Wir begrüßen jetzt auch die Zuschauer, die vom Fußball zu uns gewechselt sind", sagte der ZDF-Tenniskommentator am vergangen Samstag. Es klang ein bisschen wie: So, auch endlich kapiert? Angelique Kerber stand zu diesem Zeitpunkt kurz davor, den größten Triumph im deutschen Tennis seit mehr als zwanzig Jahren zu erspielen, und wer sich annähernd für Sport interessiert, hat sie an diesem Nachmittag dabei begleitet. Aber dieses historische Ereignis war vielleicht nicht das, was die Zuschauer als Erstes sahen, als sie von einem reichlich egalen Fußballmatch um Platz drei zum Centre Court der All England Championships zappten. Nein, viel auffälliger war, wie wohltuend sich das Fernsehbild von dem unterschied, was man zuvor vier Wochen lang gesehen hatte.
Das angenehm proportionierte Spielfeld mit den sanft ansteigenden Tribünen, die Schiedsrichter mit Krawatten, die alerten Ballmädchen und -jungen, die mit Anmut assistierten. Spielerinnen, die kämpften und Gefühle zeigten, ohne dabei immer gleich in Überheblichkeit oder Drama abzudriften, die abwechslungsreichen Pointen, die in jedem Ballwechsel steckten und die keinen Videobeweis oder lange Diskussionen nötig machten. Es gab keine Fouls, keine endlosen Hand-/Fußgemenge, keine rotierende Bandenwerbung für Gaskonzerne, keine Neonfarben, kein Zeitspiel, keinen Infantino, kein Pfeifen, Spucken, Rotzen und Motzen, keine Nacken-Tätowierungen und Frisuren-Folklore.
Nach vier Wochen schrillem Fußball-Welttheater wirkte Wimbledon wie Detox fürs Auge
Stattdessen herrschte gespannte Ruhe, wenn der Ball in Bewegung war, eine irgendwie klassische Konzentration auf das Wesentliche. Es war guter, alter Sport. Und das Publikum erst! Keine Vuvuzelas und verklumpte Männerhaufen mit angemalten Gesichtern, stattdessen adrette Menschen in richtiger Kleidung, mit Sonnenhüten und allen vorweg Meghan, Duchess of Sussex, und Catherine, Duchess of Cambridge, zwischen den Sätzen angeregt plaudernd. Nach dem Spiel sagten die Athletinnen sich gegenseitig ins Mikrofon bewegende, kleine Dankesreden, dann gab es eine Preiszeremonie, die diesen Namen wirklich verdiente, mit Blumen, ein bisschen Tradition und ehrlichem Jubel von allen Seiten. Doch, nach vier Wochen schrillem Fußball-Welttheater wirkte Wimbledon auf einmal wie Detox fürs Sportauge.
Natürlich kann man Tennis nicht gegen Fußball ausspielen, das wäre so sinnlos wie Zitroneneis gegen Schokoladeneis verteidigen zu wollen. Aber es ist jetzt vielleicht doch mal wieder angebracht, daran zu erinnern, was für ein schöner Sport das ist. Im Wortsinne. Denn irgendwie ist das mit Tennis in Deutschland zuletzt ein bisschen blöd gelaufen.
Steffi und Boris hatten den gelben Ball in den Achtzigern bekanntlich in den Durchlauferhitzer geschlagen und ein halbes Volk an die Saiten gebracht. Die Deutschen umarmten die beiden Teenager mit ihren Pickeln, Pokalen und ihrem Provinzhintergrund, der DTB wurde in dieser Zeit zum mitgliederstärksten Tennisbund der Welt. Kein Wunder, es fühlte sich ja so an, als hätte Sascha Hehn diese Sportart erfunden: Gleichmäßig gebräunt hin und her laufen, auf einem Belag, der so aussieht, wie Wüstenrot Bausparkasse klingt. Es war nicht so gelackt und lahm wie Golf, nicht so kleinbürgerlich und schnurrbärtig wie Fußball und viel leichter nachzumachen als Formel 1.
Die Kataloge von Sport-Scheck waren damals noch nicht mit Gore-Tex-Stadtflüchtlingen gepflastert, sondern zeigten über Dutzende Seiten Tennisprofis und ihre Kollektion. Das Extravaganteste daran waren die Haare von Yannick Noah. Ja, Tennis war etwas braver als andere Sportarten, die Trikots hatten Kragen, und es gab eine halbernste Kleiderordnung, man gab sich die Hand und sagte "Sorry!", wenn der Ball über die Netzkante stolperte. Aber so elitär, wie man es ihm gerne andichtet, war Tennis eigentlich nie. Die Ausrüstung kostet kaum mehr als ordentliches Fußballzeug und die Platzmieten auch nicht.
Die Mädchen trugen freiwillig weiße Faltenröcke, die Jungs wünschten sich Shirts von Agassi
Aber es war ein sauberer Unisex-Sport, beim Tennis trugen die Mädchen sogar freiwillig weiße Faltenröcke, und die Jungs wünschten sich nichts anderes als die fröhlichen Shirts von Andre Agassi. Alles war sehr hell, und wenn irgendwo Schmutz war, dann war es der sterile rote Rand des Tennissandes, fast wie Jod nach einer Operation. Aber es war nur Sand, mit dem jedes Markenwaschmittel klarkam. Leider wurde die ganze Sache trotzdem schnell wieder langweilig, und schuld war womöglich Michael Stich.
