Illustrator Christoph Niemann:"Das kann Stunden dauern, in denen ich frustriert das Ding anstarre"

Christoph Niemann gehört zu den gefragtesten Illustratoren der Welt. Im Gespräch erzählt er, wie seine Werke entstehen und was er an Instagram schätzt.

Protokoll von Martin Wittmann

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Berlin

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Quelle: SZ

Die Idee dieses Bildes ist die Verbindung von zwei Berliner Motiven. Ich liebe Caspar David Friedrichs "Frau am Fenster" aus der Alten Nationalgalerie. Den Schiffsmast habe ich dann durch den Fernsehturm vom Alexanderplatz ersetzt, und die Ikone der Romantik damit ins Jetzt geholt. Und aus der Frau im steifen Kleid wird eine lässige Berlinerin. Nach Berlin sind wir nach elf Jahren New York 2008 gezogen, und mittlerweile würde ich auch sagen, dass die Stadt meine Heimat ist. Auch wenn man sich hier gerne mit Neuankömmlingen schwer tut. Mein Lieblingscartoon dazu stammt von Schilling & Blum: Zwei Hipster sitzen im Café. Sagt der eine: "Ich wohne erst seit einem Monat in Berlin, aber ich hasse schon alle, die nach mir gekommen sind."

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Urlaub

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Quelle: SZ

In den Ferien zu zeichnen, finde ich erholsam: Es gibt keine Deadline, und wenn es nichts wird, muss ich es ja keinem zeigen. Das Bild zeigt meine Frau an der Algarve, ausnahmsweise in den Dünen und nicht im Museum. Das meiste, was ich über Kunst weiß, weiß ich von ihr, sie ist Kunsthistorikerin und schleppt mich in jede Ausstellung.

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Sex

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Quelle: SZ

Das Bild war Teil einer Serie, die ich für ein Illustrations-Jahrbuch machen durfte. Die Auftraggeber meinten: Mach, was du willst, aber es ist unsere 20. Ausgabe. Das Thema lautet "XX", es wäre vielleicht gut, wenn es irgendwie um Zensur und Pornografie ginge. Die Idee für so ein Bild habe ich nun nicht beim Zähneputzen. Der Prozess funktioniert eher mechanisch: Ich suche Dinge, die in Spannungsverhältnis zueinander stehen. Dann blättere ich meinen geistigen Bilderkatalog durch: Toaster, Sisyphos, Mona Lisa, ein freies Assoziationsspiel. Erst mal muss wirklich alles raus, auch das Banale und Offensichtliche, damit ich für mich selber rausfinden kann, wo ich eigentlich hinwill. Sackgassen gehören dazu. Mit Glück finde ich ein Bild, das verblüffend zwingend wirkt. Und dann dauert es Stunden, damit es ausschaut, als sei es in zwei Minuten entstanden.

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Laufen

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Quelle: SZ

Ich wollte einmal im Leben den Marathon in New York mitlaufen. Also habe ich 2011 der New York Times die Idee vorgeschlagen, während des Rennens zu zeichnen und die 46 Bilder live auf Twitter zu stellen. Ich hab es auch ins Ziel geschafft, obwohl ich mir erst zwei Jahre zuvor die Achillessehne gerissen und danach überhaupt erst zu joggen angefangen hatte. Heute laufe ich regelmäßig. Es tut gut, sich manche Dinge aus dem Geist zu laufen. Manchmal lese ich eine Debatte auf Twitter und kämpfe mit der Versuchung, mich einzumischen. Dann gehe ich eine Stunde rennen. Dabei formuliere ich feurige Pamphlete. Auf den letzten Metern kommt dann die Gewissheit, dass sich meine Twitterfreunde auch ohne meine Hilfe ganz gut zanken können.

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New Yorker

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Quelle: SZ

Ich habe mehrere Cover für den New Yorker gestalten dürfen. Für uns Illustratoren ist das so etwas wie die Olympische Goldmedaille unserer Profession. Was die wenigsten wissen: Das Cover bezieht sich nie auf eine Geschichte im Heft. Es gibt auch keine Überschrift, das heißt, die Idee muss sich ganz und gar über das Bild erklären. In diesem Fall das Reaktorunglück von Fukushima 2011. Erst ging es nur um das Erdbeben. Dann drehte sich die Geschichte, innerhalb eines Tages wurde durch den Atomunfall aus der Naturkatastrophe eine menschengemachte Katastrophe. Die Bilder waren so brutal, aber es war immer bedrückend leise. Im Cover habe ich die ruhigen japanischen Kirschblüten mit der furchtbar stillen Strahlung verbunden.

