Süddeutsche Zeitung

Oversize-Mode:Über Größe

Wer sehr weite Kleidung trägt, will sich damit nicht unbedingt verhüllen, sondern etwas demonstrieren.

Von David Pfeifer

Moden kommen und gehen wie Gezeiten und Launen. Derzeit tragen viele relativ junge Menschen Kleidung, bei der sich relativ ältere Menschen fragen: Hatten wir das nicht schon? Riesige Pullis, die über den Po reichen? Weite Hosen darunter. Bei den Mode-Discountern hängen Wolljacken, mit denen man sich zudecken und das T-Shirt gleich als Leintuch darunterbreiten könnte. Sucht man nach dem Begriff "Oversize", bekommt man schnell eine Auswahl von 300 Teilen.

Man könnte spekulieren, dass Menschen, die sich heute eingesperrt fühlen, im von Max Weber so genannten "stahlhartem Gehäuse des Kapitalismus", zumindest bei der Kleidung etwas Weite und Entspannung und Freiheit spüren wollen.

Nun taucht diese Mode nicht zum ersten Mal auf. In den 1920er-Jahren, als die Menschheit kurz dachte, sie könnte aufatmen, wurde auch die Kleidung lässiger. Man wollte sich nicht mehr in Korsette zwängen. Auch danach wollten Frauen und Männer, wenn sie sich in Oversize-Mode hüllten, damit nichts verstecken, sondern eher etwas demonstrieren. Beispielsweise in der Hippie-Zeit.

In den 1980er-Jahren kehrte die Mode mit einiger Wucht wieder, Frauen trugen Herrenanzüge, und das quasi schon als Karikatur derselben, mit weiten Hosen und übergroß ausgestellten Schulterpolstern. Das galt als Uniform für die moderne Feministin, die nicht mehr Lila tragen, sondern vor allem dasselbe verdienen wollte wie ihre männlichen Kollegen in den Führungsetagen. Für junge Männer etablierte sich etwas später der freizeitorientiertere Hip-Hop-Look, mit offenen Turnschuhen in der Größe von Tretbooten und extrem tief hängenden Hosen. Bei weißen Mittelstands-Kids in Europa wirkte das etwas albern, waren die hängenden Hosen in den USA doch eine Solidaritätsbekundung mit den häufig schwarzen Brüdern im Gefängnis, die ihre Gürtel abgeben mussten. All das kommt nun in dieser neuen Welle zusammen.

Kathrin Bierling, deutsche Mode-Bloggerin der ersten Stunde, erklärte vor Kurzem in der ersten Folge ihres Podcasts "Das trägt man jetzt so" den Oversize-Trend und sagt dazu: "Der neue, weite Schnitt ist schon ganz normal geworden. Und gesellschaftlich kann ich beobachten, dass knalleng, sexy Dekolleté und Ähnliches gerade sehr unmodern wirkt." In den trendsensiblen Zielgruppen ist eine Mode häufig die optische Vermittlung einer gesellschaftlichen Veränderung. Wenn man nun also Frauen in weiten Jeans und Herrenhemden unter schrankgroßen Mänteln sieht, dann kann sich darunter auch das Credo der Body Positivity verbergen, also sich im eigenen Körper auch abseits der Normen wohlzufühlen.

Am offensivsten gezeigt und erklärt von der Sängerin Billie Eilish, die sich stets sehr modisch und aufwendig verhüllt und die Bewegung maßgeblich befeuert. "Ich trage große, sackartige Kleidung, damit niemand sich eine Meinung bilden kann, weil niemand gesehen hat, was darunter ist", sagt Eilish dazu. Etwas ältere Menschen, die sich noch an die letzte Oversize-Welle erinnern, würden vielleicht sagen: Die inneren Werte sollten zählen. Man will sich schon zeigen, aber den Körper dabei nicht ausstellen.

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