Süddeutsche Zeitung

Fashion Week:Yes, Milano

Bei der Mailänder Modewoche zeigt nur jedes dritte Label eine Laufstegschau vor Publikum. Man sieht Lochkäse-Mohair bei Prada, Bandeau-Tops bei Boss, Blumenkleider bei Valentino. Der eigentliche Trend aber lautet: Humanismus.

Von Silke Wichert, Mailand

Der Moment in klassischen Katastrophenfilmen, wenn sich nach dem großen Knall die ersten Überlebenden wieder aus der Deckung wagen, um vorsichtig zu schauen, wer und was von ihrer Welt noch übrig ist - so ungefähr fühlt sich der Anfang dieser Mailänder Modewoche an. Die Stadt steht bekanntlich noch, wie aber sieht die Modewelt nach Corona aus? Chinesen und Amerikaner reisen nicht an, Influencer und Topmodels werden nicht kommen, wer also wird überhaupt noch da sein? Auch der Kalender zeigt sich im Vorfeld stark gelichtet. Viele kleine Labels, aber vor allem Schwergewichte wie Gucci, Jil Sander, Bottega Veneta fehlen ganz. Versace, Tod's und Prada haben kurzfristig entschieden, ihre Kollektionen aus Sicherheitsgründen ohne Publikum zu zeigen. Armani, extra analog, überträgt seine Giorgio-Präsentation zur besten Sendezeit im italienischen Fernsehen.

Am Ende sind es lediglich 21 physische Schauen statt der sonst mehr als 60. Oder soll man sagen, "immerhin"?

Schließlich sind es in New York und London zuvor noch deutlich weniger gewesen. Für Paris sagen wegen rasant steigender Infektionszahlen täglich mehr internationale Besucher ab. Allein schon deshalb hatte die Camera della Moda diese Modewoche unbedingt durchziehen wollen. "YesMilano" stand auf den überall in der Stadt plakatierten Postern. Ihre Stadt, während der letzten Schauen als erste und dann so heftig vom Virus getroffen: Sie würde wenigstens auch als erste wiederauferstehen.

Statt den üblichen 500 Gästen sitzen auf den Polstergarnituren von Fendi diesmal nur 50

Wenn auch arg dezimiert, wie sich gleich am ersten Tag bei Fendi zeigt: Statt der üblichen, dicht gedrängten 500 Gäste sitzen versprengt über die sich dahinschlängelnden Polstergarnituren lediglich 50 Auserwählte, um sich die überwiegend in klinischem Weiß gehaltene Kollektion für nächsten Sommer anzuschauen. Was früher der Alptraum jedes Labels war - leere Sitze, die ja gnadenlos offenbarten, dass man nicht mehr en vogue war - ist jetzt der Traum jedes Corona-Beauftragten. Die leisten hier ohnehin ganze Arbeit. Models und Mitarbeiter müssen laufend getestet werden, ohne unterschriebene Selbstauskunft und Temperaturcheck hätte nicht einmal Anna Wintour irgendwo Zutritt bekommen. Wenn sie denn da gewesen wäre.

Aber wovon man sich ja vor allem ein Bild machen wollte: Welche Antwort gibt die Mode auf unsere veränderte Lebenswelt, glamouröser Eskapismus oder doch Sweatpants für immer? Erst mal weder noch. Für radikale Experimente hatten die Designer entweder keine Zeit oder keine Lust, wie ihre Kunden wahrscheinlich auch nicht. Laut der Unternehmensberatung McKinsey versuchen viele Leute, ihr Geld jetzt bewusster auszugeben. Deshalb ist der Umbrier Brunello Cucinelli bereits entspannt optimistisch. Er wandelt durch den verwaisten Innenhof seines Showrooms, normalerweise ist hier die Hölle los, weil es haufenweise Antipasti gibt. Diesmal: in Plastik portionierte Kekse. Vor allem der deutsche Markt laufe vergleichsweise gut, sagt Cucinelli. Mehr denn je wollten die Leute jetzt wissen, wie und wo etwas gemacht sei. Auch bei Etro sind es die Deutschen, die schon wieder vorbildlich konsumieren, bei Dolce & Gabbana läuft es angeblich ohnehin blendend. Auch diesmal transportieren die 98 Looks mit Patchwork deshalb stur südliches Flair. Aber in diesen Zeiten ist man für alles dankbar, was wenigstens noch ein bisschen ist wie vorher.

Und dafür würde ja aus einer anderen Ecke sicher etwas radikal anderes kommen. Die Umstände für die erste Kollektion von Miuccia Prada mit Raf Simons hätten besser sein können, Simons konnte erst später als geplant nach Mailand ziehen, aber herausgekommen ist trotzdem ein interessanter stofflicher "Dialog", wie sie es nennen. Etwa ein neues Twinset aus Viskose-Rolli drunter und Lochkäse-Mohair darüber, Röcke mit Rucksackelementen und vor allem eine Geste: Mäntel und Sheets aus Satin und Nylon werden vor der Brust mit einer Hand zusammengehalten. Was früher schlicht damenhaft gewesen wäre, ist jetzt ein Symbol für Zeiten, in denen wir uns schützend einwickeln oder krampfhaft an etwas klammern wollen.

