Musik und Literatur:Ein Mann mit vielen Seiten

Musik und Literatur: Schon in seiner Jugend war David Bowie ein großer Leser. Später wollte er ohne seine Bücher nirgends mehr hin.

Schon in seiner Jugend war David Bowie ein großer Leser. Später wollte er ohne seine Bücher nirgends mehr hin.

(Foto: Tom Kelley)

Auf seinen Reisen hatte der Musiker David Bowie immer einen großen Koffer voller Bücher dabei - ein Mittel gegen die Einsamkeit. Seine hundert Lieblingswerke stellt nun ein eigener Band vor.

Von Christian Mayer

David Bowie hat eine ganze Reihe Songs hinterlassen, die man gerne wie kleine Erinnerungsstücke auf seiner Reise durchs Leben mitnimmt, um sie bei passender Gelegenheit wieder auszupacken und sich daran zu erfreuen. Aber manches aus seinem Werk ist auch dermaßen sperrig, dass es nicht mal in den größten Überseekoffer passt.

Je häufiger man die Songs anhört, desto mehr staunt man und zweifelt am eigenen Verstand. Ist man als Zuhörer zu fantasielos, um die wahre Bedeutung von "The Man Who Sold the World" zu verstehen? Was hat es da mit diesen beiden Männern auf sich, die sich auf der Treppe zufällig begegnen: Sind das alte Freunde, die sich vor langer Zeit aus den Augen verloren haben oder ist das ein Zwiegespräch einer gespaltenen Persönlichkeit? Irgendwie zu clever, diese Zeilen. Und wie geht das überhaupt: die Welt verkaufen?

Für alle Bowie-Sinnsucher gibt es jetzt eine Möglichkeit, den 2016 verstorbenen Künstler noch einmal ganz neu kennenzulernen. Vor allem das, was ihn selbst bewegt, worüber er nachgedacht, was er in seinen Liedtexten verarbeitet hat. Der britische Journalist John O'Connell stellt in "Bowies Bücher. Literatur, die sein Leben veränderte" (Kiepenheuer & Witsch) hundert Werke vor, die den Musiker so sehr beeindruckt haben, dass er sie immer um sich haben wollte und in späteren Lebensjahren bei jeder passenden Gelegenheit würdigte, auch in von ihm selbst verfassten Rezensionen.

Offenbar war er schon als Jugendlicher ein großer Leser. Bücher waren für den im Londoner Vorort Bromley aufgewachsenen David Robert Jones eine Fluchtmöglichkeit und ein Mittel gegen die Einsamkeit - die eigenen Eltern beschrieb er später als "ziemlich unterkühlt", oft schweigsam und auf eine britische Art distanziert. Sein Halbbruder Terry spielte dagegen eine wichtige Rolle in der Findungsphase. Er brachte ihn nicht nur in Kontakt mit dem Rock 'n' Roll, sondern auch mit Jack Kerouacs "Unterwegs", dem Klassiker der Beat-Literatur. Auch als seine eigene Karriere immer rasanter verlief, begleitet von Lebenskrisen und Fehlschlägen, blieb er ein manischer Leser, der alles verschlang, was die Paperbackabteilung hergab.

Besser, er steckte seine Nase in Bücher als in Koks

Seine Lieblingswerke waren ihm heilig, deshalb ging er mit einer mobilen Bibliothek auf Reisen, wie das einst Renaissancefürsten und reiche Adlige getan hatten. Sogar als er mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland fuhr, hatte er die Taschen voller Geschichten, sehr zur Verwunderung der Kontrolleure, die das etwas verdächtig fanden. Oder auch bei den Dreharbeiten 1975 für den Film "Der Mann, der vom Himmel fiel" in New Mexico, in dem Bowie einen Außerirdischen spielte, der an der Rücksichtslosigkeit und Gemeinheit der Menschen zerbricht: Auch dort zog er sich jeden Abend zurück und suchte Ablenkung in seinen Büchern, die ordentlich verpackt in riesigen Koffern bereitstanden.

Als der Regisseur Nicolas Roeg beobachtete, wie sein spindeldürrer Hauptdarsteller im Wohnwagen vor einem Stapel Bücher saß, rief er ihm zu: "David, dein großes Problem ist: Du liest einfach nie genug." Zu dieser Zeit war der Musiker schwer drogenabhängig. Roeg verließ den Wohnwagen vorsichtig optimistisch: Wenn Bowie seine Nase in Bücher steckte und nicht in eine Line Koks, stieg die Wahrscheinlichkeit, dass er die Dreharbeiten durchhalten würde und nicht im Treibsand seiner eigenen Gedanken untergehen würde. In "Quicksand", einem grüblerischen Song auf dem Album "Hunky Dory" von 1971, hatte er dieses Schicksal bereits erkundet.

