Süddeutsche Zeitung

Reise:Kapitän des eigenen Glücks

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Mit dem Billigflieger in den Urlaub? Es gibt nichts Eleganteres, als das Ziel auf dem Seeweg anzusteuern.

Von Christian Mayer

Die kleinste Fähre der Welt war ein Abenteuer, es gab nichts Aufregenderes für einen Sechsjährigen als die Niederburg, ein Wassertaxi, das im Auftrag der Stadtwerke Konstanz die beiden Ufer des Rheins miteinander verband. Man stieg ein am alten Steg direkt vor dem mit allerhand Wassernixen und imposanten Seebewohnern verzierten Rheinstrandbad in Petershausen und schaukelte gemütlich zur Altstadtseite. Die zwanzig Pfennig Fahrgeld hatte man schon vor Stunden in die Hosentasche gesteckt, voller Vorfreude auf den Moment, in dem der Bootsführer das Tau einholen und den Motor anlassen würde.

Es ist ein herrliches Gefühl, wenn die Fähre im Zeitlupentempo in die Gänge kommt, wenn der Schiffskörper zu vibrieren beginnt und man die Beschleunigung am eigenen Leib zu spüren glaubt, und genauso herrlich ist es, wenn das Schiff mit einem leichten Stupser die Anlegestelle erreicht. Die Faszination für diese Art der Fortbewegung bleibt ein Leben lang.

Die Fähre ist das ideale Ersatzvehikel für Menschen, die sich einerseits das eigene Boot oder den Segeltörn nicht leisten können und andererseits nicht morsch genug sind für die Angebote der Kreuzfahrtindustrie.

Als Schüler in Konstanz konnte man übrigens selbst in die Dienste der Bodensee-Schifffahrt treten, bei der Autofähre Konstanz-Meersburg wurden in den Achtzigerjahren Einweiser gesucht, die vor allem in der Ferienzeit den stark anschwellenden Verkehr auf dem Vorplatz regelten. Als Einweiser stand man zwar buchstäblich am untersten Ende der Stadtwerke-Hierarchie, trug aber beim Dirigieren der Auto-Kolonnen die himmelblauen Hemden mit den breiten Kragen, eine nahezu seemännische Uniform. Man war also Teil der weißen Flotte und konnte hautnah miterleben, wie beglückend es für Autofahrer ist, wenn sie ganz hinten auf der Ladefläche noch einen Platz finden - und wie frustrierend, wenn der schwimmende Omnibus einem vor der Nase wegschippert.

Müssen wir zusehen, wie das Schiff ohne uns seine weiße Gischtspur hinterlässt?

Auch das gehört ja zu den kleinen Aufregern, egal ob man nun in Meersburg, in Kiel, in Ancona, Piombino oder Piräus weiter hinten in der Schlange steht: Dürfen wir noch mit? Oder müssen wir zusehen, wie das Schiff ohne uns seine weiße Gischtspur hinterlässt? Es soll Menschen geben, die seit Jahrzehnten nur deshalb nach Korsika fahren, weil es offenbar nichts Schöneres gibt, als mit 1800 anderen Fahrgästen im Höllenschlund einer Mega-Express-Fähre zu verschwinden. Dabei beginnt jede Fahrt erst mal mit einer Beinahe-Karambolage sich verkeilender Autotüren und dem beißenden Benzingeruch unter Deck; danach kämpft man sich mit den anderen durch die vom fahlen Neonlicht beschienenen Eingeweide nach oben. Zur Sonne, zur Freiheit!

Die Menschen, die seit Jahrzehnten auf dem Seeweg ihre raue Lieblingsinsel ansteuern, freuen sich schon auf die große Oper, auf die Ouvertüre von Rossinis "La gazza ladra" (Die diebische Elster), die als melodramatische Begleitmusik den Fahrgästen der Corsica Ferries zwei Mal die Tränen in die Augen treiben soll, beim Auslaufen und bei der Ankunft. Wer dieses Spektakel erlebt hat, lässt garantiert den gelben Aufkleber des Fährunternehmens dauerhaft auf der Heckscheibe. Das charakteristische Profil des dunkelhäutigen Kopftuchträgers signalisiert schon von Weitem: Hier fährt ein Kenner. Kein gewöhnlicher Pauschaltourist, sondern Mitglied im Klub der Teilzeit-Korsen, eine Fährverbindung der ganz eigenen Art.

Nirgendwo sieht man mehr selbstvergessen lächelnde Menschen als auf dem Oberdeck einer mit 20 Knoten eher gemächlich beschleunigten Urlaubs-Fähre (vergessen wir mal die unromantischen Erfahrungen auf schlecht geführten Schiffen bei Windstärke neun, Katastrophenberichte haben hier nichts zu suchen). Wenn sich das Festland langsam im Nichts auslöst und alles zu glitzern beginnt, entspannt sich sogar der schlimmste Freizeit-stresser. Die lange Anfahrt auf überfüllten Autobahnen liegt hinter einem, die vermeintlich schönsten Tage vor einem. In diesem Moment ist man der Kapitän seines eigenen Glücks, ein innerlich gelöster, von jedem Sicherheitsgurt befreiter Ferienmensch mit flatterndem Haar und glänzenden Augen. All die anderen, die jetzt neben ihren nölenden Kindern und genervten Partnern eng zusammengepresst im Billigflieger hocken und das Knie des Hintermannes im Kreuz spüren: Was wissen die schon von der Faszination des Dahingleitens, eine Art des Reisens, die in früheren Zeiten mit der leisen Ungewissheit verbunden war, ob man das Ziel erreichen würde.

Auf der Fähre geht es immer um das Ankommen, aber manchmal ist der Weg das Ziel

Schon für Thomas Mann war klar, dass man einen Sehnsuchtsort wie Venedig nur über den entfernteren Seeweg ansteuern durfte - über die Hafenstadt Triest und den istrischen Badeort Pula. Man hatte sich, wie der Held seiner Novelle "Der Tod in Venedig", standesgemäß einzuschiffen, nur so konnte man sich auf das venezianische Abenteuer angemessen vorbereiten, am besten im weißen Leinenanzug, das Outfit für mondäne Sommergäste, das leider der Schlabberuniform der globalen Kurzhosenträger gewichen ist. Die werden wohl auch bald auf den riesigen Panoramadecks der geplanten Florida-Kuba-Linie zu sehen sein: Von Fort Lauderdale, Miami und Key West in Florida soll man bald bis nach Havanna fahren können. Die Wiederaufnahme des Fährbetriebs nach fünfzig Jahren Unterbrechung dient nicht nur einem nostalgischen Karibikgefühl, es ist ein Politikum, weil so viel Bewegungsfreiheit den postsozialistischen Machthabern in Havanna noch immer verdächtig erscheint. Wer weiß schon, was auf Kuba zurollt, wenn täglich Luxusliner voller zahlungskräftiger Privatanleger zu erwarten sind.

Auf der Fähre geht es immer um das Ankommen, um die planmäßige Beförderung, aber manchmal ist der Weg das Ziel. Das war schon bei der kleinen, äußerst wendigen Niederburg der Fall, die 1991 leider ihren Dienst einstellen musste - eine neue Fußgänger-Rheinbrücke in Konstanz lenkte den Verkehr auf andere Bahnen. Sehr schade, die zwanzig Pfennig Fahrgeld für diese frühe Form des Cruisens waren eine Investition fürs Leben.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2016
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