Süddeutsche Zeitung

Reiseführer:Spur der Sterne

Einst war der Baedeker notwendig, um sich zu orientieren. Nun erscheinen die Bände im neuen Design - und mit vielen Versprechungen.

Von Thomas Steinfeld

In den Zwanzigerjahren gab es einen ungarisch-deutschen Filmtheoretiker, Dichter und Feuilletonisten, der einen neuen Typ Reiseführer erfunden zu haben meinte. "Seit Jahren", schrieb Béla Balázs damals, "führte ich einen mit Bedacht zusammengetragenen Traum-,Baedeker' mit mir, und pedantisch darin blätternd und vergleichend zog ich los, das andere zu suchen, das ganz, ganz andere."

Die roten Bände machten den Tourismus, das schnelle Reisen überhaupt erst möglich

Neunzig Jahre hatte es den "Baedeker" zu jener Zeit schon gegeben. Sein Name war synonym mit dem Genre geworden, und das Wort "pedantisch" bezeichnet im Zitat nicht nur einen Charakterzug des Nutzers, sondern auch eine Eigenschaft dieser Bücher: Denn sie bestanden im Wesentlichen aus Listen von Bauten, Kunstwerken und Landschaften, die auf einer touristischen Reise zu besichtigen waren: "Sehen, was zu sehen ist", lautete der nur scheinbar tautologische Slogan zu diesen Handreichungen, die Wegbeschreibungen, Adressen von Ärzten und Hinweise zum Umgang mit Dienstpersonal einschlossen und in der Grafik, in Gestalt ausklappbarer Karten und Panoramen, die Verlässlichkeit auch im Bild suchten. Eigentlich war mit dem Slogan gemeint: "Sehen, was alle andere sehen" oder "gesehen haben". Geträumt wurde in den roten Büchern gewiss nicht, geschweige denn das "ganz, ganz andere" gesucht.

Es gab eine Zeit, in der sich alles, was in der Welt war, in einem "Baedeker" verzeichnet fand - an den Orten jedenfalls, die von Touristen besucht wurden, und bei den Dingen, denen das Interesse der Touristen galt. "Schnellreisende" nannte man sie damals, und so hießen sie auch in den frühen "Baedekern", in Abgrenzung zu den Absolventen der "Grand Tour", also den jungen Aristokraten und Großbürgern, die mit viel Geld über Monate oder Jahre unterwegs waren und sich Pausen, Abweichungen und verlängerte Aufenthalte leisten konnten.

Die einfacheren Bürger, die sich von Mitte des 19. Jahrhunderts an auf die Reise machten und den Tourismus überhaupt erst schufen, reisten in knappen Fristen auf im Voraus markierten Strecken zu Orten, die ihnen aus Lektüren und von Bildern bekannt waren. Deswegen verzichtete der "Baedeker" auch bald auf die Beschreibungen des Sehenswerten, die noch die ersten Bücher der Serie gefüllt hatten. An ihre Stelle rückte ein einfaches System: Ein Stern zeichnete die minderen Sehenswürdigkeiten aus, zwei Sterne die größeren, und Entdeckungen, gar Erlebnisse waren nicht vorgesehen.

Zu Beginn des neuen Jahres erscheinen nun 26 neue Bände unter dem Namen "Baedeker". Vorgestellt werden sie mit dem alten Anspruch, die Redaktion habe selbst gesehen und geprüft, was man den Kunden vorstelle - zu Kuba und zu Venedig, zu München und zu Malta, und wie stets bei solchen Anlässen wird auf eine neue Grafik und ein neues Format verwiesen. Auf etlichen Gemälden des 19. Jahrhunderts, die Reisende in Italien zeigen, ist der "Baedeker" in seinem charakteristischen dunkelroten Einband abgebildet. In Historienfilmen ist es nicht anders. Über die Jahre war das Rot heller und die rote Fläche immer kleiner geworden, jetzt ist es zu einem Quadrat auf der Vorderseite geschrumpft.

Darüber hinaus aber ist es, als hätte beim Verlag jemand Béla Balázs gelesen. Eine neue Rubrik wird versprochen, unter dem Titel "magische Momente"; ein Genre "Überraschendes" soll es geben, und "Magazinstrecken" werden angekündigt. Schaut man in einen Band hinein, in den zu Venedig etwa, stellt man fest, dass das angeblich "ganz, ganz andere" sehr viel Raum einnimmt, in Gestalt von sich beinahe privat gebenden Tipps zu Restaurants und Geschäften zum Beispiel, vor allem aber dadurch, dass lauter Menschen auftreten, die in irgendeiner Weise für ein "echtes" Venedig stehen sollen - was offenbar besonders für den Kommissar Brunetti gilt, der zwar von Donna Leon erfunden wurde, aber als Verkörperung des Authentischen behandelt wird.

Die aktuellen Ausgaben preisen ein wenig zu oft die "Magie" gewisser Orte an

Zwischen der Handreichung, die der "Baedeker" auf dem Höhepunkt seines Ruhms und seiner Nützlichkeit war, und dem Vertrieb von "magischen Momenten" klafft ein Widerspruch. Entstanden sein muss er im frühen zwanzigsten Jahrhundert, als die Routen und Stationen einer solchen Reise immer weniger verbindlich wurden. Diese Entwicklung wurde durch die Vermehrung der Reiseführer beflügelt, durch andere Perspektiven und andere Schwerpunkte.

Zudem traten das Meer und die Berge als Ziele des Tourismus neben die kanonischen Städte und Kunstwerke, und mit ihnen der Erholungsurlaub. Mit Sternen sind die entsprechenden Erlebnisse kaum mehr zu erfassen. Und schließlich wurde - je mehr das Angebot an Informationen für den Reisenden anschwoll und je mehr es durch andere Medien vermittelt wurde als durch das Buch, mit dem in der Hand sich die Fremde abarbeiten ließ - der Reiseführer zu einer oft entbehrlichen Einrichtung. "Die Sternchen des verhassten ,Baedeker' möchte eben jeder Deutsche für sein Leben gern selbst anbringen", schrieb der Philosoph Walter Benjamin im Jahr 1926. Und er tut es, heute mehr denn je: Man muss sich dazu nur die Einträge in den einschlägigen Internet-Portalen anschauen.

"Morgennebel, salzzerfressene Pfähle, Stelzvögel, Aquakulturen und unzählige Eilande: Erst die Lagune, ein Areal von der Fläche des Bodensees, macht Venedig so einzigartig", heißt es im neuen "Baedeker". Der Impressionismus der Beschreibung und das "einzigartig" gehören zusammen (weshalb das Wort in diesem Buch recht häufig auftritt). Denn "einzigartig" ist keine Eigenschaft der Lagune, sondern ein Ausdruck, mit dem der Tourist eine vermeintlich exklusive Erfahrung in der Fremde markiert. Das Wort ist ein Selfie. Wo aber die Fremde hauptsächlich Anlass einer Selbstbespiegelung sein soll, kommt man auch ohne Wissen aus.

Vom Selfie geht die größte Gefahr für den Reiseführer aus - weshalb die Beschwörung "magischer Momente" für einen "Baedeker" ein eher riskantes Unternehmen sein muss.

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Quelle:
SZ vom 20.01.2018
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