Wohnen und Recycling:Verliebt in nachhaltiges Design

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Puristische Hocker, Sitzbänke oder Tische für drinnen und draußen gestaltet das Label WYE Design aus einem innovativen emissionsfreien Werkstoff. Man kann das Material sehr gut recyceln und daraus neue Möbel formen. (Foto: WYE Design)

Tische aus alten Lattenrosten, Stühle aus einem innovativen Werkstoff oder Betten aus Pappe: Nachhaltige Möbel sind gefragter denn je. Drei besondere Designlabels im Porträt.

Von Stephanie Schmidt

Die Reste sind das Beste. Während andere dabei an ein leckeres Kuchenbuffet denken, kommen Ferdinand Krämer Reststoffe aus der industriellen Produktion in den Sinn, genauer gesagt Sägespäne. Gemeinsam mit seinem Schulfreund, dem Wirtschaftsingenieur Franziskus Wozniak, gründete er im Jahr 2019 das Designlabel WYE Design. "In der Natur ist alles ein Nährstoff, sie ist unser Vorbild", sagt Krämer beim Spaziergang durch die luftige Lagerhalle, die sie am Rand der oberbayerischen Stadt Weilheim angemietet haben. Währenddessen strahlt die Frühlingssonne durch die großen Fenster in die 300 Quadratmeter große Halle und formt Licht- und Schattenszenarien auf dem Boden und an den Regalen. Darin und davor stehen Möbel in Pastellfarben: Apricot, Rosa, Oliv, aber auch Beige und Grau. Monochrome Hocker, Konsolen, Stehlen, Sideboards und Tische in puristischem Design.

Die beiden Freunde haben ihr grünes Start-up aus persönlicher Leidenschaft für Möbel gegründet. Robust und zugleich ästhetisch sollen sie sein, alle dafür verwendeten Materialien recyclebar - das war die Prämisse. "Wir verkaufen sie vorwiegend im Online-Shop", sagt der 35-jährige Produktdesigner, "inzwischen sind uns aber auch ein paar stationäre Händler zugeflogen." Je zwölf verschiedene Möbelstücke und Accessoires bieten sie in verschiedenen Farben an.

Eine Sitzbank aus Neolign kann man auf einfache Weise recyceln und in Stühle oder in ein Sideboard verwandeln

Möbel oder Schmuck aus vermeintlichen Abfallprodukten gibt es schon seit Jahren. Klar, dass die beiden Gründer einen neuen Ansatz brauchten: "Wir haben angefangen, mit Holzspänen zu experimentieren, in der Garage, ja tatsächlich. Typisch Start-up eben", erzählt Krämer grinsend. Dabei herausgekommen ist das patentierte neue Material Neolign, das zu 83 Prozent aus Reststoffen der Holzindustrie besteht. Unter Hitzeeinwirkung werden Sägespäne aus heimischen Hölzern mit organischen Farbpigmenten und Polymeren - emissionsfreien Kunststoffen - vermischt. "So entstehen Granulate, die maschinell zu Platten gepresst werden", erklärt Krämer. Für die Tischplatten, die Sitzbänke und die Sitzfläche der Hocker zum Beispiel, deren Beine aus pulverbeschichtetem Stahl bestehen. "Stahl wird ja seit Langem recycelt", fügt er hinzu. Möbel nicht nur für den Indoor-Bereich: Die Sitzbank mit Bezügen aus kompostierbaren Materialien kann genauso gut auf der Gartenterrasse stehen.

Die Schneidebretter aus dem innovativen Material Neolign haben zwei Seiten: die eine ist mit Ornamenten gestaltet - fürs Servieren und Dekorieren. Die andere ist schmucklos und für die praktische Küchenarbeit gedacht. (Foto: WYE Design)

Aus Neolign stellen sie auch Seifenschalen und organisch geformte Schneidebretter her. Eine Seite glatt, für die Küchenarbeit, in die andere Seite sind kurvige Strukturen eingeprägt. Hingucker zum Servieren oder an der Küchentheke. Für ihre Kreationen haben die beiden Gründer inzwischen mehrere Preise gewonnen, zum Beispiel den Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design 2021.

Das Material, aus dem sie gefertigt sind, riecht dezent nach Holz. Der Werkstoff hat eine eigenwillige Textur: ein bisschen rau und doch anschmiegsam. "Neolign ist sehr stabil. Man kann es aber auch leicht in seine ursprüngliche Form, das Granulat, zurückführen. Dabei erhält man zu hundert Prozent die gleiche Materialqualität, um wieder neue Möbel daraus zu machen", beteuert Krämer. "From cradle to cradle, von der Wiege zur Wiege", beschreibt er die Philosophie von WYE Design. Das heißt auch: Wenn einem ein Tisch oder Stuhl nach einer Weile nicht mehr gefällt, gibt man ihn zurück - und erhält eine Gutschrift in ansehnlicher Höhe. So kann ein Couchtisch als Barhocker in der Wohnung anderer wiederauferstehen.

