Regionalküche:Die neue Brotzeit mit Biber und Garnelen

Regionalküche: Brotzeit von Ludwig Maurer mit Erdinger Garnelen, Krebsperle, Biberpressack und Dachsschinken.

Brotzeit von Ludwig Maurer mit Erdinger Garnelen, Krebsperle, Biberpressack und Dachsschinken.

(Foto: Klaus Einwanger)

Sterneköche wollen ihre bayerische Heimatküche neu erlebbar machen. Eine Revolution, die sich lohnen könnte.

Von Marten Rolff

Die Biergartensaison hat begonnen, und da lohnt ein Blick auf die bayerische Brotzeit. Ein Teller, der schon deshalb interessant ist, weil an ihn ähnlich klare Erwartungen gestellt werden wie an den weiß-blauen Himmel zum 1. Mai. Denn was zu einer Brotzeit gehört, glaubt jeder genau zu wissen. Im Normalfall (und in wechselnder Besetzung) nämlich: Berg- und Blauschimmelkäse, Obazda, Schweinsbraten, Schinken, Presssack, Gewürzgurke, Radieschen, Meerrettich, Brot, Butter oder Schmalz. So naheliegend, so traditionell.

Doch was, wenn plötzlich Sashimi vom Karpfen, Biberpresssack und Papaya mit aufs Brettl kämen?

Kein Zweifel, in den Wirtschaften und Biergärten würden sie sich totlachen. Und auch ein wenig ekeln. Schließlich geht es um eine Aufschnittplatte, auf der schon geräucherte Forelle nichts verloren hat. Um einen streng reglementierten Traditionsteller, der einmal als deftiger Proviant für ackernde Bauern startete und heute ein Symbol der bayerischen Regionalküche ist.

Alle reden von Regionalküche, nur scheint jeder darunter etwas anderes zu verstehen

Kann es bessere Voraussetzungen geben, um ein Gericht auf den Kopf zu stellen? Das fanden auch einige bayerische Spitzenköche, als sie sich kürzlich zum "Cooktank" an der Genussakademie im fränkischen Kulmbach trafen, um sich mit der Küche ihrer Heimat auseinanderzusetzen. Jeder stellte dort ein eigenes Gericht vor, das für ihn Bayern verkörpert. Und dabei wurde auch die Brotzeit ordentlich umgekrempelt. Aber sicher nicht, um sie in die Gourmetküche zu katapultieren. Eher ging es darum zu zeigen, wie sehr sich die Voraussetzungen für die sogenannte Regionalküche verändern. Ein Begriff, mit dem seit Jahren jeder Landgasthof und jede Hipsterkneipe wirbt, wobei alle darunter etwas anderes zu verstehen scheinen.

Der Wandel lässt sich besonders gut veranschaulichen an einem Teller, den jeder kennt. Und ihn neu zu verorten ist nun wirklich kein Sakrileg, hat die Brotzeit ihren Anspruch auf den Welterbetitel doch ohnehin verwirkt. Denn stellt man das schmierige Analogcamembert-Mus in Rechnung, das Kellner in falscher Miesbacher Tracht heute ihren Gästen als "original Obazda" aufs Breznstyropor schmieren, ja bedenkt man das schiefe Traditionslächeln, mit dem sie Discounterfleischwurst an vergorener Radispirale auftischen, dann hat sich die Sache mit der Orthodoxie schnell erledigt.

Insofern ist es erfrischend, wenn ein Koch wie Ludwig Maurer seinen Gästen im "Stoi" im niederbayerischen Rattenberg bei Straubing neuerdings eine Brotzeitplatte vorsetzt, auf der Farce vom Amerikanischen Signalkrebs und Presssack aus Biberfleisch eine zentrale Rolle spielen - beides urbayerische Spezialitäten, wie sich noch herausstellen wird.

"Kill the enemy" hat Maurer sein Gericht getauft, weil es sich um Tiere handelt, die auch deshalb auf den Tisch dürfen, weil sie mancherorts zum Problem werden. Der Signalkrebs etwa ist ein ebenso wohlschmeckender wie widerstandsfähiger Einwanderer, der die heimischen Edelkrebse in den Flüssen an den Rand des Aussterbens gebracht hat. Und auch für die Flussperlmuschel, die er gern bejagt, sieht es nicht gut aus. Also rollt Maurer seine Krebsfarce zur Kugel, taucht sie in gelierten Fischfond, färbt sie mit Lebensmittelfarbe perlmuttsilbern und serviert sie in der Muschelschale; der Signalkrebs als Signal gegen das Artensterben.

Einwände, dies könne für einen Brotzeitteller etwas verkopft wirken und zu aufwendig obendrein, lässt Maurer nicht gelten. Seine niederbayerische Familie ist nun seit 200 Jahren in der Gastronomie, und schon als Junge hat es ihn gewundert, wenn Wanderer im Gasthof nachmittags nach etwas zu essen fragten und es dann hieß, es gebe "nur" eine Brotzeit. "Was soll denn das heißen: nur?", fragt er. Als Kind hat er die Brotzeitteller vorbereitet und an die Tische gebracht. Wenn es sich um echtes Handwerk handle, seien alle Produkte aufwendig und wertvoll, findet er. Gegen einen Bergkäse zum Beispiel ist der Aufwand für eine Krebsfarce ein Witz. Zudem wurde früher alles verwertet auf den Höfen, nichts weggeworfen. Ein Anspruch, der heute kaum noch eingehalten wird, der den Koch aber zum Beispiel dazu veranlasste, den Gästen wieder Biberfleisch zu servieren.

