Sekts geht ins Ausland, ein früher Exportmarkt war Japan. "Japaner lieben alles, was mit England zu tun hat", sagt die Chefin. Die Lese in diesem Oktober werde nicht herausragend, aber gut sein, erwartet sie. "Am Anfang hat es viel geregnet, doch es war bislang recht warm, was uns sehr hilft."
Ridgeview hat 26 Angestellte, dazu kommen Saisonarbeiter aus Rumänien und Portugal, für den Rebenschnitt und die Lese. Nach dem EU-Austritt drohen Probleme: Die Regierung könnte es den Winzern schwerer machen, solche Helfer anzuwerben. Roberts hofft, dass alles so bleibt wie bisher: "Ich habe es mit englischen Arbeitslosen versucht, aber die wollen solche Jobs nicht", klagt sie.
Die Kellerei ist völlig zugebaut; die laut klappernde Abfüllmaschine am Ende der Halle, die hohen Stahltanks am Eingang, dazwischen Rohre und Schläuche. Draußen zeigt Roberts auf eine Wiese mit Bäumen: "Dort kommt eine neue Produktionshalle hin, mit neuem Weinkeller." Die Chefin will die Produktion bis 2020 noch einmal um die Hälfte steigern, will pro Jahr bis zu 400 000 Flaschen abfüllen. Der Boom bei englischem Sekt verlangt nach einer größeren Kellerei.