Der anschauliche Begriff "Hotness Gap" beschreibt ein Phänomen, das vor allem in Drehbüchern immer wieder gern bemüht wird: Mittelgut aussehender Typ, bisschen chaotisch, womöglich sogar problembehaftet, kriegt überdurchschnittlich heiße Frau ab, siehe Familie Feuerstein, Roger Rabbit, "Modern Family", die Netflix-Serie "Love" oder zuletzt der Weihnachtsfilm "Love Hard". Ein offensichtliches Attraktivitätsgefälle als Spannungselement, doch letztlich zählt eben die wahre, über bloße Äußerlichkeiten hinausgehende Liebe. Herzerwärmend, gesellschaftlich wertvoll - funktioniert in Film und Fernsehen seltsamerweise nur als Einbahnstraße in die Frau-zu-Mann-Richtung.
Jedenfalls scheint eine gewisse Dissonanz beim Sex-Appeal eines Paares die Leute tief zu faszinieren. Besonders wenn es mal nicht auf dem Bildschirm, sondern im echten Leben passiert, und besagter mittelgut aussehender Typ nicht nur mit einer überdurchschnittlich heißen Frau, sondern gleich mit einem halben Dutzend dieser Kategorie zusammen war.
Auftritt: Pete Davidson. Typ schlaksiges Riesenbaby mit wachsender Tattoo-Dichte, gelegentlich blond gefärbten Haaren, regelmäßigem Marihuana-Konsum und einer Vorliebe für Nagellack. Der 28-Jährige wurde vor einigen Jahren als jüngstes Mitglied der erfolgreichen US-amerikanischen Comedy-Reihe "Saturday Night Live" (SNL) bekannt, einem breiteren Publikum auch außerhalb der USA ist er mittlerweile jedoch eher geläufig als der Typ mit der erstaunlichsten Dating-Historie der vergangenen Jahre. 2018 war er mit der Popsängerin Ariana Grande verlobt, 2019 kurz mit den Schauspielerinnen Kate Beckinsale und Margaret Qualley liiert, danach mit Cindy Crawfords Supermodel-Tochter Kaia Gerber zusammen, im Frühjahr 2021 folgte der "Bridgerton"-Star Phoebe Dynevor. Das allein führte bereits zu Reaktionen, die mit "allgemeiner Verwunderung" nur unzulänglich umschrieben wären, sondern eher in Richtung "Greuther Fürth gewinnt dreimal die Champions League" gehen.
Und das war noch, bevor im Herbst die neueste Frau an seiner Seite gesichtet wurde: Kim Kardashian, 41, Social-Media-Dominatrix, Multimillionärin, Ex-Frau von Kanye West. Erst trat sie in "Saturday Night Live" auf, dann kursierten Gerüchte, schließlich Fotos vom Händchenhalten im Vergnügungspark und ein Bild der beiden mit braunen Pyjamas im Partnerlook. Nicht mal bei SNL hätten sie so eine hanebüchene Idee als Sketch durchgehen lassen. In der Realität wird nun in Artikeln und Podcasts angestrengt versucht, das Phänomen dieses atypischen Frauenschwarms zu ergründen.
Männer wie Donald Trump oder Jeff Bezos haben Geld, Nicolas Sarkozy und Gerhard Schröder hatten Macht, Arthur Miller und Salman Rushdie Geist, aber was zum Kuckuck hat Davidson? Wie kann das sein? Was geht hier eigentlich vor?
Sind Komiker im Grunde die idealen Casanovas?
Zunächst einmal: eine offensichtliche Abweichung davon, was in der Psychologie als die "matching hypothesis" bezeichnet wird. Demnach suchen wir unsere Partner ungefähr in der gleichen Attraktivitätsklasse. Auf die Promiliga übertragen also das, was die Bennifers (Jennifer Lopez und Ben Affleck), Brangelinas (Brad Pitt und Angelina Jolie) oder die Beckhams da draußen all die Jahre praktiziert haben: "Du siehst gut aus, ich seh gut aus, lass uns gut aussehende Kinder zeugen - oder zumindest zusammen für eine Unterwäschewerbung posieren."