Schon seit 1985 entwickelt das Unternehmen Stange Design, eine Manufaktur aus Berlin, Möbel aus Wellpappe. Dazu gehören Regalsysteme aus Wellpappe, aber auch Kommoden und Stühle - auf einem von ihnen sitzt Geschäftsführerin Mechtild Kotzurek-Stange. (Foto: Marzena Skubatz)

Start-up-Zeiten? An ihre eigene Gründungsphase erinnern sich Mechtild Kotzurek-Stange und Hans-Peter Stange mit einem gewissen Unbehagen. "Wir haben viele Federn gelassen", sagt die Geschäftsführerin von Stange Design. Man könnte sagen, sie sind alte Hasen, was das Entwickeln umweltfreundlicher Möbel angeht. 1985 gründete das Ehepaar seine Manufaktur für faltbare Möbel aus Wellpappe. Als Nachhaltigkeit ein Begriff war, den man noch der Forstwirtschaft zuordnete. "Wir waren damals nicht die Allerersten, die an Pappmöbeln getüftelt haben", erzählt die 65-Jährige. Aber im Gegensatz zu den beiden blieben andere im Laufe der Zeit auf der Strecke. "Das hat viel mit der Begeisterung für das Material zu tun." Die war so groß, dass sie sich viele Jahre nur auf die Firma und die Erziehung der beiden Töchter konzentrierten - für Freunde und Hobbys blieb keine Zeit. Produktion, Lager, Versand und Showroom - alles befindet sich im selben Gebäude, im Güterverkehrszentrum Großbeeren südlich von Berlin. Denn dem Unternehmerpaar ist es wichtig, jederzeit selbst nach dem Rechten sehen zu können.

Wenn ein Bett in zwei Versandkartons passt, dann muss es ein faltbares Möbelstück aus Pappe sein

Alles begann an der früheren Hochschule der Künste (HdK), wo sich die beiden in den Siebzigern kennenlernten. Hans-Peter Stange baute als Student einen sechseckigen Papphocker, der sich mit ein paar Handgriffen zusammenstecken lässt. Die Keimzelle von Stange Design sozusagen. Papphocker, so hieß er damals. Basta. Früher machte man nicht so viel Brimborium um die Namen von Möbeln. Der Hocker ist noch immer im Sortiment, heißt aber jetzt "Maks".

In den Siebzigerjahren erfand Hans-Peter Stange im Studium einen sechseckigen Papp-Hocker, das war die Keimzelle für die Manufaktur Stange Design, die er später mit seiner Frau Mechtild Kotzurek-Stange gründete. (Foto: Marzena Skubatz)

Die Wärme des Materials begeisterte Stange, ebenso seine Leichtigkeit. Ihm gefiel auch, dass der CO₂-Ausstoß bei der Herstellung von Wellpappe geringer ist als bei Kunststoff, Metall oder Verbundwerkstoffen. Heutzutage ist Stange Design in Deutschland führender Hersteller im Bereich Pappmöbel - für die kleinen und die großen Dinge: Es gibt Spielköfferchen für Kinder, die sie bemalen können, farbig bedruckte "Gettoblaster", in denen man allerlei Krimskrams unterbringen kann, kostengünstige Regale und Kommoden in vielen Varianten, aber auch Garderoben, Stühle und Sessel. Dafür entwickelte das Unternehmerpaar ein spezielles Steck- und Faltsystem.

Das Unternehmerpaar kreierte auch Skulpturen aus Pappe und Spielköfferchen für Kinder, die sie bemalen können. (Foto: Marzena Skubatz)

Ein Schaf namens "Wolly" blickt aus einem Fenster der Manufaktur ins Freie. Es dient als Dekoration oder als Lasttier - man kann es mit einem Tablet, Zeitschriften oder Accessoires beladen. Das Papp-Schaf gibt es auch im Kleinformat. Das Do-it-yourself-Set dafür passt in eine A4-Versandtasche. Selbst das nur 25 Kilogramm schwere Doppelbett lässt sich flach falten und per Post versenden. "Es passt in zwei Kisten und hält einem Gewicht von circa 20 Personen stand", sagt Hans-Peter Stange. Das zeigten professionelle Belastungstests. Und wenn sich ein 100-Kilo-Schwergewicht in einen der Pappsessel plumpsen lässt? "Das geht locker", meint der Erfinder, er halte ein Vielfaches aus.

