Süddeutsche Zeitung

Mode:Wie ich meinen Stil fand

Unsere Autorin hatte irgendwann genug von Jeans mit T-Shirt. Aber welche Garderobe stattdessen? Eine Geschmackssuche mit glücklichem Ausgang.

Von Christina Waechter

Eines Mittwochmorgens traf mich beim Routineblick in den Spiegel eine überraschend schmerzhafte Erkenntnis: Ich trage seit 15 Jahren die gleiche Uniform aus Sweatshirt, Jeans und Turnschuhen. Einmal hatte ich die Frisur gewechselt, ansonsten war ich in einer Kleidungs-Schockstarre verharrt.

Weil ich mich mit Mode und Trends nie richtig beschäftigt hatte, habe ich einfach immer so getan, als wäre ich noch Abiturientin - das war die Zeit, in der ich mich in meinen Klamotten zum letzten Mal wirklich wohl gefühlt hatte. Irgendwie hatte ich mir seitdem eingeredet, Stil oder Mode seien nur etwas für Menschen, die über sehr viel Freizeit verfügen und jede Menge Geld dazu. Zudem hatte es immer andere Dinge gegeben, die wichtiger waren, als mich mit meiner Garderobe zu beschäftigen: meine Kinder zum Beispiel, der Job und der ganze Rest vom Leben. Dieses Desinteresse ist prinzipiell nicht schlimm, solange man zufrieden mit sich ist. Aber wenn man sich an einem Mittwochmorgen im Spiegel plötzlich nicht mehr ausstehen kann, ist es Zeit, etwas zu ändern.

Erste Hilfe fand ich in dem Buch "Das Kleiderschrank-Projekt", das schon 2017 erschienen ist und insgesamt mehr als 65 000 Mal verkauft wurde. Die Fashionautorin Anuschka Rees hat es für die ganz große Mehrheit der Menschen geschrieben, die sich nicht detailliert mit Modetrends beschäftigen und trotzdem jeden Tag etwas anziehen müssen - so fasst es die 29-jährige Berlinerin jedenfalls zusammen: "Jeder fühlt sich gerne gut angezogen im Sinne von: Dieses Outfit passt zu mir und meinem Tag, es schützt mich, ist auf mich abgestimmt, und ich muss nicht groß darüber nachdenken."

Ein bisschen hat Rees ihr Buch auch für ihr früheres Selbst geschrieben. Während ihres Studiums in London lebte sie in einem winzigen Apartment und hatte nur wenig Geld. Dennoch war sie sehr an Mode interessiert und ging in ihrer Freizeit gerne shoppen: "Meine Devise war, möglichst viel zu kaufen und dafür möglichst wenig Geld auszugeben. Am Ende hatte ich extrem viele Klamotten, aber immer das Gefühl, ich hätte nichts zum Anziehen. Das klassische Klischee eben."

Sie verordnete sich selbst ein Umdenken, das sich schließlich in dem Buch niederschlug. Es nimmt den Leser auf einen ziemlich ausführlichen Kurs mit.

Kapitel 1: Bestandsaufnahme

Ein etwas deprimierender Einstieg für Menschen wie mich, die am liebsten alles sofort ändern wollen: Ich muss mich zwei Wochen lang weiter so anziehen wie bisher. Mit einem Unterschied: Jetzt muss ich mich auch noch in den öden Outfits fotografieren. Zwei Wochen lang Hose, Pulli, T-Shirt, Turnschuhe in leichter Variation. Das Fotografieren kostet Überwindung, aber nach ein paar Tagen wird es fast zum Automatismus, kurz vor dem Rausgehen noch schnell ein Selfie zu machen.

Nach zwei Wochen soll ich die Bilder analysieren und herausfinden, welche Themen sich durchgezogen haben (keine Überraschung: Jeans und T-Shirt) und überlegen, in welchem Outfit ich mich besonders wohl gefühlt habe. Nächster Schritt: Kleiderschrank ausmisten. Alles, was nicht mehr passt, löchrig oder kaputt ist, muss weg oder repariert werden. Was nicht mehr gefällt, wird gespendet oder getauscht. Und was nur noch im Schrank liegt, weil damit eine schöne Erinnerung verknüpft ist, kommt in den Keller. Am Ende ist mein Schrank sehr leer, aber ich habe auch eine Menge Kleidungsstücke wieder entdeckt, die im Stapel jahrelang ganz unten lagen.

