Essen und Trinken:Schäufele in hip

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Seit 30 Jahren kochen sie im "Essigbrätlein" gegen das Diktat der Bratwurst. (Foto: Simeon Johnke/Essigbrätlein)

Wer innovative Spitzenküche sucht, fährt nach Berlin. Danach kommt dann gleich Nürnberg. Warum Genießer der fränkischen Stadt einen Besuch abstatten sollten.

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Gut möglich, dass in den kleinen, grünen Schoten schon die halbe Geschichte steckt. Ackerrettich, ungefähr zwei Handvoll, Andree Köthe hat sie frisch geerntet. Jeden Morgen fährt er ins Knoblauchsland und sammelt auf den Feldern, was er und Yves Ollech später im "Essigbrätlein" zubereiten. Um diese Jahreszeit, Mitte September, sind das zum Beispiel geschossener Lauch und Rotkohltriebe, strahlenlose Kamille und Taubenkropf-Leimkraut. Oder eben Ackerrettich. Die Schoten liegen in einer Plastikschale, Köthe holt sie aus der Küche, "können Sie mal probieren". Die Früchte sind nur ein paar Zentimeter lang, extrem saftig und bringen eine frische Schärfe mit.

Das ist das eine. Das andere, das Tiefergehende ist: Andree Köthe und Yves Ollech haben viel dazu beigetragen, dass Nürnberg heute zu den kulinarisch interessantesten Städten der Republik zählt - gerade weil sie sich mit dem Gemüse vor der eigenen Haustür beschäftigt haben, statt kistenweise Steinbutt von der Atlantikküste anzukarren.

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Lange war das Essigbrätlein das einzige Sternelokal in Nürnberg, und wenn es um Spitzenküche ging, war die Stadt nicht unbedingt eine, die sich, sagen wir, in den Vordergrund drängte. Jetzt ist das anders. Nicht nur, dass der " Guide Michelin" in den vergangenen drei Jahren sechs weitere Restaurants in Nürnberg und der Umgebung mit Sternen ausgezeichnet hat. 2016 ernannte Der Feinschmecker Stefan Meier zum "Aufsteiger des Jahres", 2018 dann Valentin Rottner. Beides Nürnberger.

Wenn es heute um innovative Küche in Deutschland geht, führt der Weg als Erstes zwar immer noch nach Berlin, danach aber immer öfter nach Nürnberg statt nach München. Grund genug zu fragen, wie es dazu kam, vor allem: wie sie hier kochen.

"Ich hab vom ersten Tag an immer gegen diese alte Bude gekocht"

Ein Eckhaus in der Nürnberger Altstadt, Butzenscheiben, dunkle Holzvertäfelung, die Patina mehrerer Jahrhunderte. Das Essigbrätlein, ausgezeichnet mit zwei Sternen, wurde 1650 zum ersten Mal als Gasthaus erwähnt. Andree Köthe, 55, sitzt am Tisch neben dem Kücheneingang, trägt Brille, T-Shirt, Stoffhose. Vor dreißig Jahren hat er das Restaurant übernommen, er sagt: "Ich hab vom ersten Tag an immer gegen diese alte Bude gekocht." In den Anfangsjahren hat er sich vor allem mit Gewürzen beschäftigt. Nicht zuletzt, weil es in den Straßen Nürnbergs ab Ende November nach Gewürzen riecht. Nach Glühwein, Bratwürsten, dem Rauch der Grillstände.

Frisch vom Feld: Koch Andree Köthe erntet Blumenkohl für das Abendmenü im "Essigbrätlein". (Foto: Essigbrätlein)

Nachdem Yves Ollech 1997 als Küchenchef ins Essigbrätlein einstieg, begannen sie, intensiver mit den Gemüsen und Kräutern aus der Umgebung zu arbeiten. Vor allem aus dem Knoblauchsland zwischen Nürnberg, Fürth und Erlangen, einem der größten zusammenhängenden Gemüseanbaugebiete Bayerns. Im Schäufele-Mekka Nürnberg waren sie damit Avantgarde, Jahre bevor jeder ambitionierte Koch über Variationen von Topinambur oder Kohlrabi referierte. Ollech, 48, setzt sich zu Köthe an den Tisch, er sagt: "Als wir angefangen haben, war Gemüse bei Weitem nicht hip, da hat Gemüse niemanden interessiert."

Casual Fine Dining: Im Restaurant "Sosein" in Heroldsberg ist auch die Einrichtung auf das Wesentliche reduziert. (Foto: Toc Designstudio - Haardt Wittm)

Heute gelten sie weit über die Stadt hinaus als Vordenker einer modernen Gemüseküche, die möglichst alle Teile der Pflanze verwendet, von Karotten auch das Grün, vom Wirsing auch die Blattrippen und den Strunk. Die Rotkohltriebe, die Köthe morgens geerntet hat, schmurgeln sie und servieren sie auf weißem Spargel, der besonders schlotzig gerät, weil sie ihn im Mai vakuumiert und eingefroren haben. Vom Blumenkohl servieren sie die gekochten Stiele mit dünn gehobelten, abgeflämmten Röschen, dazu Kerbel, eingelegte Kirschpflaumenblüten, eine Vinaigrette aus gegrilltem Blumenkohl, Blumenkohlsaft und Honig.