Vielsagender Blick in die Tasse: Miuccia Prada und Raf Simons plaudern über ihre Trinkgewohnheiten

Nach dem Livestream sitzen die beiden Designer mit sicherem Abstand auf zwei Bänken. "Welcome to the top", hört man Simons mit neuer Popperfrisur sagen und denkt: Bescheidenheit war auch gestern. Wobei er ja recht hätte. Womöglich wird die hoffentlich kongeniale Doppelspitze die nächste Blaupause der Branche. Gesagt hat er mit flämischem Akzent natürlich in Wirklichkeit "talk". Denn in der neuen, digitalen Realität erklärt man sich nicht mehr backstage vor ein paar Eingeweihten, sondern vor aller Welt. Man erfährt beispielsweise, dass Raf morgens Kaffee und danach viel Coke Zero trinkt, während Miuccia nur warmes Wasser zu sich nimmt. Wahrscheinlich erzählt das mehr über die Betriebstemperatur der beiden Akteure als jedes Thermometer. Die Hobby-Archäologen unter den Modeleuten deuten derweil, wer bei welchem Look mehr seine Finger im Spiel hatte.

Aber wird sich dieser Dialog auch verkaufen? Der Belgier war mit seinen Kollektionen für Dior und Calvin Klein zuletzt nicht unbedingt als Kassengarant bekannt, dabei wären ein paar Blockbuster-Teile überall dringend nötig. In den Luxusläden auf der Via Monte Napoleone sagen die Verkäufer frei heraus, dass immer noch absolut tote Hose herrscht.

Immerhin das Wetter sorgt zwischenzeitlich für Aufschwung. Nach Regen und Temperatursturz werden überall panisch Pullover gekauft. Früher trug man die "Fashion Flu" geradezu stolz vor sich her, weil eine dicke Erkältung ja auch bedeutete, dass man schon besonders viele Shows, Termine und Parties auf der Uhr hatte. Aber jetzt eine Erkältung? Mit Fieber? Blanke Panik unter der FFP2-Maske. Man käme nirgendwo mehr rein! Ungefähr zu diesem Zeitpunkt ist von einem ersten Corona-Fall unter den Models die Rede, obwohl die strengen Abstandsregeln penibel eingehalten worden seien.

"Die Vorbereitungen unter all diesen Auflagen waren wirklich kein Spaß", sagt der Designer Ingo Wilts. Er wollte mit Boss eigentlich eine große Sause zum 20-jährigen Jubiläum der Damenlinie feiern. Immerhin haben sie es überhaupt geschafft zu zeigen, im Palazzo Senato, also genau an jenem Ort, wo damals die erste Kollektion präsentiert wurde. Das eisige Mint von damals ist zurück, ansonsten würde die frühere Boss-Frau ihren Augen nicht trauen: Kaum Anzüge, und wenn doch, dann stecken fließende Kleider darunter, ein Bandeau Top, bequeme Sandalen. Im Oktober kommt eine Kooperation mit der Influencerin Caro Daur in die Läden. Auch das neue Normalität.

Paul Andrew von Salvatore Ferragamo hat im Lockdown sämtliche Hitchcock-Filme geguckt. Im Innenhof eines alten Konvents ertönt also lautes Vogelgeschrei, vorab wird ein Film von Star-Regisseur Luca Guadagnino gezeigt, mit viel Suspense, dramatischer Musik, aber leider platt werblicher Auflösung. Hätte es alles nicht gebraucht, denn die Kleider in "Technicolor", die dann auf dem Laufsteg folgen, sind toll genug.

Was insgesamt häufig zu sehen ist: 90er-Jahre-Einflüsse, Funktionalität, flache "Komma-Absätze", wie sie bei Prada heißen, Perlenschmuck - und zwar für beide Geschlechter. Aber der eigentliche Trend aus Mailand heißt: Humanismus. Jedenfalls ist ständig davon die Rede. Versace setzt statt Publikum das Team in die erste Reihe, selbst Model-Frischlinge werden nicht mehr nur als anonyme Kleiderständer, sondern mit Namen präsentiert. Fendi, Etro und Versace setzen ohnehin mehr denn je auf individuelle Persönlichkeit in allen Erscheinungen. Vielleicht ist das durchgenudelte Wort "Diversity" bald wirklich nicht mehr der Rede wert.

Weil jetzt alles menschlicher werden soll, trällert bei Valentino der Sänger Labrinth. Live, mit Klavierbegleitung

Das große emotionale Finale folgt am Sonntag bei Valentino. Doch, doch, die zeigen eigentlich in Paris, aber wer will schon mit dem ganzen Team anschließend in Quarantäne? Außerdem will man wohl auch - neues Miteinander - die italienische Heimat unterstützen. Pierpaolo Piccioli wählt als Ort eine alte Gießerei, rau, schwarz, mit Pflanzengestecken dekoriert. Und weil jetzt alles menschlicher sein soll, kommt die Musik nicht aus der Konserve, sondern live vom britischen Sänger Labrinth mit Klavierbegleitung. Die Models oder vielmehr Nichtmodels laufen in modernisierten Hauscodes durch die Halle: die typischen Chiffonblusen, aber zu Levi's-Jeans, extra große Nieten auf den Accessoires, lange Blumenkleider, deren Säume nonchalant durch den Staub ziehen, in dem die Gießer früher geschwitzt haben. Radikale Romantik nennt der Designer seinen Ansatz.

Am Ende sind Piccioli und Labrinth selber so ergriffen, dass sie sich aus Versehen halb umarmen. Eigentlich natürlich verboten. Aber Irren ist ja bekanntlich auch menschlich.

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