Möbel:Der proletarische Bruder des Billy-Regals

Möbel: "Ivar" heißt nicht nur dieses Ikea-Regal, sondern war auch der Name eines Wikingerführers.

"Ivar" heißt nicht nur dieses Ikea-Regal, sondern war auch der Name eines Wikingerführers.

(Foto: Ikea)

Seit 50 Jahren erfreut "Ivar" alle Möbelkäufer ohne ästhetische Ansprüche. Eigentlich steht es wie eine feste Burg - wäre da nicht die Sache mit den Schrauben.

Von Joachim Käppner

Nie vergaß A. jenen Samstag, der ihn erst ins Spaßbad und sodann zu Ikea führte. A. hasst Spaßbäder, aber wenn es etwas gibt, was er noch mehr hasst, sind es Wochenendbesuche bei Ikea. In einer Aufwallung von unangebrachter Nachgiebigkeit stimmte er dem Vorhaben zu, statt seinen Lieben zu sagen, geht nur, geht mit Gott, aber ohne mich. Im Spaßbad rutschte er nach wenigen Sekunden auf den glitschigen Fliesen aus und verstauchte sich einen Zeh, von seiner Familie und zahlreichen Rentnern, welche die Massagedüsen besetzten, höhnisch beobachtet.

Als das Vier-Stunden-Ticket fürs Spaßbad endlich abgelaufen war, begab sich die Gruppe ins nahe Gewerbegebiet, zu Ikea. Die Kinder, die eben noch mehrere Pfund Pommes verspeist hatten, bekundeten umgehend, sie seien sehr, sehr hungrig, und nur große Portionen Köttbullar könnten ihr Leid lindern. Erstaunlich, wie viel Kinder essen können. Erstaunlich auch, wie leicht man sie verliert, wenn man ihnen im Ikea-Restaurant sagt: Ihr esst jetzt schön die leckeren Köttbullar, und wir gucken nur gaaanz schnell was und sind gleich wieder da. Erstaunlich, wie viele Leute in so ein Möbelhaus hineinpassen; manche heiter und voll Vorfreude, andere trüb verzankt, viele auf der Suche nach ihren durch die Gänge sausenden und sich in Schaubetten rekelnden Kindern. Erstaunlich, wie schmerzhaft so ein Zeh sein kann.

Wie Quasimodo humpelte A. hinter der Bestimmerin her, die sicheren Schritts durch die Abteilungen eilte und dort Dinge auswählte, von denen sie behauptete, sie mit ihm gemeinsam ausgesucht zu haben. A. wusste nichts mehr davon. Er weiß aber genau, dass da oben im Norden, in ewiger Nacht, wo diese Dinge ersonnen werden, kleine Trolle und Mahre hausen, welche durch die Hallen huschen und Schrauben vertauschen oder die Gebrauchsanweisungen so umschreiben, dass niemand sie mehr verstehen kann.

7,8 Millionen

rechteckige Regalböden aus der Serie Ivar hat das schwedische Möbelhaus Ikea im vergangenen Geschäftsjahr weltweit verkauft. Wie viele Bretter in einem Regal zum Einsatz kommen, ist dem Besitzer natürlich selbst überlassen. Er muss es ja auch eigenhändig zusammenbauen.

A. lotste die Gemahlin zur Sektion Ivar. Das einzige Produkt, das A. von jeher geschätzt hat, ist nämlich das Regalsystem Ivar. Selbst der gröbste Tollpatsch unter den Heimwerkern, einer wie A., vermag es ohne bleibende gesundheitliche Schäden aufzubauen. Das heißt: eigentlich. Eigentlich steht es wie eine feste Burg, sofern man nicht vergisst, das Stützkreuz Observatör an der Rückseite anzuschrauben. Hier kann es vorkommen, dass die Trolle zu dicke, zu weiche Schrauben ins Packset geschmuggelt haben, um den Schraubenden zu fürchterlichen Wutanfällen und Verwünschungen zu reizen. Er macht einen großen Fehler, falls er das Kreuz vor lauter Hass einfach weglässt. Ohne Observatör neigt das Ivar-Regal in beladenem Zustand dazu, sich sanft zur Seite zu neigen und wegzukippen, ähnlich einem alten Fabrikgebäude im Augenblick der Sprengung.

Es kann daher kein Zufall sein, dass dieses Regal Ivar heißt, wie der berühmteste und schrecklichste aller Ivars, Ivar Ragnarsson, "der Knochenlose". Einer Legende zufolge war er ein schlimmer Wikingerführer, der im 9. Jahrhundert halb England eroberte und niederbrannte. Die Forschung hat diese nordische Heldensaga längst als Legende entlarvt. In Wahrheit soll der Gefürchtete mit einer Flotte von Drachenschiffen vor England aufgetaucht sein, die allesamt Ivar-Bausysteme geladen hatten. Er überzeugte die Bewohner, sie ihm abzukaufen und damit ihre Burgen und Stadtwälle zu errichten.

Ästhetisch ist es eher an den Ansprüchen einer Soziologen-WG ausgerichtet

Als der schlaue Ivar nach einiger Zeit mit seinen Kriegern zurückkehrte, stießen sie auf keinen Widerstand mehr. Die Ivar-Konstruktionen waren in sich zusammengesackt und hatten die Verteidiger unter sich begraben. Aus dieser Zeit stammt die Gewohnheit der Nordmänner, ihren Waren die falschen Schrauben beizulegen. Gelingt aber die Montage des Stützkreuzes, ist das Glück vollkommen. Ivar ist billig und stabil, A.s Studentenzimmer war komplett Ivar-Style. Ivar darf als der schlicht gestrickte, einfache kleine Bruder von Billy gelten, dem wesentlich komplexeren Regalsystem, das geschaffen wurde, damit die bürgerliche Mittelschicht sich wie in einer Intellektuellenwohnung fühlen darf. Ivar verbreitet dagegen proletarischen, rauen Charme, letzteres im Wortsinn, denn es ist aus schlichtem, unbehandeltem Holz. Ästhetisch ist es eher an den Ansprüchen einer Soziologen-WG ausgerichtet, deren gesellschaftskritischer Blick nicht durch Ansprüche an Äußerlichkeiten gestört werden darf.

Im Ikea-Laden kam es, wie es kommen musste. A.s Wunsch, der Einfachheit und des günstigen Preises wegen jede Menge Ivar-Bausätze zu erstehen, stieß bei der Gemahlin erst auf Unglauben und dann auf von schrillen Untertönen nicht freien Spott. Er könne ja mit den hässlichen Regalen in den Heizungskeller ziehen, wenn er das wünsche. Sie schickte ihn zum Bällebad, in dem sich die Kinder verschanzt hatten, und verhängte ein komplettes Ivar-Verbot für das neue Haus. So endet die Geschichte, deren nähere Umstände im Interesse aller Beteiligten hier leicht verfremdet wiedergegeben werden.

Für A. aber wird Ivar stets ein lieber alter Freund bleiben. Sein letztes Exemplar steht auf dem Dachboden, wo es seine von der Bestimmerin aus der Küche verbannte Bierkrugsammlung trägt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts und wahrscheinlich darüber hinaus. Ivar, das Ikea-Regal, wird in diesen Tagen 50 Jahre alt, es ist A.s Generation. Wenn es dann so weit ist, klettert er auf den Speicher und stößt heimlich mit ihm an.

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