Fisch vom Ammersee, Lamm aus Niederbayern

Für Köthe und Ollech hat all das weniger mit Vordenken zu tun, mehr damit, dass gerade am Anfang viele Ideen aus ihrer Situation heraus entstanden sind. "Wenn ich damals eine Kiste bretonischen Hummer bekommen habe, dann waren von zehn Stück fünf gut, zwei mittelmäßig, und drei konnte man eigentlich gleich wegwerfen", sagt Köthe. Also haben sie sich von den klassischen Edelprodukten verabschiedet, stattdessen beziehen sie Fisch vom Ammersee bei München, Lamm vom Gutshof Polting in Niederbayern. Dass sie so viel mit Gemüse experimentieren? Nur konsequent, so nah am Knoblauchsland: "Wenn wir in Argentinien wären und überall nur Rinder hätten, würden wir wahrscheinlich eine Fleischküche machen."

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Im Essigbrätlein haben sie schon darüber nachgedacht, was aus den Produkten der Umgebung rauszuholen ist, lange bevor in den Gastroführern das Kopenhagener "Noma" auftauchte, weltweit das Maß aller Dinge für moderne Küche. Köthes und Ollechs Ansatz wird außerdem nur aktueller in einer Zeit, in der Fleischkonsum und Transportwege auf ihre Klimaverträglichkeit abgeklopft werden. Wie aber hat sich Nürnberg gastronomisch verändert? Yves Ollech sagt: "Es haben sehr viele junge Leute nicht versucht, das zehnte Bratwurstlokal aufzumachen, sondern eben eine andere Art von Gastronomie."

Einer davon ist Valentin Rottner. Der 31-Jährige gehört zu jener jungen Generation von Köchen, die bestens ausgebildet ist und eine Sterneküche nach der anderen unterm Gürtel hat. Ein kurzer Auszug: Rottner lernte bei Alexander Herrmann in Wirsberg, kochte bei Johannes King und Alexandro Pape auf Sylt, arbeitete dreieinhalb Jahre bei Nils Henkel in Bergisch-Gladbach.

2015 kehrte er in das "Gasthaus Rottner" seiner Eltern nach Nürnberg zurück, in den Stadtteil Großreuth, weiter draußen, wo die Stadt grüner wird. Ein traditioneller Familienbetrieb, viel Fachwerk. Valentin Rottner kocht hier in achter Generation. Im April 2018 eröffnete er in einem der Räume das "Waidwerk", und zack, ein knappes Jahr später kam der erste Stern.

Das Waidwerk ist alles andere als das zehnte Bratwurstlokal. Der Tradition verschließt sich Rottner trotzdem nicht. "Wir sind Megafans vom Schäufele", sagt er über die geschmorte Schweineschulter, "was richtig abgeht, ist die Kruste." Darum hat er als Amuse-Gueule schon gepoppte Schweineschwarte geschickt, mit Schäufele-Aromen als Gel. Außerdem ist Rottner, der Name Waidwerk sagt's, begeisterter Jäger. Was er schießt, verkocht er. "Wenn ich ein Stück als Ganzes hierher bringe, aus der Decke schlage, verwerte von Kopf bis Fuß, ist die Wertschätzung eine ganz andere." Dazu passt der Zehnender, der im Lokal hängt. Sein Großvater schoss ihn 1988, das Jahr, in dem Rottner geboren wurde.

Auch das hat die Generation junger Köche verstanden: Geschichten zu erzählen.

Obwohl Rottner den Stengelkohl aus dem eigenen Garten verarbeitet, Steinpilze aus dem Bayerischen Wald oder Karpfen aus dem Aischgrund: Ganz auf internationale Produkte verzichten will er nicht. "Wenn ich einen Kaisergranat aus Island bekomme, der lebendig ist? Ich weiß nicht, ob für einen Koch mehr geht. Das möchte ich auch den Gästen nicht vorenthalten."

Im Fine Dining ist Nürnberg weit vorne. Da kann es nicht schaden, kurz auf die Alltagsküche zu schwenken. Darüber lässt sich gut mit Oliver Esch sprechen. Esch, 50, ist Küchenchef und Besitzer des "Sushi Glas" am Kornmarkt. Seit 1997 gibt es hier Sushi, für das manche Gäste aus München anreisen. Für das die Leute von der Messe kommen, Esch merkt diese Tage besonders: "Spielwarenmesse ist bei mir komplett ausgebucht, Biofachmesse ist bei mir ein halbes Jahr vorher ausgebucht."