Eine nicht repräsentative Umfrage im näheren Bekanntenkreis ergab allerdings, dass gerade jüngere Frauen Pete Davidson vielleicht nicht klassisch gut aussehend, aber keineswegs sooo unattraktiv finden. Immerhin ist der Mann einen Meter neunzig groß, kleidet sich altersgerecht bunt, hat eine makellose Kauleiste und Eins-a-Zahnfleisch, das er ständig freilegt. Denn, und nun kommen wir vermutlich zum eigentlichen "Hotness-Faktor" (nein, nicht die angebliche "Big Dick Energy", die Ariana Grande einmal auf Twitter andeutete), sondern: Der Mann lacht viel. Er ist unbestritten lustig. Er versteht Spaß. Unlängst heuerte ihn der Sender NBC zusammen mit Miley Cyrus für eine mehrstündige Neujahrssendung an. Erfolgreich ist er also auch. Demnach dürfte es deutlich langweiligere Dinge geben, als mit Pete Davidson Zeit zu verbringen. Wie wertvoll Humor in der Liebe ist, wusste schon Jessica Rabbit, das rothaarige, kurvige Supergeschoss aus dem Disney-Klassiker "Falsches Spiel mit Roger Rabbit". Auf die Frage, warum sie bloß mit diesem kleinen Karnickel zusammen sei, haucht sie ganz selbstverständlich: "Er bringt mich zum Lachen."
Denn bei den ersten Dates mit einem hübschen Mann sitzt man da vielleicht noch schockverliebt und kaum zurechnungsfähig. Dann lichtet sich allmählich der Endorphinnebel, es muss geredet werden, aber der Job ist bald durchgekaut, die Nachrichtenlage zu deprimierend, und vom Gegenüber kommt wirklich nichts zurück außer überdurchschnittlicher Physiognomie. Ja, der Typ mag wahnsinnig gut aussehen, aber am Morgen nach einer langen Nacht im Hotel stehen beide, egal wie hübsch, verquollen an der Rezeption. Einer wie Pete Davidson sagt dann zu Schaulustigen wenigstens: "Wir hatten das Zimmer neben der Eismaschine." Wer braucht schon große Romantik, wenn er gute Laune haben kann?
"Fun Boy" statt "Toy Boy" - aber natürlich hat auch dieser Prototyp einen Haken
Seit Jahren geben Frauen in Umfragen folgerichtig "Humor" als eine der wichtigsten Qualitäten beim potenziellen oder aktuellen Partner an. Auf der Liste des großen deutschen Datingportals Neu.de rangiert er sogar noch vor Intelligenz. Erst an zehnter Stelle: Männlichkeit. Deshalb ist Scarlett Johansson eben nicht mehr mit Männern wie Ryan Reynolds oder Sean Penn zusammen, sondern - so ein Zufall - ebenfalls mit dem SNL-Mitglied Colin Jost verheiratet. Deshalb darf Davidson seine Kim in einen Vergnügungspark und zum Kinobesuch mit anschließendem Pizza-Date in seine Heimat Staten Island ausführen. Nicht ganz so glamourös wie die Pariser Fashion Week, wo man nachts von Juwelendieben ausgeraubt wird, aber mal was anderes. Von einem seiner Freunde weiß man, dass der Mann beim Autofahren durch New York gern laut den Schmachtfetzen "Turn Around" von Bonnie Tyler schmettert. Nichts gegen Kanye Wests Œuvre, aber lustiger klingt das Programm allemal.
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Womöglich ist Pete Davidson also tatsächlich eine Art neuer Prototyp Frauenschwarm. "Fun Boy" statt "Toy Boy". Rotznasiger Komiker statt Rosenkavalier. Keiner, der den Frauen die Welt zu Füßen legt, sondern der die Welt zu einem lustigeren Ort macht. Zumal den Frauen dieser Liga die Welt ja eh schon zu Füßen liegt. Statt sich in das Heer der Speichellecker einzureihen, gilt Pete Davidson eher als jemand, der so ziemlich alle Menschen ungefiltert gleich behandelt, egal welches Promi-Level. Trotzdem sei er "supercharmant", wie das Model Emily Ratajkowski kürzlich in einer Talkshow verriet. Außerdem verletzlich, herzlich und - Extrabonus - "er hat ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter". Tatsächlich wohnten die beiden bis vor Kurzem noch unter einem Dach.
Bevor jetzt alle Frauen zwischen 20 und 47 nach Staten Island ziehen, um ihr Glück als nächste Davidson-Flamme zu versuchen - zu denken gibt natürlich, dass keine der Beziehungen länger als ein paar Monate dauerte. Geht all die Spaßigkeit am Ende doch mit chronischer Unreife einher? Es soll ja Momente in Beziehungen geben, in denen man sich durchaus mal ernsthaft unterhalten will, vielleicht sogar eine gemeinsame Wohnung sucht, Wandfarbe und Wasserhähne aussuchen muss. Vielleicht sehen all die Ladys irgendwann ein, dass sie hier vor allem ihrem Mutterinstinkt aufgesessen sind, dieser "Pete Pan" aber nie erwachsen werden wird. Zumal das Helfersyndrom im Falle Davidson womöglich doppelt durchschlägt: Sein Vater, ein Feuerwehrmann, starb beim Anschlag auf das World Trade Center, als der Junge sieben war. Daraufhin wechselte er die Schulen so oft wie die Therapeuten. Bis heute geht er offen damit um, psychische Probleme zu haben. Als er im Dezember 2018 einmal auf Instagram postete, nicht mehr auf dieser Welt sein zu wollen, wurde sofort eine Streife bei ihm zu Hause vorbeigeschickt. Das wiederum klingt deutlich weniger lustig.
