Süddeutsche Zeitung

Mode:Strumpf ist Trumpf

In einem Dorf in Südfrankreich werden Damenstrümpfe noch manuell hergestellt. Zu Besuch bei Handwerkern, die sich gegen das Aussterben stemmen.

Von Anne Backhaus, Sumène

Kaum öffnet sich die Tür, strömen ohrenbetäubender Lärm, Hitze und ein intensiver metallischer Geruch nach draußen. "Zumachen, schnell!", ruft es von drinnen. Eine Schaufensterpuppe empfängt am Eingang, sie trägt nichts außer Strapsen und feinen Nylonstrümpfen. Direkt hinter ihr füllt eine stählerne Maschine die komplette Länge des schmalen Fabrikraums. Sie schnauft wie ein wildes Tier und wird gerade per Hand gefüttert.

Eduardo Majchrowski, 65, ist mitten in der Weihnachtsproduktion. Er spannt weiße und schwarze Nylonfäden in das Ungetüm, flucht dabei. Dann schüttelt er den Kopf und sagt: "Ich mache die feinsten Strümpfe für Frauen. Und dafür muss ich jeden Tag eine Frau bezwingen." Damit meint er die schnaubende Webmaschine. "Sie ist zickig, mag vor allem keine Kälte", sagt Majchrowski und schlägt seine Hand ein paar Mal liebevoll auf ihre Seite.

Das Herzstück der Produktion

Das antike amerikanische Stahlweib, eine sogenannte Reading, wurde direkt nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut und ist 17 Meter lang und 16 Tonnen schwer. Die Maschine ist das Herzstück des Damenstrumpfherstellers Cervin L'Arsoie. Wenn sie gut läuft, spuckt sie einmal pro Stunde dreißig halbe Nylonstrümpfe aus, die später per Hand zusammengenäht werden. Insgesamt schafft sie 150 Strumpfpaare pro Tag.

Oft läuft sie aber nicht gut, das erkennt Majchrowski an ihrem Klang oder an den Ziehfäden, die ihn besonders ärgern. Viele Male am Tag stoppt er deshalb die gewaltige Maschine, tauscht zersplitterte Nadeln aus und justiert Metallteile. Weltweit gibt es nur sechs solcher Textilmaschinen, zwei etwas kleinere von ihnen stehen gleich im Nebenraum, und kaum jemanden, der sie bedienen oder reparieren kann. "Man muss ein Gefühl für sie bekommen", sagt Majchrowski, der seit knapp zwei Jahrzehnten an der Reading arbeitet. "Ich habe so viele Jahre mit ihr verbracht und weiß noch immer nicht alles."

Nischenprodukt ohne Konkurrenz

Die Couture-Strümpfe, die Majchrowski heute produziert, verkauft Cervin unter dem Namen "Fully Fashioned". Sie sind 20 Denier stark, besonders fein und transparent, und werden mit einem Strapsgürtel getragen. Angelehnt an die Strumpfmode der 40er- und 50er-Jahre, mit einer rückwärtigen Naht, die in einer V-förmigen und als französisch bezeichneten Hacke endet, ist das Modell einer der Verkaufsschlager und zugleich Emblem des Produkts "Cervin Paris". Ein Nischenprodukt, das konkurrenzlos ist. Nirgendwo sonst werden wie hier noch derartige Seiden- und Nylonstrümpfe in Handarbeit hergestellt.

Trend zur Weiblichkeit ist gut für's Geschäft

"Frauen wollen sich wieder mehr wie Frauen kleiden", sagt Serge Massal, 60, der das Familienunternehmen in dritter Generation leitet. So erklärt er sich einen Teil seines Erfolgs. Früh beschloss er, traditionsbewusst zu produzieren und gegen jeden Trend an den klassischen Strumpfmodellen festzuhalten. Das war 1988. Da hatte er die Firma von seinem Vater André übernommen, die zwar im Produktnamen mit Paris wirbt, sich in Wahrheit jedoch in Sumène im Süden des Landes verbirgt.

Zwischen bewaldeten Hügeln und kurvigen Straßen, gleich neben dem kleinen Strom Le Rieutord, schmiegen sich unauffällig zwei Fabrikgebäude in die verwinkelten Gassen. In dem einen rattern bis zu zwanzig Stunden am Tag die alten Maschinen, in dem anderen arbeiten 55 Näherinnen, Qualitätsprüfer und Färber. Jeder Artikel von Cervin wird hier manuell produziert, verpackt und dann verschickt.

Edel, aber erschwinglich

Unterwäscheketten wie Victoria's Secret und Agent Provocateur hatten sie im Sortiment. Models trugen sie auf den Schauen von Dior und Jean Paul Gaultier. Dita von Teese, die weltberühmte Burlesque-Tänzerin, bestellt die einzigartigen Nylons - genau wie Hunderttausende Kundinnen weltweit. Denn das Luxusprodukt ist zwar edel, aber zugleich durchaus erschwinglich: In Europa ist das günstigste Modell für knapp 30 Euro zu haben, das teuerste Paar aus Seide kostet 100 Euro.

Massal, der Chef, durchquert mit großen Schritten das Lager, in dem sich auf Regalen zu allen Seiten aufreizende Strapsstrümpfe, Halterlose und Strumpfhosen stapeln. Es gibt 65 verschiedene Modelle in zehn verschiedenen Farben. Täglich gehen bis zu 250 Päckchen raus, 70 Prozent davon sind besonders feine Nylons. Cervin wird rund um die Welt geordert, die meisten bestellen aber aus Deutschland, England, Italien - und Frankreich selbst.

