Samstagsküche:Besser essen in Neukölln

Samstagsküche: Rustikal und lecker: Kalbsknochen mit Radiesschen im Industry Standard.

Rustikal und lecker: Kalbsknochen mit Radiesschen im Industry Standard.

(Foto: www.industry-standard.de)

Neukölln gilt als Brennpunkt der Republik. Doch kulinarisch hat sich der Berliner Stadtteil längst als Geheimtipp emanzipiert, denn: Hier bekommt man wirklich alles.

Von Verena Mayer

Wer in Berlin-Neukölln Wein bestellt, der kann was erleben. Im "eins 44" etwa, einem Restaurant in einer alten Fabrik im letzten von mehreren Hinterhöfen. Da wird einem eine Flasche auf den Tisch gestellt, auf die der Winzer in fetten schwarzen Großbuchstaben drucken ließ: "If you are racist, a terrorist or just an asshole - don't drink my Sauvignon Blanc." In dieser Ecke der Hauptstadt wird man selbst von Weißweinen als Arschloch beschimpft.

Der Berliner Bezirk Neukölln. Kaum ein Ort ist deutschlandweit so oft in den Schlagzeilen, als Symbol für alles, was in einer Großstadt schieflaufen kann. Hier ist die Rütli-Schule, in der einst die Lehrer hinwarfen, weil sie Angst vor den Schülern hatten. Oder jene Bücherei, in der mit Drogen gedealt wurde, und Gangs trugen ihre Revierkämpfe aus. Nicht zu vergessen der frühere Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Der tingelt heute durch die Talkshows und warnt davor, dass es bald überall in Deutschland so schlimm sein könnte wie hier.

Und doch gibt es wohl kaum einen besseren Ort in Berlin. Nicht nur, weil sich der Bezirk an jeder Ecke verändert, alles wird neu in Neukölln. Man kann in der Hauptstadt auch nirgendwo ähnlich gut und abwechslungsreich essen. Ob Döner, Burger oder Buletten, Eisbein oder Paleo, Falafel von der Straße oder Fine Dining - der verschriene Bezirk mit den rauen Sitten gilt derzeit als heißester Tipp für Foodies aus aller Welt, selbst die New York Times schwärmte schon von den "kreativen Auswüchsen" der Berliner Esskultur. Der wahre Brennpunkt Neukölln - das sind derzeit die Küchen.

Authentischer Industrieschick

Im eins 44 geht es schon mal ziemlich hitzig zu. Eine riesige Halle, bis auf den letzten Platz gefüllt. Im Gegensatz zum uniformen Design der inflationären Hipster-Konzeptläden ist der Industrieschick authentisch: Viel Backstein und cremefarbene Kacheln, durch eine Glaswand kann man den Köchen zusehen, wie sie ein viergängiges Abendmenü nach dem anderen auf die Teller pinseln. Dazwischen wuselt Jonathan Kartenberg mit einem Servierwagen voller Flaschen hin und her. Er ist einer von drei Chefs hier, ein junger Berliner mit Jeanshemd und blonder Tolle, der eine typische Neuköllner Geschichte erzählt.

eins44

Schlicht und Stilvoll: Der Gastraum des eins44.

(Foto: www.eins44.com)

Hier stand mal eine Fabrik, in der die Essenzen für Schnäpse und Liköre gemacht wurden, die man zu Hause dann selbst ansetzte. Für mehr reichte in diesem Teil der Stadt das Geld nicht. Dann verkam das Gebäude, und vor zwei Jahren entdeckte es eine Truppe junger Gastronomen, die sich nahm, was die finstere Ecke hergab. Den Namen "eins 44" zum Beispiel, abgeleitet von 1000 Berlin 44, der alten Postleitzahl von Neukölln.

