Samstagsküche:Harter Schmelz

Gerhard Bernhardini hat 6000 Sorten Schokolade verkostet. So wurde er zum heftigsten Kritiker der Branche.

Von SABINE BUCHWALD

Ein belgischer Fernsehsender hat ihn nach Brüssel eingeladen, und das hat Georg Bernardini dann doch gefreut. Wer einen knapp 1000-seitigen Wälzer mit dem forschen Titel "Schokolade - das Standardwerk" schreibt und darin behauptet, Belgien, habe "seine Schokoladenkultur fast gänzlich verloren", der hofft ja geradezu auf Widerspruch, schließlich bilden sich die Belgier auf ihre Schokoladen und Pralinen mindestens so viel ein wie auf ihre Pommes und ihr Bier.

"Die Belgier zehren von der Vergangenheit", sagt Bernardini. Das geschickte Marketing von Firmen mit so klingenden Namen wie Godiva, Neuhaus oder Leonidas verführt Touristen in Massen. Für Bernardini sind ihre angeblich so feinen Produkte "zu süß, zu fettig, zu buttrig". Schlimmer noch sei die Billigware, die in Brüssels Innenstadt-Gassen feilgeboten wird. Belgien hat einen Ruf zu verlieren, und so ist Bernardini also kürzlich von Bonn nach Brüssel gefahren, hat sich die Augen verbinden lassen und vor den Kameras dunkle belgische Schokoladensorten probiert.

Und? "Nicht so einfach", sagt er. Schließlich habe er sogar den Ecuador-Kakao bei Pierre Marcolini herausgeschmeckt. Klar, dass sie ihm etwas von Marcolini gaben, der hat die Höchstnote in Bernhardinis Buch, sechs von sechs möglichen Bohnen. Die berühmte Côte d'Or dagegen hat der Kritiker mit nur einer Bohne bewertet. Und die Côte d'Or setzte Bernardini bei der Blindverkostung dann prompt ans Ende seiner Rangliste. Er weiß also, was er tut. Er produziert seit Jahren selbst Schokolade. Als Schokoladentester hat er in mehr als 6000 verschiedene Produkte gebissen und nun ein Buch ausgespuckt, das so viel wiegt wie 25 Standard-Tafeln.

Georg Bernhardini

Manchen gilt er als "Besessener": Georg Bernhardini beim Begutachten einer Auslage des Brüsseler Pralinen-Herstellers Marcolini.

(Foto: Natalie Hill)

Ende vergangenen Jahres ist dieser Brocken erschienen. Es ist die umfangreiche Erweiterung seines ersten Werks, für das es vor drei Jahren viel Lob von Gastrokritikern gab. Doch manche, wie der flämische Chocolatier Dominique Persoone, schimpften: Was er sich einbilde, andere zu belehren, wo doch Deutschland nicht gerade als Schokoparadies gelte. Ein französischer Kollege drohte Bernardini sogar Prügel an.

Der Sohn einer Deutschen und eines Italieners startete in seiner Heimat Bonn als Konditorlehrling. Er hat bei Kreutzkamm in München Baumkuchen gedreht und bei einem Österreicher in Paris Strudel und klassische Kuchen gebacken. In Toulouse war er Chef-Pâtissier eines Sterne-Restaurants. Doch Bernardini wollte selbständig sein. Bei Schokolade sah er die größten Erfolgsaussichten und gründete zusammen mit Oliver Coppeneur 1992 eine eigene Firma. 2010 verkaufte er seine Anteile, kluges Investieren machte ihn wohlhabend.

Ums Geld geht es ihm also nicht, wenn er wieder mit Schokolade experimentiert, die er unter dem Label "Georgia Ramon" in seinem Laden in Bonn vertreibt. So ist er wieder Teil der Schokomanufaktur-Szene, die sich seit knapp zehn Jahren in Deutschland etabliert hat. In den USA starte fast wöchentlich eine neue Firma, sagt Bernardini. Europa allerdings, vor allem Deutschland hinke da hinterher.

Beim Besuch in Brüssel trägt Bernardini, 48, Jeans, Wollpulli und Winterjacke; dass dieser jugendliche Kumpeltyp mehr sein könnte als ein Tourist mit Schwäche für Süßigkeiten, bemerkt man, wenn er in ein Stück Schokolade beißt: so konzentriert und ernst, dass es auffällt. Wer genau hinsieht, registriert vielleicht noch diesen seltsamen Gegensatz: Wie die kräftigen Hände des Handwerkers fast zärtlich noch einer Praline greifen.

Die weltweite Lust auf exquisite Schokolade begann vor etwa 15 Jahren, beflügelt auch durch den Film "Chocolat" mit Johnny Depp. Längst wird über Qualität und Herkunft von Kakao auf Partys genauso wortreich geplappert wie über die perfekte Lagerung eines Barbaresco. "2005 konnte man noch alles verkaufen", sagt Bernardini. "Die Leute waren neugierig, zahlten für eine Tafel auch mal 15 Euro." Der Markt hat sich inzwischen eingependelt, kleine Geschäfte können, jedenfalls in Deutschland, vom Schokoladenverkauf allein schlecht überleben. Aber: Auch Normalesser nehmen Schokolade nun als Naturprodukt wahr, das es in vielen Qualitätsgraden gibt, egal ob mit Brokkoli oder Chili vermengt.