"Wir kontrollieren jedes einzelne Paar"

Vor einer Mitarbeiterin, die hauchdünne Seidenstrümpfe auf einem von unten beleuchteten Tisch ausbreitet, bleibt Massal stehen. "Wir kontrollieren jedes einzelne Paar", sagt er und beugt sich wie zum Beweis hinunter und kneift die Augen zusammen. Dann richtet er sich auf, zeigt die alten Singer-Nähmaschinen, das Seidenlager, die Kreativwerkstatt und Dutzende Beinmodelle aus Aluminium, streng nach europäischen und asiatischen Maßen getrennt.

Massal äußert dabei kaum einen Satz, in dem er nicht selbst die Qualität seines Produktes lobt. "Seit 1920 kleidet Cervin die Beine aller Kundinnen reich an handwerklichem Fachwissen", sagt er. Oder auch: "Wir nutzen nur die edelsten Materialien wie reine Seide, Kristall-Nylon und Kaschmir." Keiner kenne Frauenbeine so wie er. Er hat vielleicht recht - aber vor allem spricht aus seinen Sätzen die Sorge um die Zukunft.

"Früher oder später verlangen Menschen wieder Qualität"

Das Geschäft läuft derzeit zwar gut, vor allem in der Vorweihnachtszeit, doch Krisen sind nichts Neues in der Strumpfbranche. In den 50er-Jahren tauschte man die Produktionsanlagen der Nahtstrümpfe komplett aus, weil plötzlich nahtlose Strümpfe aus neuartigen Rundstrickmaschinen angesagt waren. Der Minirock sorgte dann in den 60ern dafür, dass die Strumpfhose die Strümpfe mit Strapshalter ablöste. Und schließlich drängte die Jeans auf den Markt und machte beides überflüssig.

Als vor ein paar Jahren Leggins ausgehtauglich wurden, zitterte die Branche erneut. Der stete Niedergang der Strumpfwaren sorgte über die Jahrzehnte für die Schließung vieler Fabriken und den Verlust etlicher Arbeitsplätze. In Deutschland waren im Jahr 1970 laut Gesamtverband der Deutschen Maschen-Industrie in 95 Strumpffabriken insgesamt 37 700 Menschen beschäftigt. 2014 gab es noch 13 Betriebe mit 4215 Mitarbeitern.

4000 Nylonstrümpfe

verkaufte der amerikanische Chemie-Konzern DuPont im Jahr 1939 in wenigen Stunden - den gesamten ersten Ausstoß einer Versuchsanlage. Kurz darauf bot die Firma am sogenannten Nylon Day ihre Strümpfe landesweit an. Vier Millionen waren innerhalb von zwei Tagen ausverkauft. Die reißfeste Kunstseide fand dann zunächst als militärisches Material im Zweiten Weltkrieg Verwendung. Danach kamen die Nylons zurück in die Geschäfte und bestimmten in Europa und den USA den Markt, bis im Jahr 1955 nahtlose Strümpfe entwickelt wurden.

Cervin kämpft ebenfalls immer wieder mit Umsatzeinbrüchen. Anders als viele Mitbewerber lehnt Serge Massal jedoch die Massenproduktion im billigen Ausland grundsätzlich ab. "Ich dachte mir, früher oder später würden die Menschen wieder nach Qualität verlangen", sagt er. "Handgefertigte Ware aus Frankreich steht für pure Qualität. Trotzdem musste ich bangen, ob wir es schaffen würden, diese Qualität zu halten."

100 Arbeitsschritte für einen halben Strumpf

Zugute kamen ihm Retrotrends und Internethandel: Massal hat komplett auf den Verkauf im Netz umgestellt. Sein neuester Coup sind Pflanzenfarben. Mit gleichzeitig sexy und ökologisch korrekten Strümpfen will er im kommenden Jahr noch ein paar Kundinnen dazu gewinnen. "Ich muss aber lernen loszulassen", sagt Massal am Ende des Rundgangs. Er blickt etwas wehmütig durch die Produktionshalle. "Es ist ein kompliziertes Geschäft", sagt er dann. "Ich habe keine Kinder, die es von mir übernehmen könnten."

Generell ist es schwierig, Angestellte in den kleinen Ort in Südfrankreich zu locken. Vor allem an Fachpersonal mangelt es. Eduardo Majchrowski bringt seit einigen Wochen der Auszubildenden Isabelle Voluher, 33, das Handwerk bei, die alten Maschinen zu bedienen. Die beiden laufen täglich viele Kilometer auf und ab, immer an der ohrenbetäubenden Reading entlang. Immer mit dem Blick auf die tausenden feinen Nadeln und das sensible Nylongewebe gerichtet. "Ich weiß aber nicht, ob ich das wirklich mein Leben lang machen möchte", sagt die Auszubildende, die Hände und Unterarme voller Schmieröl. Auf einem kleinen Abstelltisch liegt ihr Notizbuch. Darin hat sie in krummer Handschrift 100 Arbeitsschritte aufgeschrieben. So viele braucht es, um einen halben Strumpf zu produzieren.

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SZ vom 02.01.2016/kat
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