Größer als das Leben selbst, "bigger than life": So hat ihn seine lebenslange Freundin, die Designerin Diane von Fürstenberg, zum Abschied genannt. Damit wäre auch fast schon alles gesagt. Denn überlebensgroß war ja nicht nur sein Wissen um die Mode und die Energie, mit der er sich für sie ins Zeug warf - überlebensgroß war auch er selbst, wenn man ihm im Gedrängel einer Fashion Show plötzlich gegenüber stand und ihm gerade mal bis zur Brust reichte.
Der Journalist André Leon Talley war jahrzehntelang der wahrscheinlich sichtbarste Mensch der Mode. 1,98 Meter groß mit beachtlicher Leibesfülle, weshalb in der Front Row stets zwei Sitze für ihn reserviert blieben. Mitglied im Tross der amerikanischen Vogue, auf dem seit jeher das Scheinwerferlicht besonders lange ruhte (endlich einmal hoffnungslos verzwergt an seiner Seite: die Über-Chefredakteurin Anna Wintour). Vor allem aber war Talley bis in die Nullerjahre hinein einer der ganz wenigen Schwarzen im weißen Machtgetriebe der Mode, und allein das ließ schon erahnen, welch langen und quälenden Weg er hinter sich hatte. "Mein zwölfjähriges Ich, aufgewachsen im geteilten Süden, hätte es für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten, dass ein schwarzer Mann in dieser Welt irgendeine Rolle spielen könnte", schrieb er in seinen Memoiren. "Wenn man weiß, wo ich herkomme, wo wir herkommen, und wo wir heute sind, das ist erstaunlich."
Andy Warhol entdeckte ihn für das "Interview Magazine"
André Leon Talley wurde 1948 als Sohn eines Taxifahrers in Washington D.C. geboren und in North Carolina von seiner Großmutter großgezogen, die an der Duke University als Putzfrau arbeitete. Er hat mal erzählt, wie er als Neunjähriger sonntags immer über den Campus zur Bibliothek lief, um dort Vogue zu lesen, und von den Studenten mit Steinen beworfen wurde. Vogue wurde die Zauberformel, das Kaninchenloch, der Sesam-öffne-dich: Sie stand für eine magisch schöne Welt, "in der schlimme Dinge nicht passierten". Nachdem er seinen Master in Französischer Literatur abgelegt hatte, wollte er eigentlich unterrichten - aber da spielte ihm das Schicksal 1974 ein unbezahltes Praktikum bei der legendären Diana Vreeland in die Hände, die nach acht Jahren als Chefin der US- Vogue nun die Modesparte des Metropolitan Museum of Art beriet.
Damit war Talley fast schon am Ziel. Vreeland, beeindruckt von seinem Können, stellte ihn Andy Warhol vor, wenig später saß er in der Redaktion des Interview Magazine am Empfang, für 50 Dollar die Woche. Die Nähe zu Warhol stieß Türen auf. Talley schrieb bald Modetexte für W und die New York Times und wurde schließlich Korrespondent für den Branchendienst Women's Wear Daily, was ihn endlich nach Paris brachte. Er lernte Azzedine Alaïa kennen, feierte mit Yves Saint Laurent, freundete sich mit Karl Lagerfeld an. Irgendwann, so wenig seine äußere Erscheinung auch in das Konzept passte, konnte ihn die amerikanische Vogue nicht mehr länger übersehen.
Mit einer Unterbrechung von drei Jahren arbeitet André Leon Talley fast 30 Jahre für das Magazin, erst als Fashion News Director, dann als Art Director und bis zu seinem Abschied 2013 als Editor-at-Lage. Stets war er der erste schwarze Mann in seinem Job. Diskriminierung, Homophobie, offener Rassismus? Haben ihn ein Leben lang begleitet. Geredet hat er selten darüber.
Was er für die Black Community tun konnte, hat er getan
In dem 2018 erschienen Dokumentarfilm "The Gospel According to André" berichtete er von einer Angestellten bei Saint Laurent, die sich einen Spaß daraus machte, ihn "Queen Kong" zu nennen. Er sagte: "Ich habe sie nie darauf angesprochen, denn diese Dinge habe ich in mir verschlossen." Und auch dabei half die Mode. Seine bunten Designer-Kaftans, riesigen Label-Umhänge und schrillen Kopfbedeckungen mögen keine Garderobe gewesen sein, in der er unbeachtet durch die Welt spazieren konnte. Aber in dieser speziellen Welt, voller kritischer Blicke, vergifteter Worte und weißer Macht, hätte er sich eine dickere Rüstung kaum wünschen können.
Was er für die Black Community tun konnte, hat er getan. Schwarze Designer entdeckt und promotet, das Topmodel Naomi Campbell gefördert, die First Lady Michelle Obama bei der Wahl ihrer Garderobe beraten (dass sie beim Inaugurationsball eine weiße Märchenrobe von Jason Wu trug, war Talleys Werk). Nicht zuletzt war Talley ein engagiertes Mitglied der Abyssinian Baptist Church in Harlem. Der zuständige Reverend Calvin O. Butts III sagte der New York Times: "Trotz seiner Berühmtheit und der vielen Reisen kam er zum Gottesdienst, in guten wie in schlechten Zeiten." Und manchmal brachte er Mariah Carey mit.
Das Verhältnis zu Anna Wintour war nicht ganz so sturmfest. In seinen letzten Jahren bei Vogue habe er das Gefühl gehabt, dass er plötzlich "zu alt, zu übergewichtig und zu uncool" geworden sei, schrieb er in seiner Autobiografie. Wintour habe sich lediglich sein Wissen angeeignet, selbst aber niemals eine echte Leidenschaft für Mode empfunden. "Ihre Leidenschaft war Macht." In späteren Jahren äußerte er sich versöhnlicher, und Wintour ließ es sich dann natürlich auch nicht nehmen, ihn als einen Menschen zu würdigen, "der Grenzen überwunden hat und dabei nie vergaß, wo er herkam". Wobei, wenn man ganz genau liest, auch ein paar Spritzer Gift dabei sind: "Sogar sein Strom von farbenfrohen Faxen und E-Mails war ein freudig erwartetes Ereignis, etwas, worauf wir alle hingefiebert haben."
Talley hatte viele berufliche Partnerschaften, eine private Liebe aber hat er nie gefunden, sie vielleicht auch nicht gesucht. Er sei als Kind sexuell missbraucht worden, hat er einmal erzählt, und habe sich seither schützen müssen. So ist seine einzige und große Lebensliebe die Mode geblieben, und er hat sie auch nach seinen Jahren bei Vogue noch ausleben können, als Berater, als Journalist oder auch als Juror bei "America's Next Topmodel". In einem seiner letzten großen Interviews, das er 2020 dem Guardian gegeben hat, findet man einen Satz von finaler Kraft: "Meine Geschichte ist ein Märchen des Exzesses, und wie in jedem Märchen gibt es darin auch Böses und Dunkles, aber es wird überstrahlt von Licht." Am Dienstag ist André Leon Talley an den Folgen eines Herzinfarkts in New York gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.