In der Einfahrt zum Hotel Walserstuba steht seit dem Sommer eine Vitrine mit der Speisekarte. Seit man die schon draußen lesen kann, passiert es nicht mehr so oft, dass sich Gäste hier zuerst an einen Tisch setzen, nur um sich fünf Minuten später wieder aus dem Restaurant zu stehlen, noch bevor sie überhaupt ein Getränk bestellt haben.
Allein der Blick aufs Menü scheint manche Gäste zu überfordern. Verständlich, schließlich geht es um ein Hotel im österreichischen Kleinwalsertal, um ein Traditionshaus inmitten eines Feriengebiets also, in dem man die übliche Speck- und Knödelseligkeit dann allerdings vergeblich sucht. Die alpenländische Küche wird von vielen gern als besonders authentisch begriffen, als üppig-gemütliche Dauersause aus Fleisch und Mehlspeisen mit charmanten regionalen Unterschieden. Das ist natürlich nicht ganz falsch. Doch wie wenig diese touristische Kompromissküche oft mit wahrer Ursprünglichkeit, mit Tradition, zu tun hat, das kann man schon mit einem Blick auf jene Speisekarte von Jeremias Riezler im Hotel Walserstuba lernen.
Äußerlich unterscheidet sich das Haus mit seinem Holzgiebel und den grün-weiß verzierten Fensterläden kaum von den anderen Hotels im beschaulichen Dorf Riezlern. Im Restaurant steht eine Marienstatue, daneben ein ausgestopfter Fuchs. An der Wand hängen Heiligenbilder, Geweihe und Kuckucksuhren. Die Bedienungen tragen Dirndl, im Hintergrund jodeln die Kastelruther Spatzen aus dem Lautsprecher. Am Herd aber endet der Folklore-Mix abrupt. Dort steht der Küchenchef Jeremias Riezler nicht, um Jägerschnitzel zu braten. Der 38-Jährige kocht lieber nach hundert Jahre alten Rezepten und mit einheimischen Produkten, oft mit solchen, die kaum noch jemand kennt.
Als man ihn in seiner Küche trifft, steht gerade der "Danna-Broos" auf dem Herd, ein Melasse-Sirup mit karamellisierten Fichtensprossen, den man "gut für Nachspeisen nehmen kann", wie Riezler freundlich erklärt. Andere Gerichte von ihm klingen im Vergleich dazu fast vertraut: Zwetschgensuppe oder Walser Reh, diesmal mit glasierten Fichtensprossen, Parfait von jungen Lärchenspitzen oder sein pikanter Kaiserschmarrn, in dem die Hälfte der Eier durch Blut ersetzt wird, als Beilage zur Schlachtplatte mit Leber, Bries und Beuschl. Riezlers Küchenstil ist von radikaler, manchmal auch rustikaler Ursprünglichkeit. Und paradoxerweise hat ihn ausgerechnet das zu einem der modernsten Köche der Region gemacht.
Der Gegensatz ist schon an Äußerlichkeiten festzumachen, weil Riezler, ein kräftiger Mann mit kurzem Kinnbart und Ohrring, für die Bauerstubenatmosphäre, in der er arbeitet, besonders groß wirkt. Und natürlich spricht er mit seinem Stil nicht jeden an, zumal das Restaurant eines der teuersten im Tal ist. "Darum auch die Warnung im Glaskasten", erklärt er und grinst. Doch Jeremias Riezler ist auch ein Koch, der weiß, wie man Gäste erzieht. Im Dorf gibt es zig Lokale, "überall wird das Gleiche gekocht", sagt er. Es mag gedauert haben, aber "zu uns an den Ortsrand kommt heute keiner mehr für ein Schnitzel."
Man muss die Gäste schrittweise erziehen - und jede Saison zwei sehr beliebte Gerichte streichen
Stattdessen kommen sie für sein Steinbock-Gulasch, das Riezler mit Steinpilzen, Kirschen und Schnittlauchblüten anrichtet. Seine grüne Schaumsuppe vom Bregenzerwälder Bergkäse steht als "Grüane Berg-Chääs-Suppa" auf der Karte, sein Soft-Eis mit junger Minze als "Nämmes Gfroores mit Pfäfferminz". Er habe Zeit gebraucht, um zu begreifen, wie viel Innovation in der Vergangenheit liegen kann, sagt er. Um zu verstehen, wie gut sich mit diesen Gegensätzen spielen lässt.
Knapp zehn Jahre ist es her, dass Riezler die Küchenleitung im Hotel seiner Eltern übernommen hat, bis dahin waren die Köche von außen gekommen, der Stil war gutbürgerlich und es lief nicht schlecht. Aber natürlich wollte er sich einbringen, als er sich hier an den Herd stellte. Anfangs versuchte er, sich mit edlen Zutaten wie Jakobsmuscheln oder Steinbutt einen Namen zu machen, merkte aber schnell, dass das seltsam wirkt, wenn man von 2000 Meter hohen Bergen umgeben ist. Schon bei der Ausbildung in einem deutschen Sternelokal hatte ihn irritiert, dass alles Heimische nichts wert zu sein schien, dass die Flusskrebse aus Iran, der Saint Pierre aus Neuseeland kamen. Also beschloss er, die Speisekarte zu Hause in Vorarlberg umzukrempeln. Ohne exotische Zutaten, aber auch ohne Alpenklischees; in einem Tal für Wander- und Skitouristen damals eine Herkulesaufgabe. "So ein Wandel geht nur behutsam" erzählt Riezler. Pro Saison nahm er zwei Gerichte von der Karte: zuerst Filetsteak und Wiener Schnitzel, dann Schweinshaxe und Zwiebelrostbraten. "Die Gäste umzuerziehen war nicht leicht. Auch meine Eltern dachten erst, ohne Schnitzel geht es nie." Und dann ging es doch.
