Süddeutsche Zeitung

Essen und Trinken:Kompost auf Eis

Drinks mit Kaffeesatz, Pflanzenstiele als Strohhalme - und am Ende des Abends nur neun Gramm Abfall. Die Barszene will Musterschüler der Nachhaltigkeit werden.

Von Lorraine Haist

Nachhaltigkeit gehört in vielen Restaurants längst zum Standard. Moderne Köche beziehen lokale Produkte direkt vom Lieferanten, mit dem sie eine persönliche Beziehungen pflegen. Sie belegen Achtsamkeitsseminare, um den Stress nicht mehr am Personal auszulassen. Essen zum Mitnehmen gibt es nur noch in der Pappschale.

Die Bar gilt dagegen vielen als Hort des Konservatismus. Hier hält sich verlässlich das Bild vom Showman und Macho, der mit weit geöffnetem Hemd und einem Spruch auf den Lippen mit Schnapsflaschen jongliert, der mit Trockeneis wabert und mit Zutaten um sich wirft.

Doch dieses Bild gerät gerade ins Wanken. In der Barszene hat ein Wandel eingesetzt, der sich zwar nur langsam zeigt, dafür aber oft besonders innovativ wirkt. Viele Barkeeper kommen heute vom Kochen, weshalb Organisation und Arbeitsabläufe in einer Bar oft denen in einer Küche gleichen. Die Grenzen verschwimmen, auch weil viele Restaurants heute Cocktails servieren und neue Lebensmittel oder Küchentechniken wie das Fermentieren Eingang in die Barszene finden.

"Die Leute wollen gute Drinks aus guten Zutaten, gemacht von guten Leuten."

Damit hat auch am Tresen das Nachdenken über den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen wie Wasser oder Obstabfällen begonnen. Und ausgerechnet die Bar erweist sich nun als besonders geeignetes Mikrolabor für nachhaltige Konzepte. Green Chic wird am Tresen immer wichtiger.

Sichtbarstes Symbol des Wandels ist der Plastikstrohhalm, bereits vor dem EU-Verbot ein Tabu in jeder ernsthaften Bar. Wie in guten Restaurants arbeitet man nun auch dort mit saisonalen Karten und lokalen Produkten, macht Sirup oder Limoncello aus der Schale ausgepresster Zitronen und ersetzt Papierservietten durch wiederverwendbare oder kompostierbare Alternativen. Der Strohhalm ist nun aus Bambus oder Avocado-Kernen. Auch, weil die Gäste das inzwischen so wollen.

"Die Margarita, die sich hier jemand bestellt, ist der Luxus der heutigen Generation, nicht die Louis-Vuitton-Tasche", sagt Susan Choi, Inhaberin der Berliner Bar "Mr. Susan". Ihre Gäste suchten nach Luxus im Kleinen, nach Erlebnissen, persönlichen Beziehungen, Zugehörigkeit. "Die Leute wollen gute Drinks aus guten Zutaten, gemacht von guten Leuten." In der Küche des "Mr. Susan" werden daher viele Zutaten für die Drinks selbst gemacht, einige Spirituosen kommen von kleinen Berliner Produzenten, das lokale Craftbeer aus dem Zapfhahn statt aus der Flasche. Sämtlichen Industrieschnaps aus dem Regal zu verbannen sei aber kontraproduktiv, sagt Susan Choi: "In dem Fall könnten wir den Laden gleich wieder dichtmachen."

Wichtiger als radikale Lokalität ist für die Gastronomin mit deutsch-amerikanisch-koreanischen Wurzeln der Fokus auf das Team, people sustainability lautet das neue Schlagwort dazu in der Branche: Man werde als Gastronom erst dann wirklich nachhaltig arbeiten, wenn man den verantwortungsvollen Umgang mit seinen Mitarbeitern verinnerlicht habe, sagt Choi. "Wenn man verstanden hat, dass es Sinn macht, mit Mensch und Umwelt gut umzugehen, wird man automatisch die Plastik-Strohhalme rausschmeißen", glaubt sie. Inspiriert von ihrem Vorbild, dem New Yorker Vorzeige-Gastronomen Danny Meyer, haben Chois Mitarbeiter feste Vollzeit-Arbeitsverträge - eine Rarität.

Auch im Londoner "Cub", einem Hybrid aus Restaurant und Bar, ist das Team enthusiastisch, freundlich und motiviert, dabei aber unverstellt. Ryan Chetiyawardana (alias "Mr Lyan"), der als der einflussreichster Mixologe der Welt gilt, begreift Nachhaltigkeit als Basis seiner Arbeit. Dazu gehört nicht nur das Erfinden kühner Drinks. "Man muss etwas schaffen, das sich toll anfühlt, und zeigen, dass sich Luxus und Nachhaltigkeit nicht ausschließen."

Ryan Chetiyawardana war vor sechs Jahren der Erste, der in seiner damaligen Bar "White Lyan" auf Cocktail-Grundzutaten wie Obst und Eis verzichtete, weil sie die Umwelt belasten: aufwendig, und ressourcenintensiv bei Transport und Herstellung, am Ende blieb zu viel Müll übrig. Stattdessen gab es nun vorab gemischte Cocktails aus gekühlten Flaschen, was viele Kollegen damals als Sakrileg empfanden. Eine radikale Aktion, die den Status quo in der Szene veränderte: Heute gehören selbstgemachte, vorgefertigte Spirituosenmischungen zu den Standardzutaten jeder Bar, auch weil sie ökologischer sind als spontanes Mixen.