Der klassische Cis-Hetero-Beau steckt in der Krise
Was in der ganzen Pete-Phänomenologie bislang vollkommen außer Acht gelassen wird: Wer wäre für all die Superfrauen da draußen denn die bessere Alternative? Zum "Sexiest Man Alive 2021" kürte das People Magazine den Schauspieler Paul Rudd, 52, der so belanglos ist, dass seine Wahl eigentlich nur mit Unterbesetzung der Redaktion wegen Corona oder mit mangelnden Alternativen erklärt werden kann. Brad Pitt ist allmählich zu alt, Johnny Depp irgendwie untragbar, Daniel Craig vergeben. Stars wie Jared Leto und Harry Styles dagegen sind so divers unterwegs, dass keiner mehr so genau zu sagen vermag, ob sie hetero, bisexuell oder asexuell sind. Der klassische Cis-Hetero-Beau scheint in der Krise zu stecken.
Eine Beziehungsexpertin sah in der Daily Mail bereits einen Trend zu "bösen Buben". Neben Davidson etwa der sehr tätowierte Sänger Machine Gun Kelly - zufällig einer seiner besten Freunde. Aber dass schöne Frauen auf Rockstars stehen, deren Oberkörper in Richtung Mustertapete gehen, ist im Grunde nichts Neues. Pamela Anderson und Mötley-Crüe-Schlagzeuger Tommy Lee, das Supermodel Stephanie Seymour und Guns-N'-Roses-Sänger Axl Rose. Ein klassisches Neunziger-Revival wie in der Mode, mit dem Unterschied, dass die neuen bösen Buben keine Hotelzimmer zerlegen, sondern höchstens zu bekifft sind, um am Morgen pünktlich auszuchecken. Im Wesentlichen kommen sie friedlich daher. Kanye West dagegen drohte Davidson in seinem neuen Song "Eazy" bereits Prügel an. Altes Cis-Hetero-Gehabe.
In einem Interview erzählte der Komiker einmal, dass nach seiner Verlobung mit Ariana Grande andere Männer auf der Straße ihren Hut vor ihm gezogen hätten. Einer habe zu ihm gesagt: "Yo Mann, du gibst mir Hoffnung!", woraufhin Davidson witzelte, er hätte nicht gedacht, dass er so hässlich sei. Nehmen wir also zur Kenntnis, dass Männer zuversichtlich sind, weil selbst sehr prominente Frauen endgültig über Äußerlichkeiten hinweg sind und sich in egal wie attraktive Komiker, Anästhesisten, Programmierer verlieben. Aber wo bleiben die umgekehrten Beispiele? Wer produziert all die Serien und Filme dazu? Wo sind all die Männer, die sich in lustige, coole, schlaue Frauen verlieben, die nicht zufällig auch noch total bombenmäßig aussehen?
Keanu Reeves und seine Freundin, die Künstlerin Alexandra Grant, stehen für eine der wenigen Ausnahmen, weil Grant mit 48 "nur" neun Jahre jünger ist als ihr Partner und bislang nicht auf die Idee kommt, sich für Hollywood die grauen Haare zu färben. Pierce Brosnan wurde lange dafür "bewundert", mit einer nicht spindeldürren Frau verheiratet zu sein, der Journalistin Keely Shaye Smith, die zum Zeitpunkt des Verliebens aber natürlich noch rank und schlank war. Brad Pitt wurde mal eine Affäre mit der amerikanisch-israelischen Professorin Neri Oxman angedichtet, bestätigt wurde aber nur die mit dem nächsten Model.
Laut einer Studie der Columbia University schrecken smarte Frauen Männer immer noch eher ab, als dass sie sie antörnen: Eine durchschnittlich attraktive Frau wollten die Männer nur dann wiedersehen, wenn sie nicht sehr intelligent war. Extrem smarte Frauen dagegen konnten nur punkten, wenn sie auch extrem attraktiv waren. Offensichtlich noch ein weiter Weg bis zu einem Männertraum namens Petra Davidson.