Man wolle mit dem arbeiten, was da sei, sagt Kartenberg. Mit Weinen aus Deutschland, mit Steckrüben, Blutwurst, Topinambur oder Giersch, einem Unkraut, das in Berliner Kleingärten wuchert, "das kennen viele Leute noch aus dem Krieg". An diesem Abend gibt es Rotkohl als Creme, Graupenrisotto, ein Stück Entenhaut, Kalbskopf und Falafelbällchen, alles wirkt wild zusammengeschmissen und ist doch bis auf den letzten Tupfer Selleriepüree durchgestylt. Eine Küche auf dem neuesten Stand und doch angenehm geerdet.

Kräuter-Beete auf der Landebahn

Und es gibt immer mehr Brennpunkte, an denen man sich durchessen sollte. Am aufgelassenen Flughafen Tempelhof etwa. Früher donnerten hier die Flugzeuge über die schäbigen Häuser, hier lebte keiner, der nicht musste. Jetzt ist das alte Flugfeld eine riesige Fläche aus Beton und Wiesen, es gibt hier Gemüse- und Kräuter-Beete, kleine Äcker für Kartoffeln.

Und es wird gut gekocht. Bei Deniz Julia Güngör etwa. Sie ist eigentlich Turkologin, gibt aber Kochkurse, die zugleich Sprachkurse sind. "Türkisch für Feinschmecker" heißt das Ganze, und da steht man dann in einem Neuköllner Atelier am Herd, rollt dünnen Teig für Mantı aus, die türkischen Ravioli, hackt Portulak-Blätter für einen Salat, und verbessert dabei sein Türkisch oder Deutsch, je nachdem. Güngör ist eine typische Bewohnerin Neuköllns. Die Eltern aus Deutschland und aus der Türkei, von der Mutter hat sie das Kochen gelernt, vom Vater die türkische Sprache. Und sie selbst verbindet nun beides. Kochen als Kommunikation, die niemanden ausschließt.

So schmeckt Neukölln

Für Neukölln-Einsteiger ist das eins 44 die richtige Wahl. Die Küche ist raffiniert, ohne zu überfordern (Elbestraße 28/29, Di bis Fr mittags und abends, eins44.de). Im Industry Standard um die Ecke geht es etwas schräger zu, Lammherz trifft auf Blutkuchen (Sonnenallee 83, Mi bis So 18 bis 23 Uhr, industry-standard.de). Noch mehr Innereien, dazu Löwenzahn oder Maniok gibt es im Sauvage, das sich der Paleo-Küche verschrieben hat (Pflügerstraße 25, Do bis So, 18 bis 23 Uhr, sauvageberlin.com). Klassischer ist das Lavanderia Vecchia; in dem italienischem Lokal, das früher eine Wäscherei, war, sind Wäscheleinen mit bestickten Tischtüchern quer durch den Raum gespannt (Flughafenstraße 46, Mo bis Sa ab 19.30 Uhr info@lavanderiavecchia.de). Ebenfalls italienisch isst man im La Pecora Nera, das eine venezianische Osteria sein will (Herrfurthplatz 6, täglich außer Mo ab 18 Uhr). Im Nansen isst man Gerichte wie gebackene Schwarzwurzel, mit Bulgur gefüllte Zwiebel und Sesamsoße (Maybachufer 39, Di bis Sa, 18 bis 23 Uhr, restaurant-nansen.de). Edel-Hamburger gibt es bei Schillerburger (Herrfurthstraße 7 sowie Karl-Marx-Straße 223, täglich ab 12 Uhr, schillerburger.com). Eine Sprachschule, in der man zugleich kochen lernt, ist Türkisch für Feinschmecker (Kurse unter tuerkischfuerfeinschmecker.de). Und im Gemeinschaftshaus Morus 14 isst man, was die Nachbarn zubereiten ("Mieter kochen für Mieter", Morusstraße 14, Mi 12.30 Uhr).

Frisch und irre, weil man alles darf

Und da sind natürlich noch all die Zugezogenen. Die Sonnenallee an einem typischen Mittwochabend. Brautmoden-Geschäfte reihen sich an Teestuben, Shisha-Bars und Automatenkasinos mit blinkenden Leuchtschriften. Man sieht hupende Autokolonnen und Gruppen junger Männer, und in jedem Haus wird etwas anderes zum Essen verkauft. Kebap, Sushi, geröstete Nüsse, griechischer Wein, türkisches Fladenbrot, arabische Trockenfrüchte, kroatische Fleischspieße.

