Mode:Die Vordenkerin

Mode: Nie ohne Cateye-Brille: die Kuratorin Valerie Steele in ihrem Büro.

Nie ohne Cateye-Brille: die Kuratorin Valerie Steele in ihrem Büro.

(Foto: ©2019 The Museum at FIT)

Mit ihren spektakulären Modeausstellungen analysiert Valerie Steele brillant Kleidung und Zeitgeist. In New York tritt die Kuratorin gegen das berühmte Metropolitan Museum of Art an. Was treibt sie an? Ein Besuch.

Von Trisha Balster

Das größte Problem war der Nachbau des Schuhladens. Das Herzstück der neuen Ausstellung, mit riesigen Glasfronten und aufwendigen Regalen für die ausgefallensten Schuhe, bis zur Eröffnung Anfang September musste alles stehen. Für Valerie Steele bedeutete das: In Rekordzeit den Raum fertigstellen, Paare aussortieren, Texte schreiben. Die Erwartungen könnten kaum höher sein an die aktuelle Schau im Modemuseum des New Yorker "Fashion Institute of Technology". Seit mehr als 20 Jahren klügelt die Kuratorin dort bahnbrechende Ausstellungen aus, etwa "A Queer History of Fashion" oder "Pink: The History of a Punk, Pretty, Powerful Color". Die 66-Jährige geht Kleidung meisterhaft auf den Grund. Wie keine Zweite hinterfragt sie die Verbindung von Körper, Mode und Sexualität, schon ihre Doktorarbeit in Yale trug den Titel "The Erotic Aspects of Victorian Fashion". Heute konsultiert die Financial Times Steele zu aktuellen Trends, die Modejournalistin Suzy Menkes bezeichnete sie mal ehrfürchtig als "Freud der Mode".

Besuch an einem Sommertag in Valerie Steeles Büro im New Yorker Stadtteil Chelsea. Der Raum ist so vollgestopft wie ihre To-do-Liste. Auf dem Konferenztisch türmen sich Bücher über Kleidergeschichte, auf dem Teppichboden liegen Bildbände, ins Holzregal hat sie Ausstellungskataloge gequetscht. Dazwischen sitzt die Historikerin in einem ärmellosen schwarzen Kleid, Trekkingsandalen und einer Cateye-Brille mit Leopardenmuster. Durchs Fenster dröhnt das Verkehrschaos der 7th Avenue, die Jalousien sind runtergelassen.

Steele kommt gleich zur Sache: die neue Ausstellung. Schon der Titel "Shoes: Anatomy, Identity, Magic" soll deutlich machen, dass es um mehr geht als hohe Absätze oder klobige Sneakers. "Das Problem mit Schuhausstellungen ist: Es gab schon so viele!", sagt Steele. In den Fokus rückten die aber meist große Designer wie Manolo Blahnik oder Christian Louboutin, denn die Formel für Modeausstellungen laute noch immer viel zu oft: Hauptsache bekannte Namen. "Museumsdirektoren sehen Modeausstellungen oft als Goldesel an", sagt Steele. "So wie Ausstellungen über Impressionisten. Die müssen auch nichts Neues aussagen, um Geld einzubringen. Was nicht dazu beiträgt, dass Mode ernster genommen wird."

Die Konkurrenz im Met-Museum hat Anna Wintour. Steele hat Ideen

Der reinen Oberflächlichkeit hübscher Stilettos oder langer Lederstiefel setzt sie als Thema entgegen: Wie Schuhe Identität stiften. "Ich habe Studien gefunden, die zeigen, dass viele Amerikaner tatsächlich daran glauben, dass das richtige Paar Schuhe ihr Leben verändern wird", sagt sie. "Dass etwa Air Jordan Sneakers sie wie Athleten abheben lassen." Mehr als 400 Paar Schuhe hat sie - aus dem zehnmal so großen Museumsbestand - ausgesucht, um ihre These auf das Schönste zu illustrieren. Denn natürlich geht es bei einer Schau zum Thema Mode auch immer um den ästhetischen Genuss.

Mode: Abendschuhe aus grüner Spitze und roter Seide von Manolo Blahnik.

Abendschuhe aus grüner Spitze und roter Seide von Manolo Blahnik.

(Foto: The museum at FIT)
Mode: Ikonisch: Air Jordans von Nike, hier ein Modell von 1985.

Ikonisch: Air Jordans von Nike, hier ein Modell von 1985.

(Foto: The Museum at FIT.)
Mode: Pumps aus Ponyfell im Giraffenmuster, entworfen von Manolo Blahnik.

Pumps aus Ponyfell im Giraffenmuster, entworfen von Manolo Blahnik.

(Foto: ©2019 The Museum at FIT)
Mode: Klassiker: Schnürboots von Dr. Martens aus Leder mit Gummisohle.

Klassiker: Schnürboots von Dr. Martens aus Leder mit Gummisohle.

(Foto: ©2019 The Museum at FIT)

Steele muss liefern, denn auch die Konkurrenz macht keine Pause. Viereinhalb Kilometer entfernt thront das Metropolitan Museum of Art, 200 000 Quadratmeter Fläche, optimal gelegen an der 5th Avenue. Der Platzhirsch, auch wenn es um Modeausstellungen geht.

Als Beweis genügt schon ein Blick auf die Met-Gala. Die jährliche Eröffnungsparty für die große Jahresausstellung strotzt vor Pomp und hochkarätigen Gästen. Das bringt dem hauseigenen "Costume Institute" massig Spenden und Aufmerksamkeit. Zwar sind die Schauen dabei fast ein Nebenspektakel, die Stellung des Met bleibt trotzdem unangefochten. "Die haben ein riesiges Budget und beste Kontakte zu Anna Wintour", sagt Steele. Allein der enge Draht zur mächtigsten Frau der Vogue ist Gold wert. "Selbst zu einer Schau über T-Shirts kämen eine halbe Million Menschen."