Stich war, sagen manche, ja eigentlich sogar besser als Becker, vielseitiger, solider. Aber er hatte das Problem, das viele Spitzensportler in Deutschland haben: Er war langweilig wie eine Bürotischkante. Austrainiert, floridasmart, öde. Anke Huber noch schlimmer! Und das war's dann mit der großen Volksidentifikation. Tennis wurde in den Nullerjahren wieder eher zur Nebensache, zum Urlaubssport. Die Mitgliederzahlen des DTB gehen seit 1995 konstant zurück, mittlerweile gibt es fast nur noch halb so viele aktive Spieler wie zu Beginn der Neunziger - und 5000 Tennisplätze weniger als damals. Die alten Vorurteile kamen zurück: Fader Speckgürtelsport für höhere Töchter und alternde Kollegen, an der Spitze scheinbar endlos dominiert von schwer unterscheidbaren Russinnen und den ewigen Schweizern Hingis und Federer. Der gelbe Filzball wirkte auf einmal genauso müde wie die mit ihm verbundenen Marken: Wilson, Head, K-Swiss, Babolat, Sergio Tacchini, Lotto. Klang alles nach Obstsalat mit Sprühsahne, hatte alles keinen Appeal mehr, erst recht nicht nach dem großen Adidas-Sommermärchen.
Nur ist Fußball bei all seinen Vorzügen kein besonders ästhetischer Sport, und je dominanter er die Schlagzeilen beherrscht, desto deutlicher wird das. Es wird nonstop über Waden- und Knieanatomie berichtet, über Löw-Frisuren, Trainerwechsel, Statistiken, Geld, Rasenpflege, Mauschelei, Politik und Krawalle, und irgendwie hatte man zuletzt das Gefühl, dass die meiste Aufregung neben dem Platz stattfindet, vor und nach den Spielen. Arrogante Einzelkämpfer, die man dem Tennis nachsagt, stehen jedenfalls längst auch auf dem Fußballplatz. Der Fußball wurde fortlaufend modernisiert, aber schöner wurde er dabei nicht, nur irgendwie: komplizierter, überladener.
Vielleicht war es deshalb so erfrischend, ein bisschen Wimbledon zu sehen und festzustellen: Ach, das gibt es auch noch. Kamera, Kommentator, Königliche Hoheit - alles beim Alten. Ein irgendwie diplomatisches Spiel, das von den Fans keine überfrenetische Hingabe erfordert, das nicht gleich Weltanschauung sein will. Bei dem es stattdessen um Eleganz geht, gehobene Unterhaltung und die universale Geschmeidigkeit des menschlichen Körpers.
Tennis hat immer noch ein wenig von der Klasse, mit der es vor 140 Jahren gespielt wurde
Eine präzise Longline-Rückhand von Roger Federer ist ja ein Ereignis, in dem Kraft, Schnelligkeit, Gefühl und Taktik für eine Sekunde herrlich kulminieren. Jeder Laie versteht die ästhetische Perfektion dieses Schlages. Und in einem guten Ballwechsel stecken immer Witz und Selbstbeherrschung, Verzweiflung und Hoffnung zugleich. Der ganze Bewegungsablauf an der Grundlinie ist eine wogende Mischung aus Tanz und Duell, ist immer gleichzeitig Angriff und Balance. Tennis ist ein anspruchsvoller Sport, pure Charakterschule. Man gewinnt und verliert alleine, und nichts ist schwerer zu verkraften als ein Gegenüber, das einen nach Belieben laufen lässt. Und obwohl man dem Gegner dabei die ganze Zeit ins Gesicht sehen muss, gibt man ihm danach trotzdem die Hand. Keine Umarmung, kein Trikottausch, kein heulendes Auseinanderfallen - nur ein Händedruck über der Netzkante. Good Sport.
Und Tennis, das wurde im sonnigen Wimbledon deutlich, ist sowieso der beste Sommersport überhaupt. Egal, ob als Zuschauer oder Spieler: Es hat diese crispe Frische, es hat so viel Licht und Leichtigkeit. Wenn man oben am Centre Court steht und die Augen zusammenkneift, sieht es ja aus, als würden unten eilfertige Kellner in Jackets eine große Picknickdecke bespielen. Dazu das satte Plopp der Bälle, die höfliche Art, in der die Schiedsrichter sprechen, die schöne Weltläufigkeit der Zuschauer, die den Kampf honorieren, nicht nur Vereins- oder Landesfarben, und die in der Pause traditionell frische Erdbeeren essen. Tennis hat vielleicht nicht die Masse, aber immer noch ein wenig von der Klasse, mit der es vor 140 Jahren gespielt wurde. Nicht von ungefähr sponsern Ralph Lauren und Tiffany's die kommenden US-Open, während die hiesigen DFB-Pokalspiele wohl wieder mit der Baumarktmode von Engelbert-Strauss tapeziert werden.
Wo Fußball überreizt und laut wirkt, scheint Tennis jedenfalls vergleichsweise angenehm und gesellschaftsfähig. Es ist mondän, ohne Firlefanz zu sein - und neuerdings können es sogar wieder die Deutschen gewinnen.