Ramsés Manneck, ein junger Mexikaner mit tätowierten Armen und schwarzem Hipsterbart, ist noch nicht lange hier. Manneck steht in seinem Restaurant "Industry Standard", zwischen Köchen aus England und Frankreich. Ähnlich zusammengewürfelt ist die Einrichtung, alte Plattenschränke, Holzlatten, offene Küche. Vom Essen mal ganz zu schweigen. Im "Industry Standard" bekommt man Schweinebauch zusammen mit Muscheln, Rinderzunge und Matjes, Lammherz mit Sardinen, und der Barkeeper mixt etwas aus Gin und Kaffee, das schmeckt wie Starkbier.

Das hier ist auf eine Weise frisch und irre, wie man es nur sein kann, wenn man alles darf und nichts von einem erwartet wird. Manneck, der in Mexico City, Finnland und den Niederlanden gekocht und nebenbei Politik studiert hat, schwärmt von den Möglichkeiten und den vergleichsweise niedrigen Mieten in Neukölln, seinen Laden nennt er nur "Big Mischmasch". Das ist auch eines der wenigen deutschen Worte, die er kann. Sonst wird Englisch gesprochen, und an den Tischen sitzen viele alte Herren mit ganz jungen Frauen. Ein Problembezirk ist offenbar auch ein idealer Ort, um seine Ehefrau zu betrügen.

In dem armen Viertel isst man jetzt miteinander

Doch Neuköllns Küche verändert sich nicht nur am oberen Ende der Sozialpyramide. Auch unten passiert einiges. Ein hässlicher Zweckbau im Rollberg-Viertel, das Nachbarschaftszentrum Morus 14. In einem Saal stehen lange Tische, die schön eingedeckt sind. Alte Damen und Herren mit Rollator sitzen hier mit jungen Familien und Künstlerinnen mit grün gefärbtem Haar zusammen und essen zu Mittag, was jemand aus der Nachbarschaft zubereitet hat.

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Diesmal waren die Griechen von gegenüber dran, es gibt gefüllte Paprika mit Tsatsiki. Auch ein Polizeibeamter aus dem Abschnitt sitzt dabei und löffelt Weißkraut-Möhren-Salat. Wenn er kauend "Rollberg-Kiez" sagt, klingt das wie "Räuber-Kiez", und das ist ja auch nicht ganz falsch. Dies ist eines der ärmsten Viertel der Hauptstadt, mit kriminellen Familienclans, Drogen und Jugendlichen, denen oft so langweilig war, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Seit vierzehn Jahren macht man nun Essen füreinander, immer reihum, "Mieter kochen für Mieter" nennt sich das Projekt. Man muss kein Soziologe sein, um zu erkennen, dass hier Leute zusammen an einem Tisch sitzen, die das sonst nie tun würden. Essen als Mittel, um einen sozialen Brennpunkt zu befrieden.

Es ist spät geworden in Neukölln. Vor den Automatenkasinos und Teestuben stauen sich die Leute, der Duft von Lammfleisch und Wasserpfeifen zieht durch die Straßen. Im Restaurant eins 44 kommt der Nachtisch, Käsekuchen-Creme mit Pistazien und kleinen Klecksen Blutorangen-Fond. Jonathan Kartenberg, der Maître, sagt, es habe ihn selbst überrascht, wie gut das Lokal ankomme. Es sei auch noch nicht eingebrochen worden, nicht mal die Scheiben wurden eingeschmissen wie an anderen Orten. Nur einmal hat sich auf der Facebook-Seite einer beklagt, ein solches Restaurant passe nicht hierher. Verzieht euch gefälligst nach Schwaben, hieß es da. Ganz ohne Beschimpfungen geht es in Neukölln dann eben doch nicht.

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