Judith de Graaff ist in der Welt der Zierpflanzen und Übertöpfe so etwas wie ein Superstar. Könnten Pflanzen kreischen, würden sie es wohl, sobald sich die 38-jährige Niederländerin über ihre Blätter beugt. Menschen machen es jedenfalls, zum Beispiel der Ladenbesitzer in Mailand. Kaum hat de Graaff seinen Grünpflanzen-Shop betreten, rüttelt er hinter dem schlichten Holztresen am Arm seiner Freundin und es platzt "Doch, sie ist es!" aus ihm heraus.
Das Pärchen hat den Pflanzenladen gerade erst aufgemacht. Neben ihnen, auf der frisch lackierten, rapsgelben Wendeltreppe, steht ein Tablett mit Sektgläsern von der Party am Vorabend. Die junge Italienerin ist jetzt trotzdem hellwach: "Oh mein Gott, bist du es wirklich?" Judith de Graaff, brauner Bob, schwarze Designerbrille und Kleid mit Blattprint, könnte nicht freundlicher sein. Sie streckt ihre Hand aus, lächelt, ja, sie ist es. "Darf ich vielleicht Fotos und eine Instagram-Story machen?" Das Paar nickt, nahezu synchron.
Nur Idioten würden das ablehnen. Judith de Graaff ist geübt darin, Pflanzen in Szene zu setzen. Sie stellt einige Minikakteen nah an ein palmenartiges Gestrüpp im dunklen Tontopf. Klick. Nahaufnahme eines marmeladenglasgroßen Terrariums, in dessen Mitte sich ein einziges Blatt gen Deckel windet. Klick.
Besonders beliebt sind Gewächse, die Punkte und Muster auf den Blättern haben
Die Grafikdesignerin de Graaff hat sich im Jahr 2013 gemeinsam mit ihrem Kumpel Igor Josifovic die Hashtags #urbanjungle und #urbanjunglebloggers ausgedacht und mit der gleichnamigen Webseite eine Art globale Plattform für Pflanzen-Nerds geschaffen. Sie sind damit weltbekannt geworden. Kaum ein Pflanzenbild in den sozialen Netzwerken, unter dem nicht auch ihr Hashtag steht. Ihr erstes Buch mit Pflanzen in verschiedenen Wohnzimmerinterieurs in ganz Europa, mit Pflegetipps und Einrichtungsideen ist inzwischen in der neunten Auflage und zehn Sprachen erschienen. Am zweiten Band arbeiten die beiden derzeit.
Heimbotanik-Botschafter wie de Graaff, die täglich mindestens zwei Posts absetzt und allein mit ihren Kanälen auf Instagram mehr als 900 000 Abonnenten erreicht, ermuntern eine vollkommen neue Zielgruppe dazu, sich die Wohnung mit Blumentöpfen und exotischem Blattgrün vollzustellen. So ungewohnt es noch klingt, aber Zimmerpflanzen sind fast über Nacht zum Lifestyleprodukt geworden. Vorbei die Zeit, als es gesellschaftsfähig war, wenn bei einem nicht mal ein Kaktus überlebte. Junge Modeketten wie Urban Outfitters räumen Ladenecken für Kakteen und Sukkulenten frei. Daneben stehen schicke Fotobücher mit Einrichtungstipps oder Übertöpfe mit Grinsegesichtern drauf. Im Pariser Shop war Anfang des Jahres sogar das Schaufenster mit Pflanzen zugestellt, darauf der Schriftzug: "Happy Plants For Happy Spaces".
Glück ist ein wesentlicher Faktor. De Graaff, die mit Mann und gut 150 Pflanzen in einem Designerloft in Paris lebt, hat bereits mit mehreren Lifestyleunternehmen zusammengearbeitet und dabei genau das in den Vordergrund gestellt: Mit Pflanzen kannst du deine Wohnung schöner machen und dich selbst glücklicher. Eine einfache Botschaft, die derzeit wahnsinnig gut ankommt. Auch deshalb kann Judith de Graaff erfolgreich das sein, was inzwischen als "Plantfluencer" bezeichnet wird. Das ist ein zusammengesetztes Wort aus "plant", englisch für Pflanze, und Influencer, also diesen Menschen, die sonst mit Fotos von Mode, Essen oder Beautyprodukten in den sozialen Netzwerken andere Menschen inspirieren.
Besonders beliebt sind Punkte und Muster auf den Blättern
"Es ist eigentlich verrückt, dass das nun auch mit Pflanzen funktioniert", sagt de Graaff. "Auf der anderen Seite ist es überhaupt nicht verwunderlich. Meine Generation ist schließlich mit Internet und Handy aufgewachsen. Natürlich lieben wir Pflanzen. Sie beruhigen uns und haben vor allem kein Display." Mit ihrer Generation meint sie die Millennials, geboren zwischen 1980 und 1999. Menschen eben, die nicht immer nur über Displays wischen wollen, sondern endlich mal wieder schmutzige Hände haben. Wobei, den Digital Natives ist die Handy-Detox-Phase mit Gießkanne vielleicht wichtig, aber der kuratierte Instagram-Auftritt mit schicken Einsichten ins eigene Leben oft mindestens genauso sehr. Sonst hätten Topfpflanzen nie dieses Comeback geschafft.