Im Cub, das Chetiyawardana 2017 mit dem Koch und Zero-Waste-Pionier Douglas McMaster eröffnete, sind Tische und Tresen aus recycelten Joghurtbechern gefertigt, die Lampen aus Pappmaché - wie Abfallverwertung wirkt nichts davon. Ebenso wenig wie das zwölfgängige Menü - eine Folge von aufeinander abgestimmten Gerichten und Cocktails, für die Küchen- und Bar-Abfälle verwendet werden.

Mit der richtigen Gläserwahl lässt sich die Zahl der Spülgänge halbieren und Energie sparen

"Wir arbeiten schon lange mit der Idee der Closed-Loop-Cocktails", sagt Ryan Chetiyawardana, alles soll Kreisläufen folgen. "Im Cub versuchen wir aber, noch einen Schritt weiter zu gehen und Abfall erst gar nicht entstehen zu lassen." Der Masterplan für Rhabarber sieht zum Beispiel vor, ihn als Säuregeber für die Bar zu verwenden, aber auch einen süß-fruchtigen Sirup für die Küche daraus herzustellen. Das Fruchtfleisch wird mit Milchsäurebakterien fermentiert, mit einigermaßen faszinierendem Ergebnis: Es schmeckt wie Rhabarberkompott mit Vanillesauce.

Chetiyawardanas Einfluss reicht mittlerweile in die ganze Welt. In Singapur praktiziert Vijay Mudaliar mit seiner Bar "Native" den zurzeit vielleicht radikalsten nachhaltigen Ansatz: Sonnenenergie liefert den Strom, als Strohhalme dienen Stiele von Lotusblättern, die getrocknet als Untersetzer zum Einsatz kommen, mit dem geschmolzenen Eis werden Pflanzkübel gewässert, in denen Kräuter, Gemüse und Blumen für die Cocktails wachsen. Statt Zitrusfrüchten kommen selbstgemachter Kimchi, Essig und Kombucha zum Einsatz. Die neun Gramm (!) Abfall, die hier pro Tag entstehen, sind minusrekordverdächtig.

Die Bartenderin Claire Sprouse verwendet in ihrem gerade eröffneten New Yorker Café-Bar-Restaurant "Hunky Dory" für den Longdrink "Stop and Stay" ungesüßten "old brew coffee", hergestellt aus Kaffeesatz; im Bourbon-basierten "Golden Year" kommt statt des Mandelsirups Orgeat ein selbstgemachter Sirup aus Sonnenblumenkernen zum Einsatz - der Anbau von Mandeln verbraucht viel Wasser. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Chad Arnholt hat Sprouse 2014 die "Tin Roof Drink Community" ins Leben gerufen - um Kollegen zu zeigen, wie eine nachhaltige Bar funktionieren kann. Sie wollen Bars von vornherein ressourcenschonend gestalten: "Was wir tun, ist nicht sexy, sondern praxisorientiert. Erst mal sagen wir den Leuten, dass sie eine Spülmaschine brauchen. Von Hand spülen ist ineffizient", sagt Arnholt. Dann gehe es um die richtigen Gläser: "Angenommen, ich verkaufe 150 Cocktails pro Abend und habe nur Steakhouse-Martinigläser: Davon passen höchstens 16 Stück in ein Gestell. Wenn ich andere Gläser benutze, passen 36 Stück rein. 50, wenn es dünnwandiges Glas ist. So kommt man von zehn Spülgängen pro Abend auf drei bis fünf."

Die Nachhaltigkeitsbemühungen der Cocktailszene beeinflussen mittlerweile auch die Spirituosenherstellung. Bei Empirical Spirits in Kopenhagen, gegründet vom ehemaligen Leiter des Forschungslabors des Restaurants "Noma" und einem Oxford-Absolventen, widmet man sich der Entdeckung neuer alkoholischer Geschmackswelten - die Produktion ist ein sorgfältiger Prozess, der mit der Natur statt gegen sie arbeitet und Abfälle aus der ersten Destillation als zusätzlichen Geschmacksgeber einbezieht. Eine Nische mit Potenzial: Gerade wurde die Brennerei vergrößert, Ziel ist die Produktion nachhaltiger und gleichsam geschmacklich bahnbrechender Spirituosen im großen Stil.

Massenproduktion gehört auch zu Ryan Chetiyawardanas aktuellen Lieblingsthemen. Die letzte Karte seiner gefeierten Londoner Bar "Dandelyan" enthielt keinerlei saisonale, wild gesammelte oder in kleinen Mengen hergestellte Zutaten. Stattdessen befasste er sich mit den Auswirkungen von Massenprodukten wie Minze, Trauben und Hopfen. "Industrialisierung muss Teil unserer nachhaltigen Zukunft sein, schließlich ernährt sich die Mehrheit von Industrieprodukten", sagt Chetiyawardana. "Die Gründe, warum die hoch industrialisierte Landwirtschaft nicht ausgeglichen arbeitet, sind Faulheit und Gier. Man kann das ändern - durch verändertes Konsumentenverhalten und politische Aktion." Chetiyawardana nimmt sich selbst da nicht aus. Ende 2018 hat er das "Dandelyan", aktuell die Nummer eins der "World's 50 Best Bars", nach vier Jahren überraschend geschlossen und eröffnet bald am selben Ort eine neue Bar mit neuem Konzept. "Wir wollten einen Kulturwandel herbeiführen, das ist uns schneller gelungen, als wir dachten", sagt er. "Jetzt müssen wir aus dem Erreichten etwas machen."

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Quelle:
SZ vom 23.03.2019
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