Kapitel 2: Inspiration

Die nächste Aufgabe macht Spaß, ist aber auch ganz schön aufwendig: Inspiration auf einem virtuellen Mood-Board sammeln. Ich stürze mich in die Welt der Pinterest-Boards, lese so viele Modemagazine wie seit meiner Pubertät nicht mehr und glotze wildfremden Menschen hinterher, deren Stil mir gefällt. Vorbilder finden sich überall: mein zehnjähriger britischer Neffe, der in kurzen Hosen und Regenjacke durch den Herbst radelt, Cate Blanchett in allen Lebenslagen, britische Jagdgesellschaften, der Drummer Levon Helm, die Hipster-Ikone Alexa Chung, meine Tante Hemma in ihren abgetretenen Budapestern, der Rapper A$AP Rocky und die arabische Unisex-Stilikone Esther Quek.

Übersetzt in Outfits bedeutet das: Cord, fließende Stoffhosen mit dünnen Pullovern, flache Lederschuhe, dünne Gürtel, Tweed, Hemden, Mäntel. Und während ich in Gedanken schon durch Downton Abbey wandle, holt mich Anuschka Rees in ihrem Realismus auf den Boden der Tatsachen zurück. Inspiration ist wichtig, klar, mindestens ebenso wichtig ist aber eine Garderobe, die den tatsächlichen Bedürfnissen ihres Trägers angepasst ist. Damit man einen realistischen Blick auf die eigenen Bedürfnisse entwickelt, empfiehlt Rees, ein Torten-Diagramm anzufertigen, das zeigt, womit man sein Leben so verbringt.

Gegen mein Traumleben (Oscar-Verleihung, Cocktail-Partys, Wochenenden auf dem Landgut etc.) ist das echte Leben (Vormittage im Büro, Nachmittage auf dem Spielplatz, Abende mit Freunden, ab und zu eine Bergtour) extrem unspektakulär. Nach diesem Check gehe ich an mein Mood-Board und muss einige Veränderungen vornehmen: Weniger Landadel, mehr Kombinierbares, weniger Abendkleider, mehr Spielplatztaugliches.

Eine der wichtigsten Lektionen in Anuschka Rees' Buch ist die Erkenntnis, dass wir von Modeketten zum Konsum manipuliert werden. Sie zeigt in ihrem Buch viele dieser Tricks auf und versucht, ihren Lesern ein Arsenal an Abwehrmechanismen mitzugeben. Die meisten Menschen begehen nach Rees' Erfahrung den Grundfehler, sich beim Kauf von Kleidung von Faktoren verleiten zu lassen, die nicht ausschlaggebend sein sollten - etwa vom niedrigen Preis. Wer es schafft, diese externen Faktoren zu erkennen und auszuschalten, der wird nur das kaufen, was er wirklich braucht und möchte.

Klingt banal, ist aber die Ausnahme: Laut einer Greenpeace-Studie kauft jeder Deutsche pro Jahr 60 Kleidungsstücke, dabei tragen wir nahezu 40 Prozent unserer Klamotten nie oder nur selten. Das können wir uns in Zeiten von Fast Fashion zwar leisten, denn nie war Mode so billig wie heute. Aber die Auswirkungen der Modeindustrie auf die Umwelt sind massiv, sie gilt nach der Ölindustrie als zweitgrößter Umweltverschmutzer der Welt. Insofern ist Anuschka Rees' Ansatz nachhaltig, auch wenn sie das in ihrem Buch so explizit nie definiert: "Viele Leute denken, dass Nachhaltigkeit in der Mode bedeutet, nachhaltige Labels zu kaufen. Das ist eine Möglichkeit, aber häufig so teuer, dass es sich vor allem junge Leute nicht leisten können. Aber wer weniger Teile kauft, die hochwertig sind und lange halten, der leistet auch einen großen Beitrag zur Nachhaltigkeit."

Rees will Frauen auch dazu bringen, über bestimmte Annahmen nachzudenken, die sie fraglos akzeptieren: "Wir Frauen werden zu der Idee erzogen, dass das Unwohlsein, das wir in High Heels oder engen Hosen empfinden, der Preis ist, den wir zahlen müssen, um stylish und schick auszusehen." Sie will erreichen, dass wir mehr auf unsere Bedürfnisse hören und die anderen Stimmen ausblenden. Wobei deutsche Frauen da nach ihrer Beobachtung weiter sind als Frauen im englischsprachigen Raum: "Bei Engländerinnen und Amerikanerinnen besteht ein viel größerer Zwang, schick angezogen zu sein und sich an einen Dress-Code zu halten. In Deutschland dagegen ist es kein besonders gewagtes Statement, wenn eine Frau auf High Heels verzichtet."

