Gastronomie:Die Essenz des Fremden

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Freudige Gäste, glückliche Gastronomen: ein Restaurant in Berlin-Kreuzberg. (Foto: Carsten Koall/Getty Images)

Endlich wieder unverhoffte Begegnungen, endlich wieder raus aus der eigenen Küche: Warum die Öffnung der Restaurants nicht nur kulinarisch ein großes Glück ist.

Von Alain Claude Sulzer

Die Restaurants geöffnet! Ob in Lörrach, Hamburg, Berlin oder München, überall strömen die Entwöhnten herbei. Eine Freundin, die unter erschwerten Bedingungen gerade eine Wohnung einrichtete, schrieb mir vor einer Woche aus Berlin: "Wir waren Essen!" Es klang nach Befreiung. Ich fragte nicht, ob draußen oder drinnen, ob bei Starkregen unter einem Sonnendach oder bei brennender Hitze im Freien, ob zu zweit oder zu viert, ob mit Impfausweis oder Test. Ich schob all diese Fragen von mir und fragte sie stattdessen bang, ob die Köche das Kochen nicht verlernt hätten? Aber nein, sie hätten doch die ganze Zeit zu Hause gekocht. Zu Hause kann doch jeder kochen, dachte ich, zu Hause musste jeder kochen. Köche hingegen, die für ein großes Publikum kochen, dürfen nicht aus der Übung kommen, wenn sie auf der Höhe ihrer Kunst bleiben wollen. Dass ihnen - und ihren Angestellten - abgesehen von den Einnahmen etwas fehlte, als die Gastronomie geschlossen wurde, steht außer Zweifel, was aber fehlte uns?

In der Schweiz waren wir für einmal schneller. In den Außenbereichen der Restaurants durfte man bereits im Frühling wieder konsumieren. So saß ich am 23. April im Garten der Basler Kunsthalle unter den Kastanien, die eben zu knospen begannen. Vier Tage zuvor war den Gastronomieunternehmen die teilweise Wiedereröffnung erlaubt worden; ebenso den Konzertveranstaltern fünfzig Besucher pro Saal. Ich hatte mich mit meinem Freund verabredet, der am Abend im Musiksaal ein Klavierkonzert spielen würde; in dem Saal, der im Sommer 2020 nach mehrjähriger Renovierung festlich wiedereröffnet und coronabedingt gleich wieder geschlossen worden war.

Allein zu essen, war einst das Privileg der Könige

Es traf sich gut: Der Krönung des ersten Konzertbesuchs nach Monaten ging der Höhepunkt durch das erste Restaurantessen voraus. Für einmal weder Streaming noch selber kochen, weder Konserve noch Lieferdienst. Echtes Essen in der Öffentlichkeit. Vollbesetzte Tische, Gäste und Kellner, als wäre nichts gewesen. Wir bestellten Hackfleisch mit Hörnli, das Einfachste, was die Schweiz kulinarisch zu bieten hat, gefüllt mit Kindheitsnostalgie. Es war wie früher. So richtig in die Realität kehrte ich allerdings erst zurück, als die Rechnung kam: Kein Zweifel, wir waren genau dort, wo wir vor der Pandemie gewesen waren: in der preislich hochgetunten Schweiz. So ernüchternd normal hatte ich mir meinen ersten "Ausgang" nicht vorgestellt. Alles beim Alten? Schon vergessen, auf was wir eben noch verzichten mussten?

Allein zu essen, war einst das Privileg der Könige. Wenn der zahnlose Ludwig XIV. sein Mittagsmahl mit Fingern aß - die Gabel war erfunden, aber Sire schätzte sie nicht -, tat er es allein. Der Hofstaat von Versailles war zwar pflichtschuldigst anwesend, wenn die verschiedenen Gerichte unter Trompetenklängen hereingetragen wurden, aber die Damen und Herren durften nur zusehen, nicht zugreifen. Der König saß allein an seinem Tisch, umringt von adeligen Zuschauern mit knurrenden Mägen, und stellte den Herrscher als Essenden dar. Das Zeremoniell wollte es so.

Was damals schicklich war, würde heute als anstößig empfunden und verworfen. Die Sitten haben sich aber nicht aus Gründen der politischen Korrektheit geändert, sondern weil es während der französischen Revolution zum Umsturz unzähliger Konventionen kam, in deren Folge das Bürgertum zum sicheren Wert wurde, während die Monarchen um ihre Köpfe bangen mussten. Nach dem (vorläufigen) Ende des Königtums entstanden Ende des 18. Jahrhunderts in Paris die ersten Restaurants, wie wir sie heute kennen. Bis dahin hatte man, um satt zu werden, in seinen eigenen vier Wänden gegessen. Auswärts aßen lediglich Reisende nach beschwerlichen Ritten oder Fahrten auf Wagen. Sie aßen in Gasthöfen, weil sie hungrig waren, nicht aus Vergnügen. Die Qualität dessen, was sie verzehrten, spielte eine untergeordnete Rolle. Auch der Umstand, in welcher Umgebung man speiste, war nicht von Bedeutung, das fremde Wirtshaus konnte das Zuhause ohnehin nicht ersetzen, zumal Gefahren lauerten. Die Literatur ist voll davon: Spuk, Betrug, Raub und Mord waren an der Tagesordnung. Wirten und Köchinnen traute man nicht über den Weg; wer wusste schon, was sie in ihren dunklen, rauchigen Hexenküchen zusammenrührten?

Als die gottesfürchtigen Bewohner des norwegischen Ortes Berlevaag gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der ehemaligen Köchin des Pariser Cafés Anglais bekocht wurden und aßen, wie sie nie zuvor gegessen hatten, bemerkten sie zwar, dass ihnen etwas geschah, nicht aber, warum es geschah. Hätten sie gewusst, dass die Köchin Babette ein Vermögen (zehntausend Francs!) ausgegeben hatte, um sie durch ihre Kochkünste für ein paar Augenblicke über ihr gewöhnliches Leben hinauszuheben, wären sie aus Furcht vor solchem Teufelswerk wohl auf der Stelle geflohen. In Berlevaag und anderswo war jede Art Genuss Versündigung; und wie verwerflich war es erst, sich am Genuss der anderen zu erfreuen, wie Tania Blixens Protagonistin Babette es tut.

Wer am eigenen Leib erfahren will, was den naiven Bürger von Berlevaag begegnete, muss heutzutage nicht auf ein Wunder wie in der Gourmet-Novelle "Babettes Fest" warten. Gelegenheiten, Wunder zu erleben, sind an den entlegensten Orten möglich. Oft genügt es aber, das Haus zu verlassen, ein paar Schritte zu gehen und sich an einen fremden Tisch zu setzen, um solcher Wunder teilhaftig zu werden. Der König, der einst sein einziger Kunde war, ist lange tot. Ein bisschen König ist heute jeder Kunde. Selbst wer allein an der Theke isst, ist nicht allein. Und auch vor Dieben und Betrügern ist man einigermaßen sicher.

Unser kleiner, unscheinbarer Gaumen ist lernbegierig

Wir essen zu Hause, wenn uns danach zumute ist. Wer der eigenen Küche überdrüssig ist, geht aus. Anders als der Reisende von einst suchen wir im Restaurant nicht nach Ersatz für das, was wir zu Hause bekämen. Wir suchen eher nach der Essenz des Fremden. Wir wollen um gar nichts in der Welt zu Hause sein. Unser kleiner, unscheinbarer Gaumen ist lernbegierig und bereit, neue Aromen - Süßes, Saures, Bitteres, Unbekanntes - in sein Geschmacksrepertoire aufzunehmen. Die Bäuerin und der Bauer, die nur essen, was sie kennen, sind nur noch ein Gerücht.

Als aufgrund der Pandemie Millionen Menschen daran gehindert wurden auszugehen, fühlten sich viele gegen ihren Willen in die Rolle der Berlevaager Bürger nach Babettes Festmahl versetzt. Sie mussten auf fremde Kochkünste verzichten. Sie mussten selber kochen. Sie taten es. Des immer gleichen Repertoires an Rezepten wurden sie bald überdrüssig. Sie suchten nach neuen Rezepten im Internet. Wenn sie misslangen, griffen sie zu Fertiggerichten. Wer über nichts als den eigenen Herd, ein paar Zutaten und sein beschränktes Können verfügt, wird zwangsläufig zum Bauern, der essen muss, was ihm selbst gelingt (oder auch nicht). Wehe jenen, die stets behauptet hatten, kein Talent zum Kochen zu haben. Die Entscheidung, ob sie bescheiden oder anspruchsvoll, traditionell oder einfallsreich, asiatisch oder italienisch speisen wollten, lag nun in ihren zwei linken Händen.

Man hatte keine Wahl, man blieb zu Hause. Restaurants und Bars waren so geschlossen wie Theater, Kinos und Einzelhandel. Was tun mit der Zeit, die man eben noch zu zweit oder mit Freunden bei einem (oder zwei) Glas Franciacorte in der Stammbar oder vor einem Carré d'agneau beim netten Franzosen verbracht hatte? Ich selbst griff nach dem nächstliegenden Strohhalm und unterhielt im Frühjahr 2020 zwei Monate lang meinen ersten (und vermutlich letzten) Koch-Blog. Mein Mitteilungsbedürfnis war groß genug, um die Ergebnisse meiner täglichen Kocherei in Form von Text und Bild einem mir größtenteils unbekannten Publikum zu präsentieren. Was mir am Herd misslang und dem Fotoshooting nicht standhielt, kehrte ich unter den Teppich, das merkte ja keiner. Auf Dauer ersetzte die semiprofessionelle Augenwischerei jedoch nicht, was der Sache fehlte: die Freunde, die am gleichen Tisch saßen und das Essen mit uns teilten. Es fehlte das gelegentliche "Ach, wie köstlich!", es fehlte das Klappern der Gabeln und Messer, das Geplapper rund ums Essen, die Stille, das Stimmengewirr.

Die Schwere des Seins weicht der Leichtigkeit des Scheins

So eindringlich die Propheten und Sinnsucher in den träge dahinschleichenden Monaten der Pandemie ein verändertes Konsumverhalten nach deren Ende heraufbeschworen, so wenig scheinen ihre Prognosen nun einzutreten. Kaum haben die Lokale wieder geöffnet, kann man beobachten, dass den meisten eine schlaffe Pizza beim Italiener um die Ecke mehr bedeutet als die schmackhaftere Variante, die sie zu Hause auf der Grundlage eines eigenen, herrlich knusprigen Hefeteigs mit Genuss verzehren könnten. Warum nur? Die Antwort steckt im Konjunktiv. Was man könnte, ist nicht immer, was man möchte. So mancher steht lieber Schlange vor dem Döner-, Fisch- oder Würstlstand am Mehringdamm, an den Landungsbrücken oder am Viktualienmarkt als in den Dämpfen seiner eigenen, ewig gleichen Abzugshaube, wo er erfahrungsgemäß nicht mit Überraschungen rechnen kann. Ganz anders im "öffentlichen Raum", wo unverhoffte Begegnungen und Beobachtungen die Regel sind. Wir sind nun mal Jäger und Sammler zufälliger Begebenheiten.

Die Qualität des Ausgehens hängt nicht allein von der Qualität des außer Haus verfügbaren Angebots ab. Es geht nicht nur um guten Wein und gutes Essen, schöne Teller, gestärkte Servietten, gepflegte Hintergrundmusik und gedämpftes Ambiente. Es geht um Ablenkung. Das Ärgernis eines enttäuschenden, kostspieligen Essens wiegt häusliche Einförmigkeit manchmal genauso auf wie die schlechte Laune eines arroganten Kellners. All das erträgt man meist besser als die eigenen Marotten oder die der Ehepartner, zu denen man die Distanz längst verloren hat, die einen so wohltuend von der "Servierkraft" trennt. Was zu Hause an die Nieren geht, ist draußen Schauspiel, Leben, Wirklichkeit, Gedöns und Gemache. Die Schwere des Seins weicht der Leichtigkeit des Scheins, sobald man ein Lokal betritt, das man jederzeit wieder verlassen kann. Dem missmutigen Kellner kann man aus Rache das Trinkgeld verweigern, über kleinliche Waffen dieser Art verfügt man zu Hause nicht. Unbefriedigendes Essen bestätigt einem, wie gut man selber kocht. Schlechtes Benehmen des Personals gibt einem zu verstehen, das Lokal in Zukunft zu meiden (und selbst etwas freundlicher zu sein). Es gibt jede Menge Strategien, um sich durch Ausweichmanöver an gastronomischen Enttäuschungen schadlos zu halten. Es hat sie immer gegeben, und es wird sie auch weiterhin geben, weil das Leben nun einmal nicht vollkommen ist, weder zu Hause noch im Gasthaus - und schon gar nicht während einer Pandemie.

Doch die positiven Erfahrungen überwiegen; ohne sie wären Restaurants ja nicht die Orte, an die wir immer wieder zurückkehren wollen. Wegen der Speisen, wegen der Erinnerungen und wegen des genius loci. Und wegen Menschen wie dem pensionierten chef de salle der Basler Kunsthalle, dessen Abschied nach zweiundvierzig Dienstjahren ausgerechnet in die Zeit der Pandemie fiel. Jeder kannte den groß gewachsenen, gut aussehenden, diskreten und höflichen Mann, der alles überblickte, alles im Griff hatte, und den seine Gäste nicht verabschieden konnten. Wie er hieß - Monsieur Trabelsi - wussten die wenigsten. Das war ihm auch nicht wichtig. Er war die Seele des Lokals. Dass das Personal unter seiner Ägide kaum fluktuierte, lag mit Sicherheit an ihm. Als ich ihn kürzlich auf der Straße traf und fragte, wie er sich jetzt fühlte, seufzte er nur. Ihm war ohne seine Gäste schrecklich langweilig. Er fehlt dem alten Restaurant und seinen Gästen. Au revoir.

Alain Claude Sulzer ist Schriftsteller und lebt in Basel, Vieux Ferrette und Berlin, zuletzt erschien sein Roman "Unhaltbare Zustände" (Galliani Berlin).

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