Queere Mode, die Gothic-Szene: Ihre Schauen sind nah am Zeitgeist

Das Met liefert also Blockbuster-Events, Steeles Schauen entsprechen eher Arthouse-Produktionen. Zwar gehört das Museum zum Fashion Institute of Technology, eine der renommiertesten Mode-Unis der Welt. Trotzdem kann Steele als Direktorin weder in puncto Budget noch bei der Bekanntheit mithalten. Um die 100 000 Besucher kommen jährlich, der Eintritt ist kostenlos, man ist auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Jemand aus dem Freundeskreis des Met habe kürzlich ein Paar klobige High Heels von Alexander McQueen für das Kostüminstitut gekauft, erzählt sie. Der Preis: 60 000 Dollar. "Ich dachte nur: Okay, das könnten wir uns niemals leisten."

Aber Steele hat einen Trumpf: ihre Originalität. Das Met zeigte bis vor Kurzem eine Ausstellung über Mode während des "Gilded Age" Ende des 19. Jahrhunderts, voller ausladender Roben und eingestaubter Räumlichkeiten. Demonstriert wird vor allem der Reichtum der damaligen High Society. Steeles Schauen dagegen knüpfen an den Zeitgeist an. Sie könnten auch als Kurse im Lehrplan der Universität stehen: Queere Strömungen in der Mode, Einfluss der Gothic-Szene auf Designer, eine Analyse der Farbe Pink. Steele denkt und arbeitet sprunghaft, im Wortsinn. Erst sinniert sie über ein schwarzes Kleid mit Steppaufnähern in Form von Rippenknochen, das Elsa Schiaparelli gemeinsam mit Salvador Dalí entworfen hat, dann schnellt sie hoch und zerrt ein Lexikon aus dem Regal. Bei den Ausstellungen sei es ähnlich. Ein Einfall stößt den nächsten an, sie hechtet gedanklich zwischen Projekten hin und her.

Ihr Antrieb? Ist die tiefe Überzeugung von der kulturellen Bedeutung von Mode. Das mag pathetisch klingen, aber Steele meint es ernst. Wenn sie über Entwürfe spricht, reißt sie die Augen auf wie ein Kind, das ein Geschenk auswickelt. Noch immer ärgere es sie, dass sie nach ihrem Doktorabschluss in Yale niemand für voll nahm - weil sie Kleidung erforschte. "Es war einfach absurd! Modestudien galten damals als nutzlos, als oberflächliches Feld", sagt sie. Zehn Jahre lang schlug sie sich als Lehrbeauftragte an Universitäten durch, bevor sie zum Fashion Institute of Technology ging. Dort legte sie im Turbomodus los, eröffnete eine Schau pro Jahr, wurde Chefkuratorin und Direktorin.

Hispanische oder afroamerikanische Designer sind kaum vertreten. Das soll sich jetzt ändern

Tiefgang und Tatendrang allein führen allerdings noch nicht zu langen Besucherschlangen um den Block. Steele hat früh damit begonnen, ihre Schauen zusätzlich mithilfe von Social Media nach vorne zu katapultieren. Ihr wichtigste Marketingtool sind die Settings, sie könnten kaum spektakulärer sein.

Sie ließ Schlossruinen nachbauen für den Gruselfaktor und platzierte darin Entwürfe von Alexander McQueen und John Galliano. Sie setzte Puppen in Särge, gekleidet wie Vampire, und präsentierte daneben ein Draculakostüm. Gehen ihre Botschaften bei all der Ablenkung nicht unter? Steele schüttelt den Kopf. "Das Geheimnis ist natürlich, die Message visuell rüberzubringen." Deshalb der nachgebaute Schuhladen und die leuchtenden Boxen, in denen Entwürfe stehen wie im Schaufenster. Die Besucher sollen sich fühlen wie beim Shoppen, sie sollen posen und posten. Und wenn es nach Steele geht, grübeln sie nebenbei darüber nach, warum sie welches Paar knipsen - beschäftigen sich also mit der Frage ihrer Identität. Wer wissen will, wie Modeausstellungen Materie und Massen-Appeal verbinden können, muss also nur auf Steeles Schauen blicken.

Sie ist gedanklich natürlich schon bei der nächsten und deutet auf ein Foto an der Pinnwand: ein Entwurf der Designerin Mme. Willi Posey, einst begnadete Modedesignerin in Harlem, Mutter der afroamerikanischen Künstlerin Faith Ringgold. Ein Sammler bot ihr kürzlich das Kleid an, Steele schnappte zu. Im Archiv lagern 50 000 Kleidungsstücke und Accessoires, dazu 30 000 verschiedene Stoffe, Stickereien und Tücher, aber bisher nur wenig von afroamerikanischen, hispanischen oder asiatisch-amerikanischen Designern. "Wir müssen das dringend ausgleichen", sagt sie. "Es ist eine Jagd. Aufregend, aber auch sehr frustrierend." Was man sicherlich nicht auf Steeles To-do-Liste findet: aufgeben.

Und der Schuhladen? Für den hat sie Nachtschichten geschoben. Kürzlich habe an einem Samstagabend um zehn ihr Mann angerufen, erzählt sie. Er saß im Loft in Chelsea mit den zwei Katzen, sie im Büro am Schreibtisch. Ob alles in Ordnung sei, habe er gefragt. Steele lacht und sagt: "Ich meinte nur, jaja, ich komme gleich nach Hause." Es dauerte dann noch ein bisschen.

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