Diese entspannte Perspektive auf Mode und Stil ist es, die "Das Kleiderschrank-Projekt" zu einem internationalen Erfolg gemacht hat. Das Buch, das aus ihrem Blog "Into Mind" entstand und zuerst in den USA verlegt wurde, ist mittlerweile in fünf Sprachen übersetzt. Rees selbst hat unzählige und oft sehr emotionale Reaktionen von Lesern erhalten. Kein Wunder, hat Mode und Kleidung doch sehr viel mit Selbstbewusstsein und dem Körperbild zu tun.

Kapitel 3: Experimentieren

Die nächste Aufgabe bereitet mir Bauchschmerzen: Ich soll in einem Kaufhaus Kleidungsstücke anprobieren, die meinem Mood-Board entsprechen, allerdings darf ich nichts kaufen. Im Kaufhaus fühle ich mich wie ein Ladendieb und schleiche durch Abteilungen, die ich bisher ignoriert habe. In der Umkleide probiere ich ein Outfit nach dem anderen an, mache Fotos und erkenne: Auch wenn ich die Beschäftigung mit Kleidung gerne als oberflächlich abtun würde, es bleibt eine Tatsache, dass man mit seinem Äußeren eine Botschaft aussendet, aus der eine Art Kommunikation mit Menschen werden kann.

Ich weiß inzwischen, dass die Botschaft "Ich bin ein sportlicher, etwas schlampiger Mensch, bitte gehen Sie weiter" schon lange nicht mehr die ist, die ich gerne aussenden würde. Zu Hause gehe ich die Bilder durch und notiere, wie ich mich in den einzelnen Looks gefühlt habe. Manche funktionieren (Lateinlehrer-Look mit Stoffhose und Pullunder), in anderen fühlte ich mich verkleidet (florale Blusen, Kleider).

All diese Übungen münden in einen sehr spezifischen Einkaufszettel, der eher ein langfristiges Projekt ist: Ich weiß inzwischen sehr genau, welche Kleidungsstücke in meinem Schrank noch fehlen, und so steht auf dem Zettel nicht mehr einfach "eine Hose", sondern "eine Hose, Breitcord, schwarz, seitlicher Eingriff, schmale Hüfte, weites Bein". Es ist kein bisschen schlimm, wenn es ein paar Monate dauern wird, bis ich diese Hose gefunden habe.

Kapitel 4: Abschluss

Seit ich mein Kleiderschrank-Projekt gestartet habe, sind drei Monate vergangen. Ich habe gelernt, dass es nicht oberflächlich ist, sich mit Kleidung auseinander zu setzen, sondern geradezu ein Akt der Höflichkeit meinen Mitmenschen gegenüber. Ich habe auch gelernt, dass Stil und Mode nicht identisch sind. Ich habe ungefähr 60 Kleidungsstücke aussortiert und eine Hose gekauft. Für diese Hose habe ich einen Preis gezahlt, für den man in manchen Läden auch ein ganzes Outfit bekommen könnte. Aber die Hose passt mir, sie sieht so aus, wie ich es möchte, ich trage sie häufig und gerne. Da ich auch gelernt habe, wie man Qualität bei Kleidung erkennt, achte ich im Laden sehr genau auf Verarbeitung und Passform - und habe festgestellt, dass ich nach dieser Überprüfung nahezu die Hälfte der Teile noch im Geschäft aussortiere.

Mir ist aufgefallen, dass ich einerseits deutlich weniger über Kleidung nachdenke, weil ich morgens fast immer sofort weiß, was ich tragen will. Andererseits beschäftige ich mich mehr mit Mode: Mir fällt der Stil von Menschen auf der Straße auf, und wenn er mir gefällt, mache ich mentale Notizen. Ich habe, kurz gesagt, auf einmal ziemlich viel Spaß an Kleidung. Und obwohl ich nicht mehr jeden Tag in Jeans und T-Shirt herumlaufe, fühle ich mich in meinen Kleidern ungeheuer wohl. Ich habe endlich das Gefühl, dass mein Äußeres zumindest annähernd meinem Wesen entspricht.

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Quelle:
SZ vom 02.02.2019
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