Er hat sich inzwischen aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen, bringt aber weiterhin Ideen für neue Produkte ins Unternehmen ein. An die 20 000 Entwürfe hat der Designer im Laufe der Zeit gemacht. Dazu gehören Auftragsarbeiten wie eine "Berliner Mauer", die auf einem Fußballfeld zwischen zwei Mannschaften aufgebaut wurde. Was für ein Event: Stange zeigt Fotos von Spielern, als sie die Mauer aus Pappe mit großem Elan zum Umstürzen brachten. Gern erinnert er sich auch an das Amphitheater aus Pappe für 200 Kinder. "Ich wäre ja am liebsten Archäologe geworden", bemerkt er lachend.

Papp-Schafe gibt es in verschiedenen Varianten. Für Möbel und Accessoires haben die Gründer von Stange Design ein spezielles Steck- und Faltsystem entwickelt. (Foto: Marzena Skubatz)

Die Einrichtungsgegenstände aus maximal sieben Millimeter dicker Spezialpappe, die im Fachjargon den unschönen Namen "Panzerpappe" trägt, sind vollständig wiederverwertbar. Doch Produktqualität und Ästhetik fordern ihren Tribut: Die Wellpappe besteht zwar zu einem großen Teil aus Recycling-Material. "Aber auf den Außenseiten brauchen wir Frischfaser-Papier aus dem langfaserigen Holzschliff", beschreibt Mechtild Kotzurek-Stange ein entscheidendes fachliches Detail. "Damit die Möbel an den Kanten nicht aufreißen, sie sollen doch schön aussehen und langlebig sein!" Circa 100 Produkte hat die Manufaktur aktuell im Sortiment. "Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir die besten Lieferanten für die Rohstoffe gefunden hatten", berichtet die Unternehmerin.

Das Unternehmerpaar ist fasziniert von der Leichtigkeit des Materials. Das Doppelbett aus Pappe wiegt nur 25 Kilogramm. (Foto: Marzena Skubatz)

Alte Lattenroste werden zu Pflanzenständern, die auch als Tische dienen können

Thomas Maurer ist froh, einen zuverlässigen Lieferanten für sein wichtigstes Upcycling-Material gefunden zu haben: Die 26 Mistplätze - so nennt man in Wien die Wertstoffhöfe - legen sämtliche Lattenroste, die dort abgegeben wurden, für Maurer und seinen Geschäftspartner, den Architekten Maximilian Klammer, auf die Seite. Die beiden Österreicher haben vor eineinhalb Jahren in Wien das Designlabel Snorre gegründet. Sie fertigen aus den entsorgten Lattenrosten Pflanzenständer in verschiedenen Höhen. "Auf diese Weise bekommen wir pro Monat zuverlässig 100 bis 150 Lattenroste", berichtet Marketing-Spezialist Maurer. Sie werden zu handgefertigten Unikaten, denen man ihr Vorleben ansehen soll. So verwandelt sich zum Beispiel ein roter Lattenrost in einen roten Pflanzenständer. Manchmal pappt da noch ein Etikett des Bettensystem-Herstellers dran, was etwas skurril aussieht.

Aus entsorgten Lattenrosten fertigt das Wiener Designlabel Snorre Design Pflanzenständer. (Foto: Valentina Ilazi)

Mithilfe eines patentierten Zugmechanismus geht der "Snorre" - er trägt den gleichen Namen wie das Designlabel - nach Bedarf in die Breite. "Dafür verwenden wir Schuhbänder aus der Überproduktion einer österreichischen Seilerei", verrät der 30-Jährige. So wächst der Pflanzenständer mit der Palme oder dem Gummibaum. Der Clou: "Snorre" ist ein Multifunktionsmöbel. "Er kann zu einem Champagnerkühler werden", sagt Maurer. "Oder zu einem Tisch." Mit Tischplatten verschiedener Größen aus recycelten Verschlusskappen von Plastikflaschen.

Die Pflanzenständer lassen sich auch in Tische verwandeln. Dafür gibt es Tischplatten aus Recycling-Material. (Foto: Valentina Ilazi)

Könnte man weitere Arten von Reststoffen verarbeiten? Und was ist mit sozialem Engagement? Immer mehr geht es beim grünen Möbeldesign darum, Nachhaltigkeit in möglichst viele Bereiche der Wertschöpfungskette zu integrieren. So kooperiert etwa Snorre mit der österreichischen Wohlfahrtsorganisation Volkshilfe und lässt seine Möbel in deren Werkstätten von Langzeitarbeitslosen oder Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen zusammenbauen.

Das Wiener Label und WYE Design, die beide im mittleren Preissegment angesiedelt sind, haben konkrete Pläne, um den Kreis ihrer Kunden zu erweitern. Thomas Maurer und sein Partner wollen ihre Verwandlungsmöbel demnächst in Hotels und Restaurants bringen. Ferdinand Krämer hätte Lust, sich "in unserem Lager eine Prototypenecke einzurichten". Dazu kommt er wohl erst mal nicht. "Denn ich bin gerade dabei, eine Kindermöbelkollektion zu machen."

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