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Für sein neues Buch hat Bernardini Urteile über Schokolade und Pralinen von 550 Firmen aus 70 Ländern gefällt, hat Aroma, Geschmack, Aussehen, Schmelz und Zutaten bewertet. Getestet habe er, so sagt er, unter möglichst stabilen Bedingungen zu Hause; nie mehr als täglich zehn Produkte, bei Temperaturen von 20 bis 22 Grad in einem Raum ohne Gerüche, ohne ablenkende Musik, ohne Alkohol, Tee, Kaffee. Seine Geschmacksnerven neutralisierte er zwischendurch mit ungewürzter Polenta.

Doch Bernhardini geht es nicht nur um Test-Reihen. Er referiert über die Geschichte des Kakaos von den Olmeken bis zu kleinen Raw-chocolate-Firmen, über Herstellung ("auch grobe Schokolade kann köstlich sein"), Kinderarbeit auf Kakaoplantagen ("noch immer alltägliche Realität") oder mögliche allergische Reaktionen auf Schokolade ("äußerst selten"). Zur Beschaffung seines Testmaterials schickte er Bittbriefe an Firmen, reiste durch die halbe Welt. Ein fast sechsstelliger Betrag floss so in das aktuelle Buch, erschienen wieder im Eigenverlag. Beim ersten Buch war er so unbekannt, dass er keinen Verlag fand, für das zweite hat er gar nicht mehr gesucht. Lieber kontrollierte er alles selbst. Nun ist er so stolz, dass er sich in der Einleitung zu dem Satz hinreißen ließ: "Dieses Werk ist wohl in seinem Umfang und seiner Ausführlichkeit für die Ewigkeit." Amen.

Gäbe es einen Lehrstuhl für Schokoladologie: Bernhardini wäre dort Professor

Zu seiner Entlastung muss man sagen: Es geht ihm um die Sache. Um Gründlichkeit. Der Literaturkritiker und Gastroexperte Denis Scheck nannte Bernardini deshalb einen "Besessenen". Er nähert sich seinem Thema wie ein Wissenschaftler. Gäbe es einen Lehrstuhl für Schokoladologie, Bernardini wäre dort Professor, sein Buch die Habilitationsschrift. Eine wirklich vergleichbare Arbeit gibt es wohl tatsächlich nicht. Soeben wurde das Werk von Gourmand Awards zum Kochbuch des Jahres gekürt, mit Chancen auf einen Welttitel.

Was gute Schokolade ausmacht

Nur 25 Schokoladenfirmen von zuletzt 550 getesteten gibt Georg Bernardini seine Bestnote. Das sind weniger als fünf Prozent, erstaunlich angesichts des Booms und der angeblichen Qualitätsoffensive vieler Anbieter. Herausragende Schokoladenmarken sind für den Tester Domori aus Italien, Zotter aus Österreich, Nobile aus der Schweiz, die Firmen Patrick Roger und Morin aus Frankreich, Rogue Chocolatier aus den USA und eben der Belgier Marcolini. Alles Chocolatiers, die Kakao selbst verarbeiten oder mit besten Zutaten Konfekt herstellen.

Bernardinis wichtigstes Kriterium für gute Schokolade ist vor allem der Inhalt. Prinzipiell empfiehlt er daher einen Blick auf die Zutatenliste: Erlaubt sind Kakao und Rohrzucker, für die bessere Fließfähigkeit von Kuvertüre auch etwas Kakaobutter, verboten sind dagegen Vanillin, Konservierungsstoffe oder künstliche Aromen. Schokolade sollte eine glänzende Oberfläche haben, intensiv duften und deutlich knacken, wenn man sie bricht. Eine Haltbarkeit von mehr als vier Monaten wie bei Industrieprodukten findet er unseriös. Ebenso wie Preise von unter einem Euro für eine 100-Gramm-Tafel. Gegen Experimente mit allerlei Nüssen, Gemüsen oder auch Speck (wie etwa bei Zotter) hat Bernardini hingegen nichts einzuwenden.

Was treibt ihn an? "Ich wollte ursprünglich nur Blender und Lügner entlarven", sagt Bernardini. Vor allem auf kleinere Firmen hatte er sich konzentriert. Diesmal nahm er auch Industriegiganten wie Hershey's, Milka oder Suchard auf. Das sei eigentlich wie Äpfel mit Birnen vergleichen. Der Leser aber sehe das anders. Ohne Umschweife schreibt Bernardini, was er von Produkten hält, die Firmen Millionenumsätze bescheren. Nicht immer ist das vernichtend, ins Schwärmen gerät er nie. Ritter Sport etwa ist für ihn "industrielle Massenware", deren "Qualität in Ordnung" ist. "Definitiv kein Genussmittel, aber für die Befriedigung eines Heißhungers" willkommen. Lindt? "Gar nicht mal so schlecht". "Aufgrund des teilweisen Einsatzes von künstlichen Aromastoffen erreichen sie aber nur ein wenig ruhmreiches Niveau."

Bernhardini will keinen zum rechten Schokoladenglauben bekehren, er selbst aber isst privat nur hochwertige Bean-to-bar-Schokolade, also solche, die in Eigenregie vom Hersteller gefertigt wird. Man wird wählerisch nach 6000 Sorten. Längst findet Bernardini, dass leckere Schokolade keine Vanille brauche. Schon gar kein Vanillin, das Allergien auslösen könne und Migräne. "Aber stellen Sie sich vor", sagt er, "in Nutella wäre echte Vanille? Dann wäre der Weltmarkt von Vanille leergefegt." Das wäre Bernardini dann auch nicht recht.

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