Zimmerpflanzen finden sich schon seit Jahrhunderten in den Wohnräumen der Menschen. Wohl noch nie aber waren sie dort so sehr Stilaccessoire wie heute. Die Szene inszeniert selbst solche Pflanzen wie Designobjekte, die sie vor wenigen Jahren noch als spießig bezeichnet hätten. Besonders beliebt sind Gewächse, die Punkte und Muster auf den Blättern haben oder deren Grün sich besonders gut vor einer in "Millennial Pink" gestrichenen Wand macht. Oder die pittoresk aus einem Makramee-Hängetopf baumeln.
Für die im Netz beliebten Pflanzenwimmelbilder, auf denen sich begrünte Töpfe in einer Zimmerecke oder auf einer Holzleiter zu einem kleinen Dschungel versammeln, ist es wichtig, möglichst viele Arten zu mischen. Klein neben groß, dick neben dünn. Eine flache Sukkulente mit haarigen Blättchen neben einer glänzenden Pilea peperomioides. Der chinesische Geldbaum, auch Ufopflanze genannt, sieht mit seinen runden, in alle Richtungen abstehenden Blättern niedlich und exotisch zugleich aus. Er gehört deshalb zu den ersten Pflanzen, die es in großem Stil aus dem Netz sowohl in die Wohnungen von Hipstern wie auch in Cafés in New York, Helsinki und Berlin verpflanzt hat.
Momentan ist allerdings kaum eine Heimpflanze so gefragt wie die Monstera, die ihre erste Hochphase in den Siebzigerjahren hatte. Allein unter dem Hashtag #monsteramonday, mit dem immer montags neue Fotos von der grünen Mitbewohnerin hochgeladen werden, gibt es mehr als 160 000 Beiträge auf Instagram. Die großen, gespaltenen Blätter prangen mittlerweile auch auf T-Shirts, Tassen und Tapeten sowie Badean- und Kissenbezügen.
Junge Käufer im Visier der Topfpflanzen-Industrie
Millennials, das ist nämlich auch die Generation, die zwar nicht viel verdient, aber trotzdem gerne einkauft. Die in kleinen Wohnungen in Großstädten lebt und dort im Home-Office arbeitet. Von der Pflanzenindustrie in den USA wird sie als "Indoor Generation" begrüßt. Also als Menschen, die viel drinnen sind und für die Zimmerpflanzen oder auch nur ein botanischer Aufdruck eine Verbindungen zur Natur darstellen. Gut ein Viertel der Topfpflanzen in den USA wird inzwischen an 18- bis 34-Jährige verkauft. Auch in Europa hat die Industrie die jungen Käufer im Visier.
"Unsere Gesellschaft hat sich stark verändert, daran müssen wir uns mit unserem Angebot anpassen", sagt Nicola Fink vom Fachverband deutscher Floristen. Ein klassischer Blumenstrauß sei bei manchen Kunden oft nicht mehr gewollt. Gerade erst war Fink auf einem internationalen Designermeeting, wo Zulieferer von Floristikaccessoires die neuen Kundenwünschen analysiert haben. "Unsicherheit war da ein großes Thema, eine Art Identitätskrise, die viele Menschen fühlen", sagt Fink. Lebende Pflanzen könnten ein wichtiger emotionaler Ankerpunkt sein. Was für Floristen ungewohnt sein mag: Kaum eine der Plantfluencer-Fotos zeigt eine Blüte. In Szenevierteln entstehen deshalb neue Shops, die genau das liefern: Pflanzen in allen Größen mit viel Blattgrün und eben einer starken Neigung des Sortiments in Richtung Interieur, die man in den üblichen Blumengeschäften so nicht findet. In Hamburg etwa, hat Judith de Graaff vor kurzem die "Plant Station" besucht. Ein gut 40 Quadratmeter großes Geschäft in einer stillgelegten Tankstelle aus den Fünfzigerjahren.
Inhaberin Zelda Czok hat diesen Ableger ihres Concept Stores vor einem Jahr eröffnet und verkauft dort an die 400 verschiedene Kakteenarten, Sukkulenten und Grünpflanzen. Zu ihr kommen oft Kunden, die gezielt nach bestimmten Pflanzen fragen, die sie auf Instagram oder Pinterest gesehen haben. Während Czok, 40, in dickem Pulli und geblümten Socken, davon erzählt, trudeln einige Stereotypen der neue Pflanzenfreunde ein. Da ist der ältere Designer in eng anliegendem Tweedblazer und Red Wing Boots. Da ist die Clique von Endzwanzigern mit Lederjacken und Bandanas, die aus einem himmelblauen Mercedes Coupé mit Lammfellbezügen springt.
"Es ist natürlich leicht, diesen unglaublichen Pflanzentrend als Hipster-Klischee zu belächeln", sagt Czok. "Die Bewegung ist aber weit mehr als nur Zeitvertreib für gelangweilte Großstädter. Menschen entdecken Pflanzen endlich wieder für sich. Und zwar alle möglichen Menschen, und das ist das Schöne daran."
Vielleicht ist es wiederum genau das, was so viele anzieht. Pflanzen sind nicht nur ein neues Statussymbol. Sie sind eine Möglichkeit, sich nicht mehr so allein zu fühlen. Zu Hause und im Netz.