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Träume

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Quelle: mathilde

Am liebsten würde ich gar nicht träumen (meine Frau ist da anderer Meinung). Träume sind absolute Energieverschwendung. Den ganzen Tag werde ich mit Information bombardiert und denke über Gott und die Welt nach. Nachts will ich einfach meine Ruhe, und nicht virtuelle Kämpfe ausfechten, nur um irgendwann erschöpft aufzuwachen. Das wenige Blau in der Grafik zeigt die guten Träume, das viele Rot die schlechten an. Grotesk, wie ich mit Ängsten konfrontiert werde, die mir eigentlich fremd sind. Ich hatte zum Beispiel eine ganz okaye Schulzeit. Und heute träume ich auf einmal davon, unvorbereitet eine Prüfung zu schreiben. Oder: Ich bin so alt wie jetzt und muss wieder in die Schule. Im Traum überlege ich: Oh, mit 48, das ist jetzt schlecht. Wer kümmert sich in der Zeit um die Kinder?

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Formel 1

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Quelle: SZ

Sebastian Vettel bat mich, seinen Helm zu gestalten. Ich bin dann zum Training nach Barcelona gefahren - es war höchst interessant ihn kennenzulernen. Ich bin fasziniert von dem Zusammenspiel Mensch und Maschine. Die einzige Vorgabe war der schwarz-rot-goldene Streifen vorne am Helm. Ich fing an mit den Kreisen an den Seiten, um den irren Sound zu zeigen. Oben am Scheitel laufen drei Farbstränge zusammen, am Ende bleibt nur noch der Ferrari-rote übrig: Fokus. Das ist es, was Vettel auf die Frage antwortete, worauf es beim Rennen ankomme. Ein sehr beeindruckender Mensch.

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Übung

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Quelle: SZ

Die Zeichnung stammt aus der Reihe "Sunday Sketches", die eigentlich als Experiment begonnen hat. Eine kreative Übung ohne Auftrag, um den frischen Blick auf die Umwelt zu trainieren. Normalerweise habe ich beim Arbeiten erst eine Idee und suche anschließend nach der passenden Umsetzung. Erst der Einfall, dann das Handwerk. Hier ist es andersherum. Ich habe das Mohnbrötchen und setze mich an den Schreibtisch mit dem Ziel, dem Objekt eine neue Bedeutung zu entlocken. Das Ergebnis entsteht also nicht spontan, ich denke eben nicht: Guck mal, der Mohn sieht aus wie Bartstoppeln. Das ist ein bewusster Prozess, bei dem ich mich so weit wie möglich freizumachen versuche von dem, was das Objekt eigentlich bedeutet. Das kann Stunden dauern, in denen ich frustriert das Ding anstarre. Das Besondere im Vergleich zu Auftragsarbeiten: Ich stelle die Sunday Sketches auf Instagram und bekomme innerhalb von zwei Minuten Feedback. Social Media hat mir gezeigt, dass das Publikum visuell viel intelligenter ist, als ihm früher zugetraut wurde.

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Kreativität

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Quelle: SZ

Manchmal ist es das Beste, einfach anzufangen: Man nimmt etwas das man kennt, und lässt es auf etwas los, das man nicht kennt, und schaut, was passiert. Das funktioniert meistens. Es gab vor ein paar Jahren aber eine Phase, in der mir das Arbeiten oft keinen Spaß gemacht hat, in der es ein Kampf war. Es waren bestimmte Ängste, die mich bedrückt haben: die Angst, keine Idee mehr zu haben, nicht gut und kreativ genug zu sein, nicht relevant genug. Man kann aber etwas dagegen tun: dem langsamen Prozess vertrauen, viel mehr üben, und viel nachdenken. Es ist wichtig, sich mit all dem auseinanderzusetzen - der Trick ist nur, das nicht während des Zeichnens zu machen.

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Christoph Niemann

Exclusive: Christoph Niemann

Quelle: picture alliance/AP Photo

Der 48-Jährige sitzt reichlich beschäftigt in seinem Studio in Berlin. Die Stadt ist die Wahlheimat des gebürtigen Waiblingers und zwischenzeitlichen New Yorkers, der zu den gefragtesten Illustratoren der Welt gehört. Seine Bilder - zu sehen noch bis 3. Februar im Münchner Literaturhaus - erzählen viel über das Leben, auch über sein eigenes. Deshalb zeigen wir hier ausnahmsweise statt privater Fotos eine Auswahl seiner Werke.

© SZ vom 22.12.2018/eca
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