Das wirklich Ursprüngliche musste er aber mühsam aufspüren. Denn mit Touristen und Wirtschaftswunder ging auch im Kleinwalsertal Tradition verloren. "Sprache, Kultur und Essen waren für die Gäste damals plötzlich nicht gut genug, die Gastgeber richteten sich nach den Besuchern", sagt Riezler. Das Tal hat 5000 Einwohner und 1,6 Millionen Übernachtungen im Jahr, da sind die Prioritäten klar. "Die Küche wurde international", eine Pseudoküche, in der sich "nur die Käsknöpfle, die Vorarlberger Käsespätzle, gehalten haben, sonst war Fleisch jeden Tag Pflicht."
Riezler nahm sich Ortwin Adam zum Vorbild, einen Koch, der in den 80er-Jahren Walser Bergbäuerinnen nach alten Rezepten gefragt und diese in dem Buch "Walser Kost für Leib und Seele" veröffentlicht hatte. In Klosterbibliotheken oder Antiquariaten stöbert Riezler bis heute regelmäßig uralte Rezepte auf, sucht über Kleinanzeigen handgeschriebene Kochbücher. Eine Rezeptsammlung aus dem 19. Jahrhundert liegt immer auf seinem Nachttisch. "Die traditionelle Walser Küche ist schwer, gehaltvoll, mit viel Fleisch, Schmalz und Milchprodukten", sagt der Koch. "Früher konnten die Leute das vertragen, bei der schweren körperlichen Arbeit." Darum notiert er sich die Mengenangaben in den alten Büchern erst gar nicht, sondern passt sie gleich der Moderne an. Schnell begann er, eigene Akzente zu setzen, Altes neu zu interpretieren.
Wie den Schotta-Gsiig, ein Molkenzucker-Karamell, der sich absetzt, wenn man Molke stundenlang einkocht. Früher, als Zucker noch unbezahlbar war, wurde damit gesüßt; als die Lebensmittel günstiger wurden, geriet er in Vergessenheit. Oder den Schmalz-Gsiig, der beim Klären von Butter zurückbleibt und auch karamellisiert. "Manche, die sich noch daran erinnerten, rümpften schon beim Wort Gsiig die Nase", sagt Riezler. "Wenn man ein fingernagelgroßes Stück in den Mund nimmt, schmeckt es recht streng." Aber wenn man weiß, wie man es kombiniert, ist es köstlich. Aus dem Schotta-Gsiig macht Riezler etwa herrliche Pralinenfüllungen, aus dem Schmalz-Gsiig Pudding und Eis.
Was regional bedeutet? Alles, was man bei guter Sicht vom Großen Widderstein aus sieht
Während der Koch erzählt, füllt sich das Lokal komplett, Besucher warten im Flur darauf, dass Tische frei werden. Riezler steht in der Küche und stellt eine gusseiserne Pfanne mit Riibl auf ein Brett, eine Art knusprig-bröselig gebratene Polenta, die früher als Arme-Leute-Essen galt; daneben zieht er eine Linie aus Haselnuss-Krokant. Die Kuhglocke über der Anrichte, das Signal, dass ein Gericht die Küche verlassen kann, bimmelt immer häufiger. Der Koch lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, jetzt dekoriert er einen Gsiig-Pudding mit Früchten. "Eine meiner Lieblingskompositionen", sagt er, um sofort über das Wort den Kopf zu schütteln: "Komposition - was für ein blödes Geschwätz."
Mit solchen Gerichten hat der Küchenchef sogar die meisten Stammgäste von früher halten können, neue kamen dazu. Natürlich hat ihm auch der Boom der Regionalküche in die Hände gespielt. Obwohl es Zufall war, dass dieser mit Riezlers Interesse für die alten Walser Rezepte zusammenfiel. Er wirkt nicht wie einer dieser Köche, die nur an Trends und Ehrungen denken, trotzdem hat ihn die Region zuletzt viermal in Folge zum "Genusswirt des Jahres" gekürt. Sie sind hier längst froh, dass er die Schnitzel von der Karte gestrichen hat.
Natürlich findet sich weiter viel Fleisch auf dem Speiseplan, Gemüse ist rar auf 1100 Metern Höhe. Doch viele alte Gerichte waren, schon aus Kostengründen, vegetarisch. Ziegenkäse, die Schösslinge der Nadelbäume. Riezlers Vater sammelt Pilze für ihn, seine Mutter pflegt den Kräutergarten. Gemeinsam mit fünf anderen Köchen hat er die Vereinigung "Önsche Walser Chuche" gegründet, die das kulinarische Erbe bewahren und zeitgemäß umsetzen will. Dogmatisch sind sie aber nicht, allein die Qualität des Anbieters entscheidet bei der Wahl des Produkts, Schweinefleisch zum Beispiel bezieht Riezler aus dem Allgäu. Doch wo es geht, heißt "regional" für ihn alles, was man bei guter Sicht vom Großen Widderstein aus sehen kann, dem höchsten der südöstlichen Walsertaler Berge.
Das sei vielleicht das Überraschendste der vergangenen zehn Jahre für ihn gewesen, sagt Riezler: "Wie viel Exotik ich vor der eigenen Haustür entdeckt habe."