Für Bücherfreunde ist es immer spannend zu erfahren, welche Bücher Menschen lesen, die man schätzt. Bei Bowie macht es sogar noch mehr Spaß, die persönliche Liste durchzugehen. Man findet unzählige Querbezüge zu seinen Songs in der Literatur, Dutzende Zitate oder Figuren, die aus der Literatur direkt in seine Songs wandern. John O'Connell spürt dem allen meisterhaft nach, ohne dass die Bowie-Betrachtung zu offensichtlich ins Adorierende abdriftet, was ja bei Helden dieser Art vorkommen soll.

Letztlich ist jede Bücherliste ein intellektuelles Spiel, mit dem man renommieren möchte: Man versichert sich der eigenen Bedeutung, wenn man bedeutungsvolle Titel aus dem eigenen Bücherschrank empfiehlt. Dem Bühnenkünstler Bowie war dieses Mitteilungsbedürfnis keineswegs fremd, aber mindestens so wichtig war für ihn die Selbsterkenntnis beim Lesen. Beim Dahindriften durch andere Welten lernt man ja auch etwas über sich selbst: Es gibt noch viel mehr Menschen da draußen, die ihre eigene Fremdheit spüren, ihr Außenseitertum, ihre Ambivalenz. Das Gefühl, nie so ganz dazuzugehören, trotz Millionen verkaufter Platten, verließ auch David Bowie nie. All die seltsamen Vögel, die melancholischen Erzähler und sexuellen Außenseiter, die zu seinem Rollenspiel passten, fand der Musiker und Songschreiber eher in der Literatur als im wirklichen Leben.

Literaturfreunde treffen viele alte Bekannte

Der Verwandlungskünstler Bowie hatte keine Berührungsängste - weder vor abendländischer Hochkultur noch vor Historienschinken, buddhistischen Grundlagenwerken, Science-Fiction-Romanen oder Comics. Zeitlich geht die Sammlung los mit Homers "Ilias" und Dantes "Inferno", das 19. Jahrhundert ist eher spärlich vertreten, bezeichnenderweise mit Flauberts Ehedrama "Madame Bovary", der düster-blasphemischen Gewaltorgie "Die Gesänge des Maldoror" des Comte de Lautréamont, und "Gier nach Gold" von Frank Norris. Seine große Leidenschaft gilt der Literatur des 20. Jahrhundert: Fitzgeralds "Der große Gatsby", Evelyn Waughs "Lust und Laster", Bulgakovs "Der Meister und Margarita", Orwells "1984" oder Nabokovs "Lolita" oder Burgess' "Clockwork Orange" sind gute, alte Bekannte für Literaturfreunde.

Aufschlussreicher sind die heute vergessenen Bücher, die man sich neugierig notiert. Etwa "The American Way of Death" von Jessica Mitford, das die Exzesse des kommerzialisierten Bestattungswesens in den frühen Sechzigerjahren grell beleuchtet. Oder "Die Masken der Sexualität" von Camille Paglia, ein schwülstiges 800-Seiten-Pamphlet über die Geschichte des Geschlechterkampfs, das Feministinnen zu Wutausbrüchen bewegte. "Awopbopaloobop Alopbamboom", eine ernsthafte und aus heutiger Sicht sehr rührende Auseinandersetzung mit der goldenen Zeit der Rockmusik, geschrieben vom erst 22-jährigen Nik Cohn, muss man sich ebenfalls mal zu Gemüte führen. Allein weil der Song von Little Richard, von dem sich der Titel ableitet, ein solcher Ohrwurm ist. Als dieser Text entstand, war Bowie noch ganz am Anfang und gerade dabei, seine multiple Bühnenpersönlichkeit zu schärfen, die er später mit Ziggy Stardust, Aladdin Sane oder dem Thin White Duke perfektionierte.

Für einen Mann wie ihn sind hundert Bücher eigentlich nicht ausreichend, aber ein guter Anfang, um ihn besser zu verstehen. Nach der Lektüre dieser Leseliste kommt er einem jedenfalls weniger außerirdisch vor, sondern wie ein Mensch, der einfach nur auf der Suche war.

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