Eine moderne Delikatesse aus fränkischem "Abfallfisch"

Ludwig Maurer ist im Vorstand der Jagdgenossenschaft. Ein befreundeter Jäger erzählte ihm, er habe zwei Biber, die er wegwerfen müsse, weil das Fleisch niemand wolle. Der Biber ist in Bayern erfolgreich wieder eingewildert worden, nun muss er - streng kontrolliert - geschossen werden, um Baumschäden zu begrenzen. Es sei doch paradox, die Tiere dann zu entsorgen, nur weil wir nicht mehr gewohnt seien, sie zu essen, findet der Koch; ein Fleisch, das gesünder, nachhaltiger, regionaler und weniger mit Stresshormonen belastet sei als das aus der nächsten Massentierhaltung.

Also hat Maurer hundert Jahre alte Kochbücher gewälzt, die noch Rezepte für Biberfleisch führen. Und er lässt sich seitdem Tiere bringen, die sonst keine Verwendung finden. "Man muss bei der Vorbereitung darauf achten, die Drüse nicht zu beschädigen", sagt er, aber von dieser Hürde abgesehen, sei das Fleisch "milde und sehr gut". Maurer hat erst mit Schmoren experimentiert und dann einen fein würzigen Presssack daraus gemacht. Natürlich muss er Biberwurst seinen Gästen bei Tisch erklären.

Tiere, die bejagt werden, deren Fleisch aber nicht dem Massengeschmack entspricht, sind beim bayerischen Kochgipfel in Kulmbach ein wiederkehrendes Thema. Wildschwein gehört bedingt dazu, aber auch der nahezu unverkäufliche Dachs, von dem Ludwig Maurer einen kräftigen Schinken präsentiert. "Dachsfleisch hat viel Hautgout", sagt er, entsprechend stark müsse man es räuchern und einsalzen. Jäger empfehlen auch Knoblauch und Wacholder.

Die mangelnde Nachfrage betrifft aber nicht nur Exoten, sondern auch ein fränkisches Traditionsgericht: den Karpfen, der wegen seiner Gräten und seines "schlämmelnden" Aromas immer unbeliebter und oft höchstens noch gebacken gegessen wird. Diesen Fisch hat der Sternekoch Felix Schneider brotzeitfähig gemacht, als süßlich-nussiges Sashimi, gewürzt mit Öl, Salz und der feinen Schärfe geriebenen Rettichs und von erstaunlich eleganter Textur: cremig, aber trotzdem mit Biss.

Karpfen will keiner mehr essen. Dabei schmeckt er gut gereift zu Sauerteigbrot vorzüglich

Schneider ist Chef des "Sosein" in Heroldsberg bei Nürnberg. Ein Gourmetlokal, dessen Küche sich für ungenutzte Produkte interessiert, "von denen die Leute sagen: Das ist minderwertig. Dann fragen wir uns, warum die Vorurteile bestehen und versuchen, sie zu widerlegen", erklärt der Koch. Schneider war geschockt, als Karpfenzüchter erzählten, dass ihre Teiche regelmäßig abgefischt werden müssten und viele Tiere, vor allem die größeren, dann in der Verbrennung landeten. Mit japanischem Know-how machte der Sternekoch deshalb aus fränkischem "Abfallfisch" eine moderne Delikatesse, die ob ihrer Schlichtheit auch in den Biergarten passt, mit Sauerteigbrot und Butter etwa. Dafür werden Karpfen nach der "Ike Jime"-Methode getötet, einem gezielten Stich ins Hirn, bei dem das Rückenmark durchtrennt wird. Das lässt den Fisch sauber ausbluten und verändert die Biochemie. So kann der Karpfen gute zwei Wochen im Kühlraum reifen, wodurch sein zähes Bindegewebe abgebaut und sein Geschmack viel gefälliger wird.

Wenn Wirte schlau sind, dann machen sie aus fränkischen Karpfen-Loins künftig nicht nur Sashimi, sondern auch den beliebten peruanischen Rohfischteller Ceviche. Hilfreich könnte da sein, dass sich das Spektrum regionaler Produkte ständig erweitert. In Erding steht heute Europas größte überdachte Aquakultur für Bio-Garnelen. Und in einem Tropenhaus bei Suhl werden Papayas gezüchtet; das Pilotprojekt soll zeigen, wie man die Abwärme von Unternehmen für nachhaltigen Früchteanbau nutzt.

Garnelen und Papayas waren auch auf dem "Cooktank" in Kulmbach ein Thema. Die Köche hier werden damit weder die bayerische Küche noch die Brotzeit neu definieren. Aber sie liefern Denkanstöße, wie sehr sich die Lebensmittelproduktion verändert und die alte bäuerliche Welt in Auflösung begriffen ist. Fränkische Tropenfrüchte, Biberfleisch und Erdinger Garnelen sind manchem heute näher als Monsantoacker und Schweinemast. Und je genauer man auf die Regionalküche (also auch auf die Brotzeitplatte) blickt, desto mehr verschwimmt, was eine solche eigentlich ausmacht.

Sicher ist nur: Wie "regional" ein Gericht ist, darüber entscheidet nicht selten die Tradition zuletzt. Und manchmal ist die am wenigsten bayerische Spezialität auf dem Teller dann eben: der Schweinsbraten.

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