Reduziert auf die Essenz der Zutat: Ein Gericht aus dem "Sosein". (Foto: Cristopher Civitillo PHOTOGRAPHY)

Oliver Esch sitzt vor seinem Lokal, Kochjacke, Sneakers, tätowierte Arme. Er erzählt von einem Stammgast, der in der ersten Woche, im April 1997, ins Sushi Glas kam. "Der hat damals gesagt: ,Den Scheiß kannst du nicht fressen'." Und jetzt? "Er kommt zweimal in der Woche, dreimal in der Woche. Er war heute Mittag wieder da."

Natürlich hat sich im kulinarischen Alltag der Stadt etwas getan. Wie überall findet man hier jetzt "eine größere Streuung", wie Esch es nennt. Mehr Pizzerias, mehr griechische Lokale, mehr Thai-Läden und Sushi-Bars. Dann sind da die Naturkostketten, die Filiale um Filiale eröffnen. Die Metzgereien, die Dry-Aged-Beef anbieten. Legen die Menschen also mehr Wert auf gutes Essen? "Im höheren Segment, im Sternesegment hat sich das bestimmt verändert. Aber weiter unten wird sich da nicht viel geändert haben. Glaub ich nicht."

Auch für Felix Schneider könnte sich noch mehr tun. "Der Mittelbau fehlt. Eine modernisierte Alltagsküche. Es gibt noch ein bisschen oft die alten Bratwurstpfade."

Keine Tupfer, keine Schnörkel

Ein Donnerstagabend im September, Schneider, 34, steht in der Küche seines Restaurants "Sosein" in Heroldsberg, zehn Kilometer nördlich von Nürnberg. Seit Jahren eines der meistbeachteten deutschen Restaurants. Das liegt auch daran, dass sie hier vieles anders machen, als man es von den meisten Gourmetlokalen gewöhnt ist; dass sie sehr konsequent darüber nachdenken, wie Genuss und ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen zusammengehen. Das Menü basiert im Wesentlichen darauf, was Schneider und seine Lieferanten in den Wäldern, Wiesen und Gewässern der Umgebung finden.

Schneider portioniert gerade drei gegrillte Zanderfilets. Der Hauptgang steht als "Zander, Bohnensaft" auf der Karte. Schneider und sein Team reduzieren die Dinge auf ihren Kern, auf ihr, nun ja, Sosein. Einer der Köche gießt Bohnensaft in die Teller, setzt ein Filet darauf, keine Tupfer, keine Schnörkel. Auf den Fisch kommen nur noch seine getrockneten und frittierten Schuppen, als Crunch. In einem zweiten Teller schicken sie den Zanderkopf, dazu ein Sud aus den Karkassen und junge Mandeln. Spricht man mit Schneider nach dem Abendservice, sagt er: "Es muss nicht nur gut schmecken, man hat mit solchen Gerichten auch die Möglichkeit, verschiedene Inhalte zu transportieren." Beim Zander ist es die ganzheitliche Verwertung. Beim Saibling ist es die Frage, wie ein Tier sterben soll, wenn wir es schon essen wollen. Er wird nach der "Ike Jime"-Methode geschlachtet: Durch einen gezielten Stich wird das Rückenmark durchtrennt, wodurch der Fisch weniger Stress empfindet.

Da wundert es nicht, wie Schneider sich eine zeitgemäße Küche vorstellt: "Moderne Küche kann ein Stück weit Verantwortung übernehmen für gewisse Bereiche. Die Probleme sind gegenwärtig, wer sie nicht erkennt, will nicht oder kann nicht."

Anlehnungen an die fränkische Küche streut er im Lauf des Menüs immer wieder ein. In seiner puristischen Version der "Schlachtschüssel" zum Beispiel: eine Kartoffel der Sorte Sibylle, wunderbar speckig und kompakt, dazu milchsaures Blaukraut und Späne der getrockneten und geräucherten Leber vom Mangalitza-Schwein. Eine andere Anleihe: die Brotzeit, die er vor dem Menü serviert.

"Vor dieser Fleischlawine, die jetzt über Franken rollt, gab's hier eine ganz, ganz starke Gemüseküche", sagt Felix Schneider, "auch, weil die Leute nicht so viel Geld hatten." Gemüse spielt im Sosein eine große Rolle, Schneider baut vieles selbst an, allein um die 30 Tomatensorten. Eine davon, "Green Giant", serviert er mit einer schokoladig einreduzierten Mole von Flusskrebsen. Das Gemüse, der Fokus auf die Gegend: In manchem lässt sich seine Küche durchaus als Weiterführung dessen verstehen, was Andree Köthe und Yves Ollech im Essigbrätlein begonnen haben.

Felix Schneider geht es nicht um Dogmatismus, das sagt er immer wieder, nicht darum, sich aromatisch einzuschränken. Doch wozu Krustentiere von weit her importieren, wenn die Gründlach voller Signalkrebse ist? Im Moment serviert er sie im "Prolog" des Menüs, eingerollt in ein Shiso-Blatt. Gut möglich, dass in den kleinen Krebsen schon die